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»Serienkiller und andere Barbaren«

  • Frank J. Robertz / Alexandra Thomas (Hg.): Serienmord. Kriminologische und kulturwissenschaftliche Skizzierungen eines ungeheuerlichen Phänomens. München: belleville 2004. 549 S. Gebunden. EUR (D) 49,00.
    ISBN: 3-936298-09-2.
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Eigentlich eine gute Idee, einmal Beiträge jener Disziplinen, die sich mit dem Phänomen Serienmord beschäftigen, in einem Sammelband zusammenzubringen, zeichnet sich doch die Thematisierung des Phänomens Serienmord durch einen strukturellen Kommunikations- und Darstellungsabgrund zwischen beiden Seiten aus, den bisher nur wacklige Hängebrücken überwunden haben; eine solide, begehbare Verbindung fehlt, und nur selten finden die Deutungen und Ergebnisse von der einen Seite sicher und unbeschädigt auf die andere.

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Eine solche solide Brücke will scheinbar dieser Sammelband sein, in dem sich 32 Beiträge, zwölf von Kriminologen, Kriminalisten und Psychologen und zwanzig von Kulturwissenschaftlern finden. »Scheinbar« deshalb, weil eine programmatische Einleitung der Herausgeber fehlt und die vermeintliche Intention des Sammelbandes nur kurz im Vorwort des Verlegers, Michael Farin, formuliert wird: Es werde beidem nachgegangen, »dem Serienmord als einer Extremform menschlicher Grausamkeit« sowie »der Transformation realen Entsetzens Weniger in Unterhaltung für Viele«; dieses Vorgehen impliziere, so Farin, »eine gewisse Kritik an der gängigen Praxis, Veröffentlichungen entweder zu dem einen oder zu dem anderen Aspekt zu tätigen, sie also entweder auf den Realien-Diskurs oder auf den Symbol-Diskurs zu beschränken« (Farin, S. 10). Die gleichwohl doch nur wieder trennend wirkende Aufteilung des Bandes in vier Teile – Kriminologie I und II, Kulturwissenschaften I und II – sowie die Mehrzahl der Beiträge der jeweiligen Seiten sind jedoch nur bedingt geeignet, die postulierte Neuerung auch Wirklichkeit werden zu lassen: Nur weil sich die Beiträge zwischen zwei Buchdeckeln befinden, stellt sich nicht gleich eine produktive Verschränkung der Diskurse ein. Was praktisch ist für den Leser, der in einem Band Texte aus beiden Sphären greifbar findet, zeigt sehr schnell, dass noch viel interdisziplinäre Arbeit vor den Protagonisten der Diskurse über Serienmord liegt.

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Die Greifbarkeit scheint auch schon die Stärke dieses Ansatzes zu sein. Nach dem Studium aller Beiträge ist man in Einzelaspekten sicher klüger als zuvor; dass man sich aber dem Phänomen Serienmord signifikant und umfassend genähert hätte, dieses Gefühl entsteht eigentlich nicht. Die wohl entscheidenden Sätze stehen auf Seite 528 in einem der Beiträge von Alexandra Thomas:

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... keine der bisherigen Theorien vermag es, die Ursachen für serielles Töten umfassend und plausibel zu erklären. Jede für sich genommen enthält i.d.R. ein wahres Moment [...]. Möglicherweise sind all diese Erklärungsversuche nur eine Projektion unserer eigenen Wahrnehmung von Welt, während das destruktive Handeln der Täter lediglich dem Prinzip des Selbstzwecks folgt.
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Formuliert ist damit eine ein immens dickes Buch bilanzierende Kapitulation vor dem black box-Charakter des Phänomens Serienmord.

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Graphisch symbolisiert wird diese Kapitulation durch die Einbandgestaltung: Während man vom Titel mit den dunklen Augenhöhlen eines Schädels »in Stimmung« gebracht wird, sieht man gleich nach dem Aufschlagen des Buches das grobkörnige Schwarzweiß-Foto rissiger und schmutziger Hände (die eines Serienmörders oder die eines Maurers? Es sind die des Serienmörders Karl Großmann). Gleichsam aktiv auf den Betrachter zugewandt scheinen die Handrücken zu sagen: »Diese Hände haben gemordet!«. Kurz vor dem Schließen des Buches dagegen sieht man – wie in der Geste der Schuldlosigkeit nach oben, vom Betrachter weg gerichtete – Handflächen, die zu sagen scheinen: »Aber ich konnte doch nichts dafür!«. Vernachlässigt man an dieser Stelle einmal die (bewusste?) Stimmungsmache und den biologistischen Unterton, so symbolisieren diese Bilder letztlich das Problem, vor dem die Serienmord-Forschung jeder Provenienz steht: Die Beziehung zwischen dem »Getötet!« und dem »Warum?« scheint unaufklärbar; mehr oder minder plausible Vermutungen und psychologisierende Zuschreibungen halten den Leser auch in diesem Band in einer Spannung, die durch keine schlüssige Erklärung aufgelöst wird und wohl auch nicht aufgelöst werden kann – zumal die Prämissen, die Erkenntnisgrenzen und der Projektionscharakter der eigenen Erklärungen nur selten reflektiert werden.

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Eigentlich aber ist dieser Band, es wurde schon gesagt, eine gute Idee. Man kann ihm einen gewissen Pionierstatus zubilligen beim Versuch, die üblicherweise getrennten Bereiche zusammen zu bringen. Da er jedoch offenbar nicht aus einer Tagung hervorgegangen ist, sondern eigens für den Band angefertigte Texte enthält, ist es nicht verwunderlich, dass die Beiträge inhaltlich kaum Bezug aufeinander nehmen. Es findet kein »Gespräch« statt, kein Dialog, kaum gegenseitiges Wahrnehmen. Erst das fertige Buch stellt die Texte in einen Zusammenhang, der gleichwohl nur eine scheinbare Kohärenz aufweist und damit eben nicht die angeführte Absicht realisiert, die Fächergrenzen zu überschreiten. Die Hoffnung ist daher – über die unbestreitbare Qualität mancher Einzelbeiträge hinaus – auf die Zukunft gerichtet, denn vielleicht werden diesem Sammelband weitere Publikationen folgen, die jenseits der Erklärungsreichweite der beteiligten Disziplinen neue und gemeinsame, genuin transdisziplinäre Fragestellungen entwickeln. Bis dahin stehen hier mit dem Nebeneinander der Disziplinen auch deren Stärken und Schwächen beisammen. Zu umfangreich, als dass jeder Beitrag einzelnen besprochen werden könnte, hier nur einige, eher assoziative Anmerkungen zu eben diesen Stärken und Schwächen, wobei dem trennenden Strukturierungsprinzip in einen »Realien«- und in einen »Symbol«-Teil gefolgt wird.

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»Realien«?

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Die Stärke der kriminalistisch-kriminologischen Beiträge liegt in ihrem Praxisbezug. Diese an sich selbstverständliche Feststellung ist dennoch von Gewicht, da in kulturwissenschaftlichen Beiträgen zum Serienmord-Diskurs die Tatsache, dass es um reale Täter und um reale Opfer geht, oft zugunsten einer konstruktivistisch-symbolistischen Überladung in den Hintergrund rückt. Modellbildung und Erklärungsversuche der Beiträge aus »Kriminologie I und II« im vorliegenden Band entstammen teilweise der kriminalistischen und der (forensischen) psychologischen Praxis oder fassen deren Erkenntnisse aspektorientiert zusammen. Diese Modelle sind häufig in unmittelbarer Auseinandersetzung und Kommunikation mit Tätern entwickelt worden und stellen neben den Vorgehens- und Persönlichkeitscharakteristika auch Deutungen der Ursachen von Serienmord und der Motivationen einzelner Serienmörder bereit.

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Nicht zuletzt aber sollen sie helfen, noch nicht gefasste Serienmörder zu überführen; damit stellen sie eine Voraussetzung des allgemein – verkürzt, aber medienwirksam –»Profiling« genannten Verfahrens zur Ermittlung eines Serientäters dar. Dem »Profiling« haftet das Odium des Genialen an, auch deshalb, weil dessen »Erfinder« es hervorragend verstanden haben, ihre Methode, ihre Fahndungserfolge und ihre Person zu popularisieren und zu kommerzialisieren. Es scheint nicht leicht zu sein, sich dieser Selbstinszenierung der Profiler (Robert Ressler: »Ich jagte Hannibal Lecter«) zu entziehen; so meinte einer der Herausgeber, ein Interview mit »zwei Legenden der Serienmord-Forschung« geführt zu haben. Diese Verklärung wirkt in der postmodernen Wissenschaftslandschaft jedoch anachronistisch, kann man doch auch den Serienmörder als eine »Konfabulation sämtlicher gesellschaftlicher Institutionen« verstehen, als eine gesellschaftliche Konstruktion, bei dem die Verflechtung von Tat, Ermittlung, Medien und Wissenschaft nicht mehr aufzulösen ist und in der »Serienkiller und Profiler eine unauflösliche, sich gegenseitig anregende Autor-Leser-Gemeinschaft« bilden. 1

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Dies führt auf das Wissenschaftsverständnis einiger Beiträge hin. Nicht nur die Tendenz zur Fokussierung auf den kongenialen Gegenspieler des Serientäters, auf denjenigen, der die rätselhaften Zeichen des anderen zu lesen vermag, irritiert in seiner Eindimensionalität. Auch andernorts scheint ein prä-postmodernes Wissenschaftsverständnis auf: Teilweise recht platter Psychologismus einerseits (»Bezogen auf den Serienkiller bedeutet dies, dass sein ÜBER-ICH unzureichend ausgebildet wurde. Bei Serienkillern wird das ICH durch das ES dominiert, während das ÜBER-ICH zu schwach ist, das ICH zu zensieren. Dies ermöglich den Ausdruck instinktiver Impulse und Fantasien in Form von Morden« [Hodgskiss et al., S. 81]), Formulierungen, die jeden Widerspruch unterdrücken, andererseits: »Grundsätzlich erscheinen prädeliktische Tötungsphantasien fokussiert auf den Akt der Dehumanisierung [...]«, »Sadistische Gewalt- und Vernichtungsphantasien haben per se eine lediglich temporäre Konstanz« (Harbort, S. 62 f.; Hervorhebungen Th. K.). Dann wiederum findet sich manche Naivität, die wohl zurückgeht auf eine unkritische Methoden- und Verfahrensgläubigkeit. Wertungen (»verschrobene Rechtfertigungen«, »verkorkstes Leben«) sowie ein gewisses Überlegenheitsgefühl gegenüber Tätern (»wieder so erbärmlich klein wie vor den Morden« [Simon-Peters, S. 133 und 138]) mögen als Reflexe lebensweltlicher Natur verständlich sein, eine abstrahierende Darstellung muss jedoch ohne sie auskommen können.

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Die Standortgebundenheit des Forschers und seine gleichzeitige Identität als Rezipient kultureller Erzeugnisse zum »Serienmord« wird in Texten, die dem kriminalistisch-kriminologischen Kreis zuzuordnen sind, selten reflektiert. Die Kritik kommt hier aus den Reihen der Kulturwissenschaften, etwa wenn Joachim Linder den zirkulären Charakter von Hypothesen über den Serientäter offen legt: »Der ›Blick in den Kopf des Killers‹ erweist sich immer wieder als Projektion.« (Linder, S. 474). Das reflexionsarme Wissenschaftsverständnis dieser Texte dürfte auch eine jener Inkongruenzen sein, die eine transdisziplinäre Zusammenarbeit der Kulturwissenschaften mit kriminalistisch-kriminologischen Ansätzen verhindert.

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Darüber hinaus fällt auch die USA-Lastigkeit in Gegenstand, Umfang und Ton auf, die ihrerseits einer intensiven und systematischen kulturkritischen Analyse unterzogen werden müsste. Im Band macht sie sich durch Beiträge US-amerikanischer Autoren, vor allem aber durch die vielen Bezüge auf die dortigen Fälle und auf US-amerikanische Ermittler und ihre Modelle bemerkbar sowie auf die Produkte aus Film und Literatur, die in der Gesellschaftsstruktur der USA Voraussetzung und Verankerung haben. Man übertreibt sicherlich nicht, wenn man den Serienmörder als eine Ikone der US-amerikanischen (Pop-)Kultur bezeichnet. Die grundlegende Frage nach der Übertragbarkeit dieses spezifischen Entstehungs- und Wirkungszusammenhangs – die »Konfabulation« ist eine US-amerikanische – auf europäische, auf deutsche Verhältnisse stellt sich den meisten Autoren nicht; sie scheinen von einer unveränderlichen Wesenheit »Serienmörder« auszugehen. Hans-Joachim Gerst erörtert zwar die Frage mit juristischer Gründlichkeit, aber auch mit einer nur eindimensionalen Perspektive, so dass man Interessantes über rechtliche Unterschiede zwischen den USA und Deutschland lernt, hingegen keine Anregung zur Einordnung sozialkultureller Unterschiede erhält.

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Harald Dern, Kriminalhauptkommissar beim BKA, entlarvt hingegen mit einer wohltuenden Nüchternheit »Wahrheiten« über Serienmörder als Mythen, darunter auch solche der US-amerikanischen Kriminalistik: »Die Serienmord-Forschung arbeitet mit geringen Fallzahlen und hoher Selektivität, so dass unser Wissen im Wesentlichen auf Studien eher explorativen Charakters beruht.« (Dern, S. 216). Dem gegenüber – oder doch dem Mythos entsprechend? – steht ein »Alarmismus« (Linder, S. 471) der »Profiteure der Angst vor dem Serienmord«, Politik, Polizei und Massenmedien. 2 Veröffentlichungen zum Thema haben wohl nur selten die »Beruhigung der Bevölkerung« (Robertz, S. 19) zum Ziel, als vielmehr eine bewusste Beunruhigung, einen Zustand latenter Angst, der wohliges Gruseln und Selbstberuhigung zugleich ermöglicht, vor allem aber die Strafverfolgungsbehörden in einem guten Licht dastehen lässt.

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Bei aller Kritik an diesen Erklärungsmodellen, die grundsätzlich nachzuvollziehen hier nicht der Ort ist, lassen sich einzelne Beiträge mit Gewinn lesen. Die durchaus empirisch gewonnenen Ergebnisse machen die Breite menschlicher Ent-Äußerung bewusst, auch die Vielfalt des Leidens von Menschen, die zu Serienmördern oder zu deren Opfern werden. Viele Erklärungsmodelle schauen auf (sexuelle) Phantasien und legen diese in ihren Ursachen und Wirkungen dar, andere hingegen verbleiben stark in hermetischer Elaboriertheit (Canter). Es sei erinnert: »Jede Theorie für sich genommen enthält i.d.R. ein wahres Moment.« Dies dürfte eben auch der Effekt sein: In der Summe ergeben diese Erklärungsmodelle sicher kein schlüssiges Bild, warum jemand zu welcher Art von Serienmörder wird; lässt man sich dagegen auf einzelne Modelle ein, dann werden die Taten des Mörders und ihre (ritualisierte) Serialität durchaus plausibel. Allgemeine Erklärungskraft aber kommt ihnen »i.d.R.« nicht zu.

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Vor allem gelingt eben »i.d.R.« keine Verschränkung zwischen kriminalistisch-kriminologischen und kulturwissenschaftlichen Ansätzen. Gleichwohl wird in einem der Beiträge von Alexandra Thomas ein Erklärungsmodell diskutiert, das auf den ersten Blick die Intention des vorliegenden Sammelbandes einzulösen und eine Art »Brückentheorie« zu sein scheint. Es handelt sich dabei um eine eigentlich kulturwissenschaftliche Allzweck-Waffe, um die Semiotik nämlich. Auf der kriminalistischen Seite gehen Ermittler davon aus, dass die Taten eines Serienmörders und die Art und Weise ihrer Begehung (modus operandi) Zeichen sind, Teil einer Kommunikation mit anderen als den sprachlichen Mitteln. Gewalt und Serienmord werden als »Text« verstanden, der lesbar ist, der Serienmörder selbst als »Autor« oder sogar als Künstler mit einem eigenen Stil (signature). Der gleichsam hermeneutische Akt des deutenden Verstehens durch den Experten, den Ermittler, hat in den Selbstbeschreibungen und den Fremdzuschreibungen, vor allem aber in den kulturellen Überformungen in Literatur und Film genialischen Charakter. Die kulturwissenschaftliche Seite hingegen legt dieses aufeinander bezogene Verhältnis von »Autor« und »Leser« zunächst einmal offen – nicht zuletzt mit einer kritischen Note. In Thomas’ Beitrag aber scheint die Verbindung zwischen beiden Bereichen die zu sein, dass die Verfasserin die »Intuition« der »Profiler« in eine elaborierte, mit machtvoller Autorität auftretende (Saussure, Luhmann usw.) Zeichentheorie transferiert, besser: übersetzt. Mord wird semiotisch – und mit Luhmann (!; S. 263) – als kommunikativer Akt verstanden, der »Täter als Erzähler« 3 .

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Thomas sieht also die Taten eines Serienmörders, so erschließt es sich aus ihrem mehr assoziativen denn pointierten Beitrag, als kommunikative Akte. Die Schwierigkeit beim Serienmord bestünde nun darin, Zeichen entschlüsseln zu müssen, die kaum einem sozial ausgehandelten Kode, der den Deutungsrahmen von Handlungen liefert, zugeordnet werden können. Mir scheint jedoch, dass mit der Anwendung der Semiotik auf Serienmord kein Erklärungsmodell für Ursachen und Motive der Taten bereit gestellt wird, sondern dass diese Anwendung vor allem den hermeneutischen Zwang zur zirkulären Sinnbildung offen legt, da der Versuch, die dunklen Zeichen der Tat zu entziffern, lediglich eine einseitige Zuordnung des Zeichens zu einem bereits bekannten kulturellen Code darstellt – dem nämlich der Ermittler, dem der »Normalgesellschaft«. Das »Profiling« wäre demnach ein Akt der Normalisierung 4 und der normorientierte Blick dieser Praktik damit offen gelegt. Die Anwendung der Semiotik auf den Serienmord liefert also eher eine Erklärung dafür, warum wir Serienmord nicht verstehen. Anders formuliert: An dieser Stelle zeigt sich, dass die Kriminologie vielleicht gar nichts anderes ist als eine Kulturwissenschaft, und die Kriminalistik eine entsprechende kulturelle Praktik.

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»Symbole«?

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Als erstes ein Wort zum Titel von »Kulturwissenschaften I«: Er lautet »Die kalte Muse. Serielles Töten als sozialkulturelles Phänomen der Moderne«. Das ist genau eine jener Einschränkungen, die auf eine unterliegende eingeschränkte Perspektive lebensweltlicher Herkunft verweisen: Der Blick ist auf »die Moderne« gerichtet und die Prämisse die, dass Serienmörder und der Diskurs über sie ein Phänomen »der Moderne« seien. Viele kulturwissenschaftliche Beiträge auch in diesem Band lassen sich in ihren Deutungen überhaupt erst angemessen verstehen, wenn man dieser unhinterfragten Prämisse bereitwillig folgt. Dann mischt sich in durchaus plausible Darstellungen »moderner« Repräsentationen von Serienmord (gerade der künstlerischen Repräsentationen; Hoffmann-Curtius, Müller-Ebeling) ein irgendwie vertrautes Bild der latenten Überforderung des Einzelnen in der anonymen Massenkonsumgesellschaft, eine Vorstellung einer nach Akkord getakteten Leistungsorientierung ohne Blick für die Außenseiter – die Mutmaßung, dass in einer sorgenden Gemeinschaft vormoderner idyllischer Art Gewalt und Phantasien nicht so aus dem Ruder gelaufen wären. Letztlich entsteht vielleicht sogar ein Gefühl von Verständnis für denjenigen, der durch seine Taten in dieser kalten »Moderne« Öffentlichkeit sucht und Befriedigung fehlgeleiteter Bedürfnisse findet. Der Psychologismus, der sich durch eine Reihe von Beiträgen in diesem Band zieht, findet in dieser Prämisse eine soziologistische Entsprechung. Und doch fragt man sich, warum es denn, wenn die »Moderne« das Phänomen des Serienmords und seine Erscheinungsformen erst generiert, nicht mehr Serienmörder gibt. Oder sind die Zahlen der vermeintlich aktiven Serienmörder deshalb so hoch, weil nur dies im Einklang mit dieser kulturkritischen Perspektive steht? Ganz grundsätzlich also ist am Diskurs über Serienmord, gleich welcher Ausrichtung, die fehlende Hinterfragung lebensweltlicher Vorannahmen zu bemängeln. Hier hätte auch eine Gesamteinleitung einen kritischen Blick auf den Zustand der Serienmord-Forschung werfen können, was jedoch leider unterblieben ist.

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Wenn es also schon nicht gelingen wollte, die beiden Disziplinen produktiv aufeinander zu beziehen, so hätten wenigstens die jeweiligen Sektionseinleitungen steuernd eingreifen können. Analog zu Robertz’ gelungener Zusammenschau der kriminalistisch-kriminologischen Serienmord-Forschung soll Alexandra Thomas’ Beitrag in die kulturwissenschaftlichen Sektionen einführen. In ihrem Aufsatz »Serienmord als Gegenstand der Kulturwissenschaften« erhält man jedoch leider eben das gerade nicht, nämlich die Einordnung von »Serienmord« in das Panorama kulturwissenschaftlicher Erörterungen. Es reicht nicht aus, dass eine Einführung zum Thema der Aufgabe nachkommt, »weite Teile einer bisher noch nicht existierenden Landkarte zu umreißen« (Thomas, S. 255), denn welche Bereiche eine weitere Untersuchung lohnen würden, wird nicht angesprochen, sondern allein die übliche Konzentration historischer und literaturwissenschaftlicher Analysen auf die Medienrepräsentationen spektakulärer Kriminalfälle kritisiert. Höchst fokussiert auf die Semiotik vermag es dieser »Streifzug durch das Reich der Zeichen, Mythen und Diskurse« (S. 253) weder, die Breite der kulturellen Repräsentationen des Gegenstandes noch die der kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit diesen Repräsentationen darzulegen.

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Deshalb fehlt auch jeder Bezug auf die Beiträge der kulturwissenschaftlichen Sektionen, von denen manche eine Eintragung in die »Landkarte« des Forschungsfelds verdient hätten. So leistet etwa Michael Schetsches Beitrag eine Historisierung des Trieb-Konzepts und bringt damit eine neue, kritische Perspektive auf Deutungen von »Lustmord« ein: »›Lustmord‹ ist eine Erklärung für ein Handeln, das [tote], vielleicht noch in auffälliger Weise zugerichtete Körper hervorbringt. Durch das Deutungsmuster wird sowohl das Handeln selbst, als auch das ihm zugeordnete Motiv als sexuell definiert« (Schetsche, S. 358). Auch Michael Fischers Untersuchung der Haarmann-Protokolle unter der Perspektive der »no-fault-responsibility« ringt dem bereits breit interpretierten Fall neue Facetten ab, verspielt allerdings wegen einer gelegentlich fehlenden analytischen Distanz zum Gegenstand manche weiter führende Schlussfolgerung. Ebenfalls anregend ist Beate Kramers Interpretation des Serienmörders als »autonomen Einzigen« ausgefallen: Unter Bezug auf Max Stirners Konzept des individuellen Anarchismus (1844) entwickelt Kramer ein Bild vom Serienmörder als einem Menschen, der – aus sich heraus – ausdrücklich und in vollem Bewusstsein seiner Einzigartigkeit gegen die Normativität handelt. Serienmord wird hier nicht auf frühkindliche Traumata zurückgeführt, sondern auf Entscheidungen des Täters, habitualisiere dieser doch seine Phantasien und deren Personifizierungen, setze sie im Unterschied zu seiner nicht-kriminellen Umgebung absolut und löse sich von den gesellschaftlichen Regeln und den zu erwartenden Sanktionen, um deren Existenz er jedoch sehr wohl wisse (Kramer, S. 392 f.). Zu nennen sind zudem die beiden medien- und diskurskritischen Beiträge von Klaus Bartels und Joachim Linder. Beide fragen nach der Thematisierung kriminalistischer und kriminologischer Modelle in den (Massen-)Medien und legen den Inszenierungs- und Konstruktionscharakter dieser Übertragungen offen.

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Der Nachvollzug einiger anderer Schlussfolgerungen fällt dagegen schwerer. Etwa, wenn bedauernd konstatiert wird, dass sich das Phänomen Serienmord nicht ein für alle mal verbannen ließe; aber nicht weil, wie viele glaubten, Serienkiller inzwischen als selbstversicherndes Feindbild ein unverzichtbarer Teil der Kulturindustrie geworden seien. In einem rasanten Wechsel der Referenz wird dann der ikonische Gehalt des Serienmörders mit dem der Sowjetunion verglichen und argumentiert, dass auch die Funktionalität »einer Inkarnation des Bösen noch lange keine Garantie dafür [ist], dass das materielle Substrat, das dieser Symbolik zugrunde liegt, nicht trotz seiner Funktionalität [...] von einem Tag auf den anderen verschwindet«. Also: »Haben Serienkiller eine Zukunft?«, wie der Autor fragt. Die »an sich erfreulichen Fortschritte im Fahndungswesen« müssten gleichwohl immer nachdenklich stimmen, werde die Fahndung doch heute als das wichtigste und effektivste Mittel angesehen, »um uns und unseren Nachfahren eine allzu leuchtende Zukunft für Serienkiller und andere Barbaren zu ersparen« (Scheerer, S. 526). Dass an dieser Stelle das Wort »Barbaren« fällt, lässt meines Erachtens auf eine außerwissenschaftliche, dafür umso lebensweltlichere Referenz schließen. Der Rezensent fragt sich hier, ob sich denn Denken und Sprechen über Serienmörder wirklich – ausdrücklich: im Kern – verändert haben seit den Tagen, als man Haarmann als »Werwolf«, Kürten als »Vampir« bezeichnete?

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Auf jeden Fall ist der Diskurs über Serienmörder prätentiöser geworden: Dem dreiseitigen Beitrag von Manuel Nüsser ist ein offensichtlich legitimatorisch-erklärendes »Vorwort« voran gestellt, das einen Beitrag eines Vertreters der »Cyberspace«-Generation ankündigt. Der Beitrag selbst ist in seiner kryptischen, banal kulturkritischen Verschraubtheit gänzlich fehl am Platz. »Wir erziehen uns selbst, mit Hilfe der Medien. Wir sind das Projekt der Medien. Wir werden für Schlagzeilen sorgen. Es ist einfach, kriminell zu werden«, wie der Autor, der Schriftsteller werden will, im Rahmen einer Art Selbsterkundung meint: »›Ich wollte nur wissen, was es für ein Gefühl ist, jemanden zu töten.‹ Ich wollte nur wissen, was es für ein Gefühl ist, darüber zu schreiben.« (alles: Nüsser, S. 407).

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Richtig ärgerlich wird es dann, wenn über die Thematisierung von Serienmord in der Popmusik räsoniert wird. Das liest sich dann wie ein Who is Who der vermeintlich anstößigen Rockmusik – Rolling Stones, Judas Priest, Alice Cooper, Marilyn Manson, Led Zeppelin – und man fühlt sich in die muffigen Zeiten der Satanismus-Vorwürfe an diese Bands versetzt; in der Tat zitiert der Autor aus Siegfried Schmidt-Joos’ Buch Sympathy for the Devil, das in den späten 70er Jahren moralinsauer vor okkulten Texten (Rückwärtsspielen von Schallplatten!) und der drohenden Verderbnis der Jugend warnte. Und wenn man dann Sätze wie den folgenden liest: »Musiker versuchen, mit der Macht des Klangs und der Worte in das Bewusstsein der Zuhörer visuelle und akustische Informationen zu projizieren, die deren Phantasien aktivieren. Und welche Phantasien werden in uns geweckt, wenn das Phänomen ›Serienmord‹ thematisiert wird?« (Kemper, S. 413), dann ist das auf der plattesten kulturkritischen Ebene ein Rückschritt in ein eigentlich überstandenes Stadium des Diskurses über Serienmord. Den Horizont von Kempers »Führung durch die Welt der mordinvolvierten Musik« macht eine weitere Passage deutlich, in der der Autor darlegt, dass Musiker über die Präsentation ihrer Person und Musik Einfluss auf die Zuhörer nehmen, um so »Macht über das Publikum zu gewinnen und Anerkennung zu erhalten. Dieses Verlangen nach Macht und die Inszenierung ihres Könnens lässt Parallelen zu den Interessen mancher Mörder erkennen.« (S. 418). Die Schlussfolgerung, dass die Thematisierung von Serienmord in Presse, Film und Liedern nur die Angst »vor diesen Menschen« aufrecht erhalte, beschließt diesen Text, dessen ausführliche und kritische Bewertung schon redaktionell hätte geleistet müssen.

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Fazit

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Eine Verschränkung von »Realien«- und »Symbol«-Diskurs leistet der Sammelband also nicht, Stärken und Schwächen der einzelnen Disziplinen und die der einzelnen Beiträge stehen, wie eingangs bereits konstatiert, nebeneinander, ohne dass man ein systematisches Bild über die kriminologische und die kulturwissenschaftliche Serienmord-Forschung erhalten hätte. Will man ein Bild bemühen, um den Band zu beschreiben, so ist es sicherlich nicht das des Steinbruchs, in dem man immer etwas findet, gleichgültig, an welcher Stelle man abträgt. Eher schon muss man unter mehr oder weniger Mühe suchen, um zu finden, wofür man gekommen ist. Am Ende also hat man ein wenig das Gefühl, dass hier eine gute Idee nicht ausgereizt und damit eine Chance zur transdisziplinären Zusammenarbeit leider nicht genutzt wurde.



Anmerkungen

Klaus Bartels über Philip L. Simpson: Psycho Paths. Tracking the Serial Killer through contemporary American Film and Fiction. Southern Illinoise, UP 2000. In: IASLonline, URL: http://www.iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/bartels.html (12.03.2002).   zurück
Joachim Linder über Karl Juhnke: Das Erzählmotiv des Serienmörders im Spielfilm. Wiesbaden 2001. In: IASLonline, URL: http://www.iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/linder.html (26.05.2002).   zurück
Vgl. die gleichnamige Monographie: Alexandra Thomas: Der Täter als Erzähler. Serienmord als semiotisches Konstrukt. Hamburg u.a. 2003. Vgl. dazu auch Kerstin Brückwehs Rezension in: IASL online, URL: http://iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/brueckweh.html (24.07.2003).   zurück
Vgl. Jürgen Link: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. 2. Aufl. Opladen 1999.   zurück