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Élisabeth Décultots große Winckelmann-Studie gibt neue Antworten auf eine alte Frage

  • Élisabeth Décultot: Untersuchungen zu Winckelmanns Exzerptheften. Ein Beitrag zur Genealogie der Kunstgeschichte im 18. Jahrhundert. (Stendaler Winckelmann-Forschungen 2) Ruhpolding: Franz Philipp Rutzen 2004. VIII, 208 S. 8 s/w Abb. Kartoniert. EUR (D) 24,00.
    ISBN: 3-910060-57-9.
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Ein Leben in Exzerpten

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Wenn je eine Autobiographie für die geistige Physiognomie ihres Autors charakteristisch war, dann diejenige, die Johann Joachim Winckelmann ein Jahr vor seinem Tod in einem Heft mit dem Titel Collectanea zu meinem Leben entworfen hat. 1 Die Sammlung enthält eine lebensgeschichtliche Skizze in 67 Paragraphen, Zitaten überwiegend aus kanonischen Werken der antiken Literatur, die in ihrer Aufreihung auf parabelhafte Weise seinen eigenen Lebensgang nachzeichnen. Bereits das Exzerpieren fremder Texte geriet Winckelmann mithin zum Schreiben über sich selbst. Die Abschrift der Werke anderer, so darf man aus diesem ungewöhnlichen biographischen Konzept wohl schließen, war für ihn mit der eigenen Existenz als Gelehrter und Schriftsteller unlösbar verknüpft.

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Die Arbeit des Kopierens und Exzerpierens hat Winckelmann sein gesamtes intellektuell bewusstes Leben begleitet: vom Studium an der Universität Halle über seine Nöthnitzer Zeit als Bibliothekar des Grafen von Bünau bis in die späteren römischen Jahre. Zusammengekommen ist auf diese Weise ein Corpus von Lesefrüchten im Umfang von etwa 7500 Seiten, das seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts größtenteils in der französischen Nationalbibliothek in Paris aufbewahrt wird. Bislang hat sich die einschlägige Forschung für diesen Teil des Winckelmannschen Nachlasses nur sporadisch zu interessieren vermocht. 2 Die französische Germanistin Élisabeth Décultot hat den Heften im Jahr 2000 erstmals eine umfassende und systematische Studie gewidmet, die nun auch in deutscher Übersetzung erschienen ist.

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Der Topos vom
»Neuerer« Winckelmann

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Fragt man nach den Gründen für die bisherige Vernachlässigung des doch augenscheinlich bedeutsamen und ergiebigen Materials, so sind diese neben der schieren Mühe der Durchdringung des gewaltigen Konvoluts in bestimmten überkommenen Vorstellungen von literarischer Originalität zu suchen, zu deren Durchsetzung Winckelmann selbst übrigens wesentlich beigetragen hat. Wir wissen inzwischen aus einer Reihe von Arbeiten, 3 dass Winckelmann ein begnadeter Selbstdarsteller war, der seine Außenwirkung und Wahrnehmung in der Öffentlichkeit sehr präzise zu steuern vermochte. Zu den zentralen Aspekten des solchermaßen konstruierten Images zählt die Stilisierung zum bahnbrechenden Neuerer, Pionier des Geschmacks, Erfinder der Kunstgeschichte, der die Autopsie der Werke als methodischen Grundsatz zuerst geltend gemacht habe. Bereits mit seiner Erstlingsschrift, den Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst, beansprucht er, ein »Original« vorzulegen und »[…] nichts zu schreiben, was schon geschrieben ist«. 4 Noch deutlicher wird Winckelmann dann im Eingang seines Hauptwerks Geschichte der Kunst des Alterthums:

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Es sind einige Schriften unter dem Namen einer Geschichte der Kunst an das Licht getreten; aber die Kunst hat einen geringen Anteil an denselben: denn ihre Verfasser haben sich mit derselben nicht genug bekannt gemachet, und konnten also nichts geben, als was sie aus Büchern, oder von sagen hören, hatten. 5
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Die Mit- und Nachwelt hat sich dieser polemischen Abgrenzung und der damit einhergehenden Überhöhung zum Wegbereiter eines ganz Neuen weitgehend unkritisch angeschlossen. Spätestens mit Goethes 1805 publizierter Winckelmann-Schrift ist seine Leistung offiziell epochal geworden 6 , und noch Untersuchungen aus jüngerer Zeit haben, indem sie den Fokus vor allem auf die Wirkung und Nachfolge Winckelmanns lenkten, die These vom »Bruch« mehr oder minder bewusst gestützt. Wenn Décultot ihre Studie im Untertitel einen »Beitrag zur Genealogie der Kunstgeschichte im 18. Jahrhundert« nennt, ist dieser Wechsel der Blickrichtung folglich durchaus programmatisch zu verstehen.

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Breites Spektrum
der Gegenstände

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Gegen die Macht der wissenschaftlichen Gewohnheit nimmt Décultot also gleichsam den Weg flussaufwärts 7 , ad fontes, und kann sich hierbei – in Gestalt der Exzerpthefte Winckelmanns – auf ein suffizientes Itinerarium verlassen. Die epistemische Landschaft, die aus den Exzerpten erhellt, ist weiträumig und abwechslungsreich, vielgestaltiger, als man es für Winckelmann vielleicht angenommen hätte. Neben den Originalschriften des griechischen und römischen Altertums ist da zunächst der umfangreiche Komplex naturwissenschaftlicher und medizinischer Abhandlungen, insbesondere zur Optik, zur Physiologie des Empfindens und zur menschlichen Anatomie, deren präziser »klinischer« Blick Spuren noch in Winckelmanns berühmten Beschreibungen antiker Statuen hinterlassen hat. 8 Ein zweiter, in seiner Bedeutung bislang unterschätzter, da von Winckelmann weitgehend geleugneter und verschwiegener Bezug ist der zur englischen (Shaftesbury, Gordon, Blackwell), insbesondere aber zur französischen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts (Molière, Voltaire, Boileau, Montesquieu u. a.). Als Französin ist die Autorin offensichtlich besonders aufmerksam auf einen Traditionszusammenhang, den die deutsche Forschung in dem Bestreben, die Einzigartigkeit der »deutschen Klassik« in der Literatur beziehungsweise den nationalen Ursprung der Kunstgeschichte als einer originären Disziplin in den Geisteswissenschaften herauszustreichen, lange nicht recht wahrgenommen hat. 9 Drittens ist das antiquarische, archäologische Schrifttum zu nennen, das Winckelmann in seiner ganzen Spanne von Aristoteles und Varro bis Caylus zur Kenntnis genommen hat, und dem er – allen wütenden Invektiven gegen die »ignoranten«, »pedantischen«, mit keinerlei Geschmack für die Kunst begabten Vorgänger zum Trotz – gerade im Methodischen, in der »Lektüre« der Antiken, viel verdankt. 10

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Abschreiben heißt
in Besitz nehmen

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All jene Texte, weite Teile der damaligen Welt des Wissens, hat Winckelmann sich schreibend, abschreibend erschlossen, wobei die Darstellung Décultots einen Eindruck von der nicht zuletzt sinnlichen Intensität dieser Form der Aneignung gibt. Als Exzerptor war Winckelmann einerseits ein Kind seiner Zeit, die die Kunst des Umgangs mit Büchern, die Technik, Gelesenes als Zitat in Heften schriftlich festzuhalten, in populären Handreichungen vermittelte. Auf der anderen Seite ist Winckelmanns exzessives Exzerpieren ganz individuell auf seine dürftige soziale Herkunft zurückzuführen. Seine Sammlung von Zitaten war dem Schuhmachersohn Ersatz für jene prachtvollen Bibliotheken, in denen sie zusammengeschrieben wurde, er hütete sie als seinen kostbarsten Schatz. Aber selbst aus den wenigen Büchern, die Winckelmann in Druckform besaß, fertigte er Abschriften an. Es scheint, als habe ihm erst die Abschrift das Gefühl der wahren Inbesitznahme des Buches vermittelt, das fremde Werk musste durch die eigene Feder geflossen, gestaltend nachgeschaffen worden sein. Allmählich ging Winckelmann dazu über, die Exzerpte ihrerseits zu exzerpieren, zu rubrizieren, Register seiner Sammlung anzulegen. Mit diesem Erklimmen einer Meta-Ebene, mit diesem Ordnen der disiecta membra seines Zitatcorpus stand er nunmehr an der Schwelle zu eigenständiger literarischer Produktion.

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Erborgte Einfalt,
entliehene Größe

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Dem detaillierten Nachweis, wie sich Winckelmanns Kopier- und Exzerpiertätigkeit auf sein Schreiben ausgewirkt hat, wie die Arbeit mit dem Fremden in die Hervorbringung des Eigenen mündete, gilt der größte Teil von Décultots Untersuchung.

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Am wenigsten spektakulär, da zumindest partiell schon durch ältere Forschungsarbeiten bekannt, ist der Befund, dass zahlreiche der heute als »klassisch« geltenden Winckelmannschen Dicta nicht auf originären Einsichten, sondern auf Übersetzungen zumeist aus dem Französischen beruhen. So geht die geflügelte Formel von der »edle[n] Einfalt« und der »stille[n] Grösse«, auf die er die Eigenart der griechischen Kunst in den Gedancken bringt, 11 auf einen Topos der europäischen Kunstliteratur zurück und ist lange vor Winckelmann von Félibien, Roger de Piles, Du Bos und anderen entwickelt worden. In den Exzerptheften findet sich sogar der Ausdruck »noble simplicité«, den Winckelmann nach der französischen Übersetzung einer Abhandlung von Jonathan Richardson seinerseits ins Deutsche übertragen hat. 12 Ähnlich verhält es sich mit dem viel zitierten Satz aus dem Eingangspassus ebenfalls der Gedancken: »Der eintzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten […].« 13 Er ist – freilich mit einer bemerkenswerten Differenz – vorgeprägt in den Caractères des Jean de La Bruyère. 14 Dass in der Folge wiederum Winckelmann mit seinem sentenziösen, streng gefügten Stil einen solchen Erfolg hatte, dass bald ganz Deutschland, ja Europa von der Antike und der Kunst nur noch in seinen Worten sprach, gehört zu den besonderen Pointen der historischen Entwicklung, die Décultot mit viel Gespür für die Dialektik von Kopie und Original herausgearbeitet hat.

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Strukturelle
Unvollendung

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Bedeutsamer noch als diese Beobachtungen auf der Ebene einzelner gedanklicher Bausteine und Sätze sind jedoch diejenigen zu Struktur und Gesamtentwicklung des Winckelmannschen Werks. Ihm eignet, so die These Décultots, eine prinzipielle Unabgeschlossenheit, die durch eben jene spezifische Lese- und Schreibökonomie bedingt sei. »All seinen [Winckelmanns] Publikationen haftet […] ein gewisser Zufälligkeitscharakter an. Sie erscheinen als vorläufige, von ihm selbst oft ausdrücklich in Frage gestellte Produkt [!] eines Vervollkommnungsprozesses, der per se eigentlich nicht zum Abschluss kommt« (S. 5).

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Zeigen lässt sich dies in eindrucksvoller Weise an den Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Wercke […] und ihren beiden Fortsetzungen, dem von einem fingierten anonymen Respondenten (tatsächlich aber vom Autor der Gedancken selbst) verfassten Sendschreiben über die Gedanken und der Erläuterung der Gedanken, die wieder unter Winckelmanns Namen erschien. 15 Alle drei Schriften knüpfen an die sogenannte Querelle des Ançiens et des Modernes an, die literatur- und kulturtheoretische Auseinandersetzung um den Vorrang der Antike vor der Moderne, die im Frankreich des späten 17. Jahrhunderts ihren Anfang genommen und bald auf England und weitere europäische Länder übergegriffen hatte. Wie die Exzerpthefte belegen, war Winckelmann mit allen wesentlichen Beiträgern der Debatte vertraut. Dabei fällt bei seinen Notaten die Tendenz auf, die Positionen der beiden gegnerischen Parteien dialektisch zuzuspitzen sowie bestimmte argumentative Widersprüche gleichsam aus den Texten hervorzutreiben. So stellt er der Position eines Ançien, also eines Verfechters der Antike, stets sofort das konträre Argument eines Moderne gegenüber, so dass sich in der Summe der Eindruck ergibt, als habe Winckelmann beim Exzerpieren ständig zwischen beiden Standpunkten geschwankt. Und in seinen Auszügen aus Charles Perraults Parallèle des Ançiens et des Modernes zum Beispiel, einer leidenschaftlichen Parteinahme für die moderne Kunst, hat Winckelmann zielsicher gerade diejenigen Stellen herausgegriffen, an denen Perrault in gewundenen Formulierungen doch den Vorrang der Antike einräumen muss; derart gebrochen, scheint in Perraults Text die beunruhigende Frage auf, was Wesen und Leistung der Moderne eigentlich ausmache.

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Vor dem Hintergrund dieser Durchsicht der zugrunde liegenden Exzerpte lesen sich nun auch die Gedancken weit weniger eindeutig als das Plädoyer eines überzeugten Ançien, als die kohärente klassizistische Lehre, als welche sie die einschlägige Forschung in der Nachfolge Justis und Rehms hat sehen wollen. 16 Zwar argumentiert Winckelmann zunächst im Sinne der Anhänger des Altertums, wenn er die prinzipielle Vorbildlichkeit der Griechen postuliert. Wenn er jedoch wenig später die einmaligen Bedingungen aufführt, die die griechische Kunst zu jener unerreichten Höhe geführt hätten (Klima, politische Verfassung etc.), so fällt er seiner eigenen Ausgangsthese unfreiwillig in den Rücken: normative und historische Auffassung der Antike stehen in den Gedancken unvermittelt nebeneinander; der Text wird der Aporie allenfalls rhetorisch, nicht aber gedanklich Herr.

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Nachdem er in den Gedancken einen beträchtlichen Teil seiner Zitate zugunsten der Partei der Alten verbraucht hatte, musste es Winckelmann darum gehen, für den verbliebenen Rest ein Unterkommen zu finden, der sonst ungenutzt in seinem Lektürespeicher geschlummert hätte. So kam es zunächst zur Publikation des Sendschreibens, das fast ausschließlich aus Argumenten zugunsten der Modernes besteht. Die Erläuterung schließlich hält sich an dasselbe Verfahren: Winckelmann arbeitete Punkt für Punkt Belege ab, die er in dem ersten Essay wahrscheinlich aus Platzmangel beiseite gelassen hatte.

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Spiegelt die triadische Struktur der drei Frühschriften das Fortwirken von Winckelmanns Exzerpiertätigkeit auch besonders prägnant, so hat sich doch an seiner Arbeitsmethode selbst auch in späteren Jahren nichts Wesentliches geändert. Kaum hatte er beispielsweise die erste Fassung der Geschichte der Kunst des Alterthums zum Druck befördert, war Winckelmann bereits mit der Erstellung einer neuen Version des Textes befasst. Sein Vorrat an Abschriften und Zitaten erlaubte es ihm auch hier, ja verlangte geradezu danach, trotz scheinbar endgültiger Veröffentlichung erneut in jenen unabschließbaren Überarbeitungsprozess einzutreten.

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Nachahmung:
Theorie und Praxis

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Eines der interessantesten Kapitel der Arbeit beschäftigt sich mit der für Winckelmann wie generell für die Ästhetik seiner Zeit zentralen Kategorie der Nachahmung. 17 Décultot sucht hier nachzuweisen, dass der Nachahmungsbegriff des Kunsttheoretikers Winckelmann zu einem großen Teil aus der schriftstellerischen Erfahrung seiner Exzerpiertätigkeit erwachsen sei, mit anderen Worten: dass die Theorie in diesem Fall aus der Praxis resultiere. Nur weil Winckelmann als Exzerptor über Jahre Erfahrung mit dem Geschäft des Kopierens gemacht, nur weil er sich der Übung der schriftlichen Kompilation mit aller Strenge unterzogen habe, sei er fähig gewesen, für die bildende Kunst eine Nachahmungslehre zu entwickeln, welche die Paradoxie und innere Problematik des Nachahmens so feinfühlig ans Licht bringe.

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Zur Erläuterung sei noch einmal auf den schon oben zitierten Satz von der Erzielung moderner Unnachahmlichkeit durch die Nachahmung der Alten zurückgegriffen, der das Problem brennpunktartig zu bündeln erlaubt. In engstem, imitativem Bezug zu seiner Quelle 18 , indem er La Bruyère weitgehend wörtlich ins Deutsche übersetzt, sei Winckelmann gleichwohl eine überraschende Neuakzentuierung gelungen. Denn der Gedanke, der in der französischen Vorlage in dem diskreten Nebensatz »[…] s´ il se peut surpasser les Ançiens […]« quasi latent geblieben war, die Frage, wie es möglich sein soll, durch treue Nachahmung ein bereits perfektes Original zu übertreffen, trete im oxymoronartigen Zusammenprall der Wörter bei Winckelmann in voller Schärfe hervor.

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Das somit bereits in den Gedancken labil gewordene Prinzip der Nachahmung wird in den folgenden Schriften sukzessive und in der Geschichte der Kunst des Alterthums dann endgültig verabschiedet. Letztere schließt mit der resignativen Einsicht, dass die Urbilder der antiken Kunst unwiederbringlich verloren, der Versuch der Nachahmung folglich zum Scheitern verurteilt und griechische Schönheit dem schöpferischen Künstlertum auf immer entzogen sei. Décultot bringt diesen Verzicht auf künstlerische Produktion in Zusammenhang mit dem damals sich anbahnenden und auch durch Winckelmann geförderten Emporkommen zweier neuer Berufsgruppen professioneller Kunstrezipienten: des Ästhetikers und des Kritikers, die die Vollkommenheit des Altertums nicht mehr durch Nachahmung, sondern durch Wahrnehmung zu »retten« versprachen, durch das hingegebene Abtasten der Antiken mit den Augen und eine sich an ihre Formen gleichsam anschmiegende literarische Wiedergabe.

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Der Autor als auctor

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Selbst wenn man Décultots Überlegungen nicht in allen Punkten mit voller Stringenz folgen möchte – was sie von Winckelmann sagt, gilt mit einer gewissen Einschränkung doch wohl auch für die andern Beiträger (nicht nur) zur Nachahmungsdiskussion: sie alle haben sich ihrem Gegenstand zwangsläufig lesend, abschreibend und insofern auch mimetisch genähert – so ist der Gewinn, den man aus der Untersuchung zieht, doch bedeutend und weit über die engere Winckelmann-Forschung hinaus in Betracht zu ziehen. Er liegt vor allem in der differenzierten Analyse literarischer Autorschaft, einer für die Wissenschaft von der Literatur ebenso basalen wie problematischen Kategorie. Der Autor als poetisch unumschränkt waltende Instanz ist zwar Ende der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts feierlich zu Grabe getragen worden. Das bedeutet jedoch keineswegs, dass das aus der Goethezeit bekannte Konzept von ihm wirklich »tot« wäre. 19 Wie vital es nach wie vor wirkt, offenbart nicht zuletzt die interne Hierarchie der Forschungsgegenstände. Sehr zu Recht weist Décultot auf das merkwürdig geringe Interesse an quellenkritischen und verwandten Fragestellungen in der neueren Literaturwissenschaft hin – und auf das Unbehagen, das derjenige erregt, der, wie im vorliegenden Fall, mit der Erkundung eines Exzerptcorpus ernst macht. Er läuft Gefahr, hinter dem Schriftsteller den Fälscher, den Plagiator, den Bastler aufzuspüren und bedroht so – die Schande des Kompilierens färbt auf den Entdecker ab – auch Selbstverständnis und Ansehen des Fachs.

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Décultot hat sich mit ihrer Arbeit weit auf dieses »verminte Terrain« (S. 179) vorgewagt, ohne dass die hier angedeuteten Befürchtungen sich als begründet erwiesen hätten. Winckelmann steht nach Kenntnis des von Décultot ausgewerteten Materials nicht als banaler Epigone dar, wenn auch andererseits eben nicht mehr als der absolute Begründer, der sich heroisch über alle Vorläufer erhebt. Wie so oft führt genaues Hinsehen auch hier zu der Erkenntnis, dass die Wahrheit nicht in dem harten Schwarz-Weiß, sondern im subtilen Dazwischen liegt: Erst als Kopist ist Winckelmann zum Schöpfer geworden; Originalität und Nachahmung, Kompilation und Kreativität sind in seinem Werk untrennbar verwoben.

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Einem solchermaßen dialektischen Verständnis künstlerischer Individualität trägt ein vormoderner Autorbegriff wesentlich eher Rechnung als jener, der aus der Genieästhetik fortlebt. Von der Antike bis ins beginnende 18. Jahrhundert galt ein Autor nicht zuletzt als auctor, als »Vermehrer«, wie Décultot im Rückgriff auf die Etymologie des Wortes erklärt. Ein jeder übernahm Motive von anderen Autoren, ergänzte sie und entwickelte sie weiter, um anschließend selbst exzerpiert und imitiert zu werden – in einer unendlichen Kette des Lesens, in die auch Winckelmann sich einfügt: »So zieht sich durch die Geschichte der Literatur etwas wie eine aurea catena […] Jean Paul schreibt von Winckelmann ab, der von Montaigne abschreibt, der wiederum von Seneca abschreibt, u. s. w. […] Es ließe sich eine Geschichte der literarischen Produktion entwerfen, die weniger vom Schreiben handeln würde als vom Lesen« (S. 32). So eine weitere Anregung dieser an Perspektiven reichen und mit spürbarem wissenschaftlichem Eros geschriebenen Studie, die unbedingt zur Lektüre und – im Sinne des angeführten Winckelmannschen Paradoxons – durchaus auch zur Nachahmung empfohlen werden kann.



Anmerkungen

Johann Joachim Winckelmann: Collectanea zu meinem Leben. In: J. J. W.: Briefe. In Verbindung mit Hans Diepolder hg. von Walther Rehm. 4 Bde. Berlin 1952–1957. Bd. 4: Dokumente zur Lebensgeschichte. Berlin 1957, S. 154–163.   zurück
Décultot selbst weist neben Justis monumentaler Biographie auf folgende Arbeiten hin: Gottfried Baumecker: Winckelmann in seinen Dresdner Schriften. Die Entwicklung von Winckelmanns Kunstanschauung und ihr Verhältnis zur vorhergehenden Kunsttheoretik mit Benutzung der Pariser Manuskripte dargestellt. Berlin 1933; Konrad Krauss: Winckelmann und Homer, mit Benutzung der Hamburger Homer-Ausschreibungen Winckelmanns. Berlin 1935; Wolfgang Schadewaldt: Winckelmann als Exzerptor und Selbstdarsteller. Mit Beiträgen von Walther Rehm. In: W. S.: Hellas und Hesperien. 2 Bde. Zürich, Stuttgart 1960. Bd. 2, S. 637–657; Michel Espagne: L´ homme de Winckelmann: les leçons de la nature. In: Jean-Marie Paul (Hg.): Images de l´ homme au XVIIIe siècle. Esthétique, Littérature, Philosophie. Nancy 1992, S. 129–141.   zurück
Vgl. z.B. zur Selbstinszenierung Winckelmanns in seinen römischen Briefen: Ernst Osterkamp: Winckelmann in Rom. Aspekte adressatenbezogener Selbstdarstellung. In: Conrad Wiedemann (Hg.): Rom – Paris – London. Erfahrung und Selbsterfahrung deutscher Schriftsteller und Künstler in den fremden Metropolen. Ein Symposion. Stuttgart 1988, S. 203–230; Martin Disselkamp: Die Stadt der Gelehrten. Studien zu Johann Joachim Winckelmanns Briefen aus Rom. Tübingen 1993.   zurück
Johann Joachim Winckelmann: Briefe (Anm. 1), Bd. 1, S. 171 (Brief an Uden vom 3. Juni 1755).   zurück
Johann Joachim Winckelmann: Kunsttheoretische Schriften. Bd. 5: Geschichte der Kunst des Altertums. Erster und zweiter Teil 1966 (Faksimiledruck der 1. Aufl. Dresden 1764) Baden-Baden, Strasbourg, S. X.   zurück
Vgl. Johann Wolfgang Goethe (Hg.): Winckelmann und sein Jahrhundert. In Briefen und Aufsätzen. Mit einer Einleitung und einem erläuternden Register von Helmut Holtzhauer. Leipzig 1969.   zurück
So die Kennzeichnung der eigenen Methode; vgl. S. 4.   zurück
Vgl. S. 130–132.   zurück
Vgl. hierzu v.a. S. 147 und S. 180–183.   zurück
10 
Vgl. S. 134–147.   zurück
11 
Johann Joachim Winckelmann: Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst. In: J. J. W.: Kleine Schriften, Vorrede, Entwürfe. Hg. von Walther Rehm. Mit einer Einleitung von Hellmut Sichtermann. Berlin 1968, S. [27]-59, hier S. 43.   zurück
12 
Vgl. S. 181.   zurück
13 
Johann Joachim Winckelmann: Gedancken (Anm. 11), S. 29.   zurück
14 
Vgl. S. 31. Bei La Bruyère hatte der Satz gelautet:»On ne saurait en écrivant rencontrer le parfait et s´ il se peut surpasser les Ançiens que par leur imitation.«   zurück
15 
Vgl. für das folgende S. 55–61.   zurück
16 
Dagegen hat Peter Szondi die argumentative Brüchigkeit, die dialektische Spannung der Gedancken profiliert, ist also ohne Kenntnis des von Décultot erschlossenen Materials zu einem vergleichbaren Ergebnis gekommen. Vgl. Peter Szondi: Poetik und Geschichtsphilosophie I. Antike und Moderne in der Ästhetik der Goethezeit. Hegels Lehre von der Dichtung. Frankfurt / Main 1974, S. 21–46.   zurück
17 
Vgl. S. 61–78; für die zentrale These des Kapitels siehe bereits: Élisabeth Décultot: Theorie und Praxis der Nachahmung. Untersuchungen zu Winckelmanns Exzerptheften. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 76 (2002), S. 27–49.   zurück
18 
Vgl. hierzu bereits oben, Anm. 14.   zurück
19 
Ein Forschungsbericht und anregende Überlegungen zur »Rückkehr« des Autors bei Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez und Simone Winko: Rede über den Autor an die Gebildeten unter seinen Verächtern. Historische Modelle und systematische Perspektiven. In: F. J., G. L., M. M. und S. W. (Hg.): Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Tübingen 1999, S. 3–35; als Preprint erschienen bei IASLonline. URL: http://iasl.uni-muenchen.de/discuss/lisforen/autor-inhalt.html [22.01.06]   zurück