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Literatur als »Waffe im Kampf für den Sozialismus«

Funktionsweise und Aufgaben des Zensursystems
in der DDR

  • Michael Westdickenberg: Die »Diktatur des anständigen Buches«. Das Zensursystem der DDR für belletristische Prosaliteratur in den sechziger Jahren. (Schriften und Zeugnisse zur Buchgeschichte 16) Wiesbaden: Harrassowitz 2004. 338 S. Gebunden. EUR (D) 40,00.
    ISBN: 3-447-05104-3.
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Überblick

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Zur Zensur in der DDR sind seit den 1990er Jahren mehrere grundlegende, quellenorientierte Arbeiten erschienen. Dabei handelte es sich um Studien zu einzelnen Schriftstellern und Werken, Verlagen oder Institutionen der Zensur, allgemeinen Zensurmechanismen und Umgehungsstrategien. Michael Westdickenberg schließt an diese Forschung an und widmet sich der Herausbildung eines mehrschichtigen Zensursystems für Belletristik unter Walter Ulbricht. Im Fokus stehen die Institutionen der Zensur, kulturpolitische Entwicklungen als Einflussfaktoren, Zensurkriterien und die Darstellung von Einzelfällen in der Zeit von 1960 bis 1965. Die vorliegende Dissertation von Westdickenberg wurde von Hans Dieter Zimmermann und Simone Barck betreut und im Wintersemester 2001 an der TU Berlin angenommen. Die Grundlage der Arbeit bilden umfangreiche Quellenbestände im Berliner Bundesarchiv (insbesondere der Bestand Ministerium für Kultur), im Archiv des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, im Archiv des Aufbau-Verlages in der Staatsbibliothek Berlin sowie einzelne Nachlässe und Interviews mit Zeitzeugen.

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Institutionen der Zensur

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Das Kapitel A bietet eine detaillierte Darstellung aller an der literarischen Zensur beteiligten Institutionen. Dazu gehörte als erstes die Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel im Ministerium für Kultur, deren Gründung, Struktur, Aufgaben und Personal analysiert wird. Der 1963 gegründeten und bis zum Ende der DDR bestehenden Hauptverwaltung 1 waren die Verlage, Druckereien, die zentrale Verlagsauslieferung in Leipzig und der Volksbuchhandel unterstellt (vgl. S. 23), ihre Aufgabe war die lückenlose Kontrolle des gesamten Buchhandels. Sie beschäftigte die offiziellen Zensoren, deren Arbeitsweise, Selbstverständnis und Begutachtungskriterien Westdickenberg in seiner Arbeit analysiert. Unterstützt wurde die Hauptverwaltung durch einzelne Abteilungen des Zentralkomitees der SED, durch die Verlage, Außengutachter, den Schriftstellerverband und das Ministerium für Staatssicherheit. Der Abschnitt zum Ministerium für Staatssicherheit (MfS) ist einer der interessantesten des Buches, wenngleich hier viele Forschungsdesiderata deutlich werden. So müsste etwa die Funktion von Schriftstellern als inoffizielle Mitarbeiter im Zensursystem genauer untersucht und dargestellt werden. Westdickenberg bezeichnet das MfS aufgrund seiner Bedeutung für die Erteilung einer Druckgenehmigung als »zweiten Schaltkreis der Zensur« (S. 112).

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In den Beziehungen der einzelnen Institutionen zur Hauptverwaltung wird das Spannungsverhältnis, das sich aus unterschiedlichen Interessen und Abhängigkeiten ergab, deutlich. Besonders kompliziert gestaltete sich die Situation für Verlage und Lektoren, die sich einerseits um ein gutes Verhältnis zu ihren Autoren bemühten und anspruchsvolle Literatur publizieren wollten, andererseits ihre berufliche Existenz gefährdeten, wenn sie den überwiegend implizit existierenden Zensurkriterien nicht genügten. Parteiorgane und vor allem das Ministerium für Staatssicherheit waren eher inoffizieller Bestandteil des Zensursystems, konnten aber sämtliche Entscheidungen beeinflussen bis hin zum vollständigen Verbot unerwünschter Werke und Autoren.

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Generell ist in der DDR von einer Vorzensur – also vor der Drucklegung – zu sprechen. In einigen Fällen wurde aber auch Nachzensur ausgeübt und ein bereits publiziertes Werk verboten bzw. die noch im Buchhandel befindlichen Exemplare eingezogen. Beliebt waren außerdem Überarbeitungsvorgaben für den Autor, die den ursprünglichen Gehalt stark verändern konnten, und die Begrenzung auf nur eine Auflage und wenige 1000 Exemplare. Da die Strukturen der einzelnen Zensurebenen und ihre Vernetzung recht komplex sind, hätte der Autor sein Organigram (Anhang, S. 286) besser in Kapitel A integriert und zur Erklärung der Zusammenhänge genutzt. Positiv hervorzuheben sind jedoch die Schlussbetrachtung (S. 278–284) und die Fallbeispiele im letzten Kapitel, die die Orientierung des Lesers innerhalb wechselnder Zuständigkeiten, Abläufe und Zusammenhänge erleichtern.

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Kontexte der Zensur

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In Kapitel B beschäftigt sich Westdickenberg mit dem Einfluss kulturpolitischer Entwicklungen auf die Literaturzensur. Hier werden Tauwetterphase, das Internationale Schriftstellerkolloquium in Berlin 1964 und die Verschärfung der Zensur nach dem 11. Plenum 1965 behandelt. Einer sehr widersprüchlichen Kulturpolitik bis 1963, die zu allgemeiner Verunsicherung führte, folgte eine eher liberale Phase. Die Tatsache, dass Künstler und Schriftsteller die neuen Freiheiten nutzten und zu erweitern suchten, wurde jedoch schnell als Bedrohung der »führenden Rolle der Partei auf dem Gebiet der Kultur« (S. 135) empfunden. Das führte zu einer stark repressiven Kulturpolitik und Verschärfung der Zensur, die von der Parteispitze ausging.

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Der Autor verweist darauf, dass Zensur in den Staaten des so genannten Ostblocks durchaus unterschiedlich gehandhabt wurde. So durften z.B. die in der Sowjetunion publizierte »Lagerliteratur« und andere Stalin- oder staatskritische Werke in der DDR nicht erscheinen. Beim Internationalen Schriftstellerkolloquium gelang es noch nicht einmal, die sozialistischen »Freunde von der Richtigkeit der Kulturpolitik der DDR zu überzeugen« (S. 134). Die Widersprüchlichkeit der Literaturpolitik zeigt sich z.B. an der Problematik der Veröffentlichung von Texten Franz Kafkas, die Westdickenberg mehrfach diskutiert.

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Zensurkriterien

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In Kapitel C rekonstruiert Westdickenberg die Kriterien nach denen die Zensoren zu entscheiden hatten. Dabei trennt er sozialistische Gegenwartsliteratur (der DDR), moderne Gestaltungsmittel, Literatur sozialistischer Staaten und deutschsprachige Literatur aus Westeuropa, insbesondere der BRD. Die entscheidende Grundfrage zur Erteilung einer Druckgenehmigung lautete: Kann ein (belletristisches) Buch die Entwicklung des Sozialismus fördern bzw. »als eine Waffe im Kampf für den Sozialismus betrachtet werden« (S. 154)?

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Innovative oder moderne künstlerische Stilmittel wie Montage, Verfremdung, innerer Monolog, Parabeln oder Symbolismen galten bis zur Lockerung der formalen Kriterien 1965 als verdächtig (S. 176–186). Die Literatur sollte volkstümlich – also für jeden verständlich – und von realistischer Darstellungsweise sein sowie für den Sozialismus Partei nehmen (S. 159). Bestimmte Themen wie Krieg und Nachkriegszeit, insbesondere das Verhalten der sowjetischen Besatzungsmacht, dunkle Kapitel in der Geschichte der Sowjetunion oder der DDR, Justizmorde, Enteignungen usw. verboten sich von selbst (S. 157 f.). Parteifunktionäre und -mitglieder, die SED, FDJ und andere staatliche Organisationen waren grundsätzlich positiv darzustellen. Wurden kritische Seiten oder Personen thematisiert, mussten diese als Einzelfälle erscheinen und durch positive Gegenstücke ergänzt werden. Alle Darstellungen der KPD oder des antifaschistischen Widerstands z.B. in den Konzentrationslagern mussten vom Komitee der Antifaschistischen Widerstandskämpfer genehmigt werden (S. 157). Jede Wiedergabe schriftlicher Dokumente von Karl Marx und Friedrich Engels bedurfte der Zustimmung des Instituts für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (S. 235).

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Als dekadent und damit unerwünscht für den sozialistischen Leser galt auch Literatur, bei der »Stoffwechsel vor sich geht« (S. 203) – sprich Sexualität und menschliche Triebe dargestellt wurden, »denn der Leser wird auf Grund der oft sehr gut geschilderten Episoden der Handlung, insbesondere des Liebeslebens der Helden, von der politischen Aussage abgelenkt« (S. 243). Die Erreichung wünschenswerter Ziele durfte nicht vom Willen und den Fähigkeiten eines Einzelnen abhängen, sondern war der Führung durch die Partei zu verdanken. Dem Individualismus oder der Selbstverwirklichung waren damit enge Grenzen gesetzt. Besondere Konflikte brachte immer wieder die westdeutsche antibürgerliche Literatur mit sich, da man sie einerseits veröffentlichen wollte, um diese Autoren zu stärken und von der DDR als dem besseren Weg zu überzeugen. Andererseits benutzen die kritischen und linken Autoren mitunter als »dekadent« verpönte Stilmittel (S. 200) oder kritisierten nicht nur die BRD sondern auch die DDR.

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Die Absurdität der Zensur in der DDR wird u.a. dort augenfällig, wo es um Einfuhrbestimmungen für ausländische Literatur geht, denn vieles was nicht gedruckt werden durfte, konnte als Geschenk eingeführt werden. An der Grenze konfiszierte Bücher gelangten in Bibliotheken und teilweise sogar ins Antiquariat.

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Neun Einzelfälle
und Schlussbetrachtung

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Im letzten Kapitel D stellt der Autor neun literarische Werke und die unterschiedlichen Geschichten ihrer Verbote und Druckgenehmigungen vor. Darunter sind so bekannte Titel wie Ole Bienkopp von Erich Strittmatter, Die Papiere des Andreas Lenz von Stefan Heym, Das Kaninchen bin ich von Manfred Bieler oder Stiller von Max Frisch.

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Diese Fälle sollen illustrieren, wie die Zensur bzw. das in den ersten Kapiteln analysierte Zensursystem konkret funktionierte. Der Autor schildert die Beispiele eher überblicksartig, um vorrangig auf die jeweils entscheidend beteiligten Zensurebenen einzugehen. Diese Institutionen werden in ihrer Denk- und Arbeitsweise um so plastischer und nachvollziehbarer. Die großen Differenzen zwischen den Fällen belegen, wie willkürlich Druckgenehmigungen erteilt oder entzogen wurden, wie schnell sich implizite Richtlinien für die Zensur änderten und in welch ausweglose Lage Autoren, aber auch die betreuenden Lektoren geraten konnten.

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Der Schlussbetrachtung folgt ein knapper Anhang, in dem die wichtigsten Dokumente zur Zensur (Gutachten, Umarbeitungsempfehlungen, Zensurkriterien) ediert werden. Diese geben ein unvergleichlich anschauliches und eindringliches Bild der Zensur in der DDR, so dass man sich als Leser fast die Wiedergabe weiterer, im Text zitierter Archivalien wünscht. Dem Quellen- und Literaturverzeichnis folgt ein abschließendes Personenregister. Wegen der dicht gedrängten zeitlichen Abläufe, der für die DDR typischen häufigen Abkürzungen und der unübersichtlichen Strukturen sowie der sich überschneidenden Kompetenzen einzelner Institutionen wäre eine kurze Chronik im Anhang mitunter hilfreich gewesen.

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Fazit

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In lobenswerter Quellenarbeit hat der Autor eine Vielzahl von Belegen für die Strukturen und die Funktionsweise der belletristischen Zensur in der DDR in den 1960er Jahren zusammengetragen und systematisch ausgewertet. Er zeigt, wie Schriftsteller (und Verlagslektoren) mit allen Mitteln dazu gebracht wurden oder werden sollten, an der »Erziehung des sozialistischen Menschen« mitzuwirken – manchmal um den Preis ihrer künstlerischen Kreativität oder ihrer Gesundheit. Dass dennoch viele großartige Texte in der DDR entstanden und teilweise sogar veröffentlicht wurden, mag ein schwacher Trost sein.

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Immerhin kann die Erforschung der Zensurmechanismen in der DDR wie in anderen totalitären Staaten ein wenig zur Rehabilitation verfolgter Autoren beitragen. Arbeiten wie die von Westdickenberg machen bewusst, dass sich Zensur letztlich gegen alle richtet: zuerst gegen die Autoren, dann gegen Lektoren und Gutachter, letztlich gegen den Leser, der sich wie in der DDR vielleicht irgendwann gegen das System selbst wendet.



Anmerkungen

Zur Vorgeschichte der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel in den 1950er Jahren und ihren Vorgängerorganisationen vgl. Simone Barck / Martina Langermann / Siegfried Lokatis: »Jedes Buch ein Abenteuer«. Zensur-System und literarische Öffentlichkeit in der DDR bis Ende der sechziger Jahre. 2. Aufl. (Zeithistorische Studien Bd. 9) Berlin: Akademie Verlag 1998. Westdickenberg knüpft mehrfach an die dort geleistete Grundlagenforschung an und vertieft einzelne Themen für die 1960er Jahre.   zurück