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»Die Wissenschaftsgläubigkeit, nicht der wissenschaftliche Fortschritt war die treibende Kraft hinter der 'Rationalisierung' des Strafens«

  • Christian Müller: Verbrechensbekämpfung im Anstaltsstaat. Psychiatrie, Kriminologie und Strafrechtsform in Deutschland1871-1933. (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 160) Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004. 337 S. 2 Abb. Kartoniert. EUR (D) 38,90.
    ISBN: 3-525-35141-0.
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Christian Müllers Buch über die Verbrechensbekämpfung im Anstaltsstaat zwischen 1871 und 1933 ist ein weiterer Mosaikstein, der sich an einer wichtigen Stelle in die Forschung zur Kriminologiegeschichte einpasst, nachdem in den letzten fünf Jahren bereits eine ganze Reihe Publikationen zum Thema erschienen sind. 1 Müllers Studie unterscheidet sich von diesen Publikationen aber durch zweierlei: Zum einen will er keine »Gesamtgeschichte der Kriminologie mit ihren praktischen Anwendungsbezügen oder des Strafvollzugs einschließlich der auf ihn einwirkenden ideologisch-wissenschaftlichen Einflüsse« liefern; ihm geht es um die Schnittflächen zwischen psychiatrisch-kriminologischer Wissenschaft und der Praxis des Strafsystems, also um die Verflechtung von Wissenschaft, Bürokratie und Rechtsnormen bei der Verbrechensbekämpfung (S. 17). Daraus ergibt sich zum anderen, dass hier keine Disziplinen- bzw. Diskursgeschichte vorliegt, sondern der Versuch, den kriminologischen Diskurs und die Straf- und Strafverwaltungspraxis aufeinander zu beziehen, also die Problemwahrnehmungs- und Problemlösungsstrategien von Psychiatrie und Kriminologie und ihre Bezüge zu Anstaltspraxis, Strafrechtsreform, Bürokratie und Strafvollzug im Rahmen des rational-bürokratischen Anstaltsstaats darzustellen (S. 12).

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Nun sind solche Versuche der Verschränkung von »Diskurs« und »Praxis« schon oft postuliert und beinahe ebenso oft gar nicht oder nur in Ansätzen dann auch verwirklicht worden, so dass man gleichsam reflexartig einen solchen Anspruch einer genaueren Prüfung unterzieht. Und diese Prüfung ergibt: Müller ist es – vor allem aufgrund der intensiven Auswertung sowohl der zeitgenössischen Literatur als auch einschlägiger archivalischer Quellen – über weiteste Strecken tatsächlich gelungen, diesen Anspruch einzulösen.

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Und dies nicht zuletzt deshalb, weil er, ausgehend vom Konzept der Medikalisierung von Kriminalität, dieses nicht ausschließlich als diskursives Ereignis im Sinne einer Rezeption medizinisch-psychiatrischer Modelle in Kriminologie und Strafrechtswissenschaft versteht. Vielmehr ist Medikalisierung von Kriminalität hier immer auch Teil einer Gesellschaftspraktik, die als »Verwissenschaftlichung des Sozialen« (Lutz Raphael) nicht nur den wissenschaftlichen Diskurs betrifft, sondern eben auch die gesellschaftliche Praxis. Medikalisierung von Kriminalität hat für Müller entsprechend drei Dimensionen, die den Blick der Untersuchung immer wieder auf dieses »Praktische« richten: Professionalisierung, Sozialdisziplinierung, Rationalisierung. Aus dieser Trias entwickelt Müller entsprechende Fragestellungen, nämlich ob erstens das Engagement vor allem der Psychiater in den Debatten um die Reform des Strafrechts Ausdruck einer Professionalisierungsstrategie war, ob zweitens das Eindringen medizinisch-biologischer Modelle in Kriminologie und Strafrechtspflege auch die Perfektionierung von Herrschaftstechniken, also eine verstärkte Sozialdisziplinierung zur Folge hatte und ob drittens die Strafrechtsreform eine Rationalisierung der Verbrechensbekämpfung vor dem Hintergrund einer utilitaristischen Gesellschaftssteuerung mit sich brachte (S. 20 f.).

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Die Gliederung ist chronologisch, Teil A deckt die Zeit des Deutschen Kaiserreichs, Teil B die der Weimarer Republik und Teil C – als Ausblick – die des Nationalsozialismus ab. In einer klar und übersichtlich gegliederten, logischen Struktur werden die Fragestellungen abgearbeitet.

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Kaiserreich

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Im Teil zum Kaiserreich nimmt Müller die »Gestaltungsansprüche der Psychiatrie« in den Blick. Dabei stellt er zunächst Rolle und Bedeutung der forensischen Psychiatrie und psychiatrischer Kriminalitätsmodelle bei der Entstehung der Kriminologie dar. Mit der forensischen Gutachtertätigkeit war die Psychiatrie im Zuge der Debatte um Willensfreiheit und Zurechnungsfähigkeit zu großer Bedeutung gelangt; Müller widmet Ablauf und rechtlichen Regelungen den entsprechenden Raum. Er stellt heraus:

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Die forensisch-psychiatrische Gutachtertätigkeit bildete das Erfahrungsfeld, auf dessen Grundlage sich um die Jahrhundertwende eine empirisch-naturwissenschaftliche Kriminologie ausbildete. (S. 43)
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Die Darstellung der psychiatrischen Deutungen von Kriminalität und entsprechender Ursachenforschung macht dann einen umfangreichen und äußerst lesenswerten Teil dieses Kapitels aus. Der Verfasser kann zeigen, wie die dabei entwickelten Bilder vom Verbrecher, die vor allem auf die Pathologie des »verhinderten Menschen« (Peter Becker) zielten, die Kriminologie in Richtung einer täterzentrierten Perspektive beeinflussten.

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Ein zweites Kapitel beschäftigt sich mit »Anstaltspsychiatrie und Strafvollzug«, genauer gesagt mit der Unterscheidung von »irren Verbrechern« und »verbrecherischen Irren« und der Frage, in welcher Anstalt welche Gruppe jeweils zu verwahren sei. Hier hat Müller vor allem die Verwaltungs- und die legislative Ebene und das entsprechende Kompetenz- und Zuständigkeitsgerangel im Blick. Er stellt auf breiter Quellenbasis eine Problematik dar, die in den veränderten Verbrecherbildern und einer Neubewertung von »Abweichung« einen Ursprung hatte, in der Praxis der Unterbringung jedoch einen ganz handfesten Regelungsbedarf mit sich brachte. Weder die Angliederung spezieller Stationen an den jeweiligen Anstalten noch ein – gescheitertes –»Irrengesetz« führte zu einer Lösung; im Effekt aber habe es, so Müller, die juristische und die psychiatrische Profession näher zusammen gebracht. Mit Auswirkungen auch auf die Strafrechtsreformdebatte, »[d]enn das Bestreben der Psychiatrie, ihre Definitionsmacht auszuweiten und größere Entscheidungskompetenz in der Unterbringungsfrage zu erlangen«, habe sich dort fortgesetzt, ohne, dass dem entsprechender Erfolg beschieden gewesen sei (S. 123 f.).

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Das dritte Kapitel des ersten Teils zum Kaiserreich hat dann die Bedeutung der Psychiatrie für eben diese Strafrechtsreform zum Gegenstand. In den Mittelpunkt stellt Müller dabei vor allem den »Schulen-Streit« der so genannten »modernen Schule« im Gefolge Franz von Liszts mit den so genannten »Klassikern«. Müller zeigt, dass das gängige Bild dieser Opposition von »moderner« und »klassischer Schule« nach ihrer positiven respektive ablehnenden Haltung den Erfahrungswissenschaften gegenüber zu hinterfragen ist, dass die Wirklichkeit keineswegs so dichotomisch war, wie in der Forschung oft angenommen wird; den Eindruck einer solchen Dichotomie führt Müller vielmehr auf eine Selbststilisierung der jeweiligen Schulen zurück. In der Reaktion auf die von außen an das Strafrecht herangetragene Medikalisierung des Strafsystems, die vor allem den Anstieg des vorgeblich »degenerierten« Gewohnheitsverbrechertums aufzeigte, seien sich beide Schulen vielmehr einig gewesen: Beide forderten eine Ergänzung des tradierten Strafrechts um sichernde Maßnahmen (S. 158).

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Auf diesem »Minimalkonsens« (S. 159) schien um 1900 die Zeit für eine Strafrechtsreform günstig. Mit Blick auf die Entwicklung bis zum Entwurf eines Strafgesetzbuches von 1913 könne jedoch, so konstatiert Müller, von einer Medikalisierung des Strafsystems, wie von interessierter psychiatrischer Seite gefordert, keine Rede sein; deren Bemühungen hätten zwar langfristig zu einer Rationalisierung des Strafens beigetragen, in professionspolitischer Hinsicht wären sie jedoch weitestgehend wirkungslos geblieben (S. 168).

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Weimarer Republik

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Teil B ist der Zeit der Weimarer Republik gewidmet. Müller beginnt mit den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs und ihrem Einfluss auf die Wahrnehmung von Kriminalität. Mit der Rolle der Nachkriegs-Eugenik und dem unbestimmten, durch den Anstieg von Kriminalität in der Nachkriegszeit ausgelösten Bedrohungsgefühl nimmt Müller zwei zentrale Aspekte in den Blick. Allerdings: Mit nur neun Textseiten erhält diese strafpolitische Scharnierstelle meines Erachtens zu wenig Raum. Die Verflechtung von Wissenschaft und Praxis ließe sich wahrscheinlich gerade hier gut untersuchen, brachte doch der Erste Weltkrieg und die spezifische Kriegs- und Nachkriegskriminalität gängige biologistisch-medizinische Verbrecherbilder zunächst ins Wanken, um dann zu einer Stärkung des Resozialisierungsgedankens einerseits, zur Forderung nach verschärften Sicherungsmaßnahmen andererseits zu führen. Eine intensive Auseinandersetzung mit diesem wichtigen Zusammenhang, die zugleich Aspekte wie Erfahrungsbruch, Denkkontinuität und -verschärfung in der Beschäftigung mit Kriminalität bzw. Verbrechern in den Blick nimmt, bleibt vorerst ein Desiderat der Forschung.

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In einem zweiten Schritt stellt Müller auf breitem Raum Stationen der politischen Auseinandersetzung um die Strafrechtsreform dar. In der Tat ist der Verlauf der Reformdebatte unter historischen Gesichtspunkten bisher systematisch gesehen noch unterbelichtet geblieben. Müller will die psychiatrischen Wurzeln der Strafrechtsreform aufzeigen, macht jedoch zu Beginn des Kapitels auch deutlich, dass die Reformdebatte sich verlagert habe und damit diese Wurzeln nur noch mittelbar aufwies. Diese Verlagerung weg von einer Diskussion unter forensischen und juristischen Experten hin zu einer öffentlich-politischen Debatte läge darin begründet, dass einerseits die Grundzüge einer Rationalisierung des Strafens bereits in der Vorkriegszeit ausgehandelt worden wären und damit die Einflussnahme der Psychiatrie ohnehin bereits zugunsten der Juristen zurückgetreten sei, dass andererseits die politische Durchsetzung eines Strafgesetzbuches vor allem auf parteipolitischen Diskussionen im Parlament beruhten (S. 180). Entsprechend werden diese Diskussionen bis zum letzten Entwurf von 1930 nachvollzogen, ohne dass immer Bezug auf die Verflechtung von Wissenschaft, Bürokratie und Rechtsnormen genommen werden würde. Hier entfernt sich die Studie zwangsläufig etwas von dem übergeordneten Ziel, »die Praxis« in ihrem Verhältnis zur psychiatrischen »Bezugswissenschaft« in den Vordergrund zu stellen.

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Ein drittes Kapitel schließlich hat dann wieder eben dies im Blick, genauer gesagt den Strafvollzug und hier vor allem die Praxis des Stufenstrafvollzugs und die damit zusammenhängende kriminalbiologische Untersuchung. Müller versteht den Strafvollzug in der Weimarer Zeit als »Experimentierfeld der Kriminalpolitik«, was aufgrund einer fehlenden reichseinheitlichen Regelung sicherlich zutreffend ist. Im Zuge dieser Gestaltungsfreiheit etablierte Bayern – in einer Vorreiterrolle – im Jahr 1921 den so genannten Stufenstrafvollzug als »Erziehungsstrafvollzug«, um »Besserungsfähige« zu resozialisieren; »Unverbesserliche« hingegen wurden pädagogisch aufgegeben und hatten ihre Strafe ohne Vergünstigungen abzusitzen.

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Neben der Organisation des Stufenstrafvollzugs untersucht Müller auch die 1923 auf Betreiben des Straubinger Gefängnisarztes Theodor Viernstein in bayerischen Gefängnissen eingeführte kriminalbiologische Untersuchung. Hier weist er ganz zutreffend nach, dass sich kriminalbiologische Untersuchung und Stufenstrafvollzug wechselseitig beeinträchtigten und die propagierten Ziele (Bestimmung der Besserungsfähigkeit einerseits, Resozialisierung andererseits) nicht erfüllt worden sind. Gleichwohl – und das gilt es bei der Beurteilung der kriminalbiologischen Untersuchung immer zu bedenken – stellte sie trotz ihrer fragwürdigen wissenschaftlichen und strafvollzuglichen Folgen und trotz aller Kritik die aus damaliger Sicht erfolgreichste Version eines Persönlichkeitstest von Gefangenen dar; sie wurde immerhin 22 Jahre lang und nach 1933 auch reichsweit durchgeführt.

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Nationalsozialismus

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Ein kurzes Kapitel über das Verhältnis von Kriminalbiologie und Strafrechtslehre schließt den Teil zur Weimarer Republik, leitet aber zum letzten Teil C über die Zeit des Nationalsozialismus hin mit der Feststellung, dass die Rezeption der Kriminalbiologie die Überwindung des Schulenstreits vorbereitet habe, der sich bald »im Geiste des Nationalsozialismus« vollziehen sollte (S. 271). Dieser dritte Teil liefert einen Ausblick auf die Strafrechtspolitik im »Dritten Reich«. Dieser Ausblick ist bewusst als »Nachspann« angelegt (S. 273 f.), wohl auch deshalb, weil der Autor bereits mit einer Monographie über das so genannte »Gewohnheitsverbrechergesetz« vom 24. November 1933 hervorgetreten ist. 2 Hauptsächlich dessen Vorgeschichte und Durchsetzung wird in diesem Teil nachvollzogen.

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In der Schlussbetrachtung fasst Müller noch einmal seine Ergebnisse zusammen. Bezüglich der Professionalisierungsbestrebungen der Psychiatrie hält er zunächst fest, dass sich das Engagement der Psychiater und Ärzte auf wissenschaftlicher Ebene in der Entstehung der Kriminal-Psychopathologie und der Kriminalbiologie geäußert habe. Zudem macht er deutlich, dass ihre Verklammerung mit der Strafrechtspflege nicht ökonomischen Interessen gefolgt sei, sondern vor allem das Image der Psychiater habe verbessern sollen: Dem Vorwurf ausgesetzt, Verbrecher durch Zuschreibung von Unzurechnungsfähigkeit einer Bestrafung zu entziehen, sollte die Voraussetzung der Strafe nicht mehr die Schuldfähigkeit eines Verbrechers sein, sondern seine Gefährlichkeit. Mehr Definitionsmacht hinsichtlich dieser Gefährlichkeit aber habe für die Psychiater bedeutet, »gefährliche Verbrecher« in das Gefängnis hinein zu bringen und von der eigenen Heilanstalt fern zu halten.

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Solche Bestrebungen seien jedoch hinsichtlich der Strafrechtsreformdebatte nicht von Erfolg gekrönt gewesen. Diese versteht Müller als eine doppelte »defensive Modernisierung«, habe sich doch einerseits die »moderne Schule« auf eine utilitaristisch-rationale Neudefinition von Strafe eingelassen, um »juristische Methoden und Kompetenzen gegen psychiatrische Anfechtungen zu verteidigen«, und andererseits die »klassische Schule« auf Sicherungsmaßregeln, um das Vergeltungsstrafrecht im Allgemeinen zu erhalten (S. 293). Beides habe dazu geführt, dass die Psychiatrie keinen nennenswerten Einfluss auf die Strafrechtsreform gewinnen konnte; vor allem die Frage nach der forensischen Definitionshoheit sei in den Entwürfen zugunsten des Gerichts geregelt gewesen.

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Die zweite zentrale Fragestellung, jene zu den sozialdisziplinierenden Effekten der modernisierten Strafpolitik, beantwortet Müller meines Erachtens etwas einseitig: Bei der strafpolitischen Forderung nach dem Schutz der Herrschafts- und Besitzordnung seien sich alle Reform-Gruppierungen einig und der Repressionscharakter der präventiven Maßregeln unstrittig gewesen – man könne in der fraglichen, offen repressiven Kriminalpolitik daher keine »humanitär verbrämte Sozialdisziplinierung« sehen. Dies mag, blickt man allein auf die »Geburt der Sicherungsverwahrung« (S. 293), zwar zutreffend sein, greift meines Erachtens jedoch zu kurz: Besserung und Sicherung waren vielleicht doch zwei Seiten einer Medaille, wie Müller selbst anmerkt. Der analytische Blick geht hier vor allem deshalb auf die Sicherungsverwahrung, weil diese im Rahmen der psychiatrischen Forderungen und des »Schulenstreits« von Bedeutung war; ein Nachteil vielleicht des Medikalisierungsmodells, das andere, nicht-medizinische Strömungen tendenziell aus den Augen verliert.

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Im Effekt ähnlich ist die Perspektive auf die kriminalbiologische Untersuchung, die recht einseitig auf die Seite der Medikalisierung bzw. »(Erb-)Biologisierung« geschlagen wird:

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[D]ie administrative Vorgabe, den Sühnecharakter der Strafe zu betonen und erzieherische Maßnahmen von vornherein auf ›besserungsfähige‹ Gefangene zu beschränken, und die Suche nach den erbbiologischen Wurzeln der Kriminalität gingen eine Symbiose ein, die letztlich statt Erziehungserfolgen nur noch ›Unverbesserlichkeit‹ produzierte. (S. 297 f.)
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Dieser Automatismus – plausibel aufgrund der nicht untersuchten Prämisse, die theoretischen Ausführungen Viernsteins zur Rolle der Erbbiologie hätten auch in der Praxis eine unmittelbare Entsprechung gehabt – lässt sich in den Untersuchungsakten der kriminalbiologischen Untersuchung jedoch nicht nachweisen.

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Eine wichtige Facette in der Deutung der Strafrechtsreform liefert Müller, indem er vor dem Hintergrund der dritten Fragestellung zur Rationalisierung der Kriminalitätsbekämpfung in der Reform auch den Versuch sieht, das Kompetenz-Chaos im »Krieg gegen das Verbrechertum« aufzulösen (S. 298 f.). Nicht zuletzt aber sollte, so Müller, eine Reform, die das Strafmaß nach der Gefährlichkeit eines Verbrechers und nach seiner Besserungsfähigkeit ausrichtete, der Untergrabung des traditionellen Schuldprinzips durch Unzurechnungsfähigkeits-Expertisen entgegenwirken: War im kommenden Strafrecht nicht mehr vergangene Schuld, sondern zukünftige Gefährlichkeit bei der Beurteilung ausschlaggebend, so galt es für die Experten, bei bleibender Schuldfähigkeit eine wissenschaftlich fundierte Prognose über das künftige Verhalten eines Verbrechers zu stellen. Zum Begriff der »Gefährlichkeit« ist anzumerken, dass ihm – obwohl sowohl in der Debatte als auch im kriminologischen Diskurs von einiger Bedeutung – in Müllers Studie nur wenig systematischer Raum gewidmet wird; hier wäre »etwas mehr Diskurs« durchaus angebracht gewesen.

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Der Einfluss der (Natur-)Wissenschaft auf die Kriminalpolitik war also vor allem der, dass ihr zugetraut wurde, die selbst identifizierten Probleme – nämlich ein kontinuierliches und bedrohliches Ansteigen der Kriminalität rückfälliger, in der zeitgenössischen Diktion »gefährlicher Verbrecher« – trotzdem noch in einem strafrechtlichen Sinne lösen zu können, ohne diese Verbrecher als »Unzurechnungsfähige« zu entschulden. Dies stellt, blickt man auf den institutionalisierten, bürokratisierten Strafapparat (z.B. eben auch der kriminalbiologischen Untersuchung), zweifellos eine Form der Rationalisierung des Strafens dar. Jedoch, und hier ist Müller nur zuzustimmen:

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Immer wieder wurde die Kluft zwischen den verwaltungspraktischen Anforderungen an die medizinischen ›Experten‹ und den realen Erkenntnismöglichkeiten durch den Kredit überbrückt, den die Naturwissenschaft im Zeitalter der Klassischen Moderne genoss. Die Wissenschaftsgläubigkeit, nicht der wissenschaftliche Fortschritt war die treibende Kraft hinter der ›Rationalisierung‹ des Strafens. (S. 299).
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Entsprechend stellt Müller die vor-wissenschaftlichen Bedürfnisse heraus, an denen Kriminalpolitik ausgerichtet wurde, vor allem an den Strafzwecken »Besserung« und »Sicherung«. Diesen nun wurden bestimmte Tätertypen gleichsam künstlich zugeordnet, an denen wiederum erst die kriminologische Forschung ansetzte, »die sich nun an den bürokratisch-justiziell vorsortierten Tätergruppen orientierte« und in der Praxis der Gefängnisse diese Typen bestätigt fand: »Die ›Rationalisierung‹ des Strafens erweist sich insgesamt als ein einziger großer Zirkelschluss.« (S. 301).

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Fazit

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Dies nun leistet der Blick auf »die Praxis«, hier liegt nun ein, wenn nicht der Vorteil dieses Blicks gegenüber einer reinen Diskursgeschichte: Er kehrt die Perspektive um und legt die vorgängigen gesellschaftspolitischen Problemlösungsbedürfnisse von Wissenschaft offen. Diesen Blick auf die Straf- und Kriminologiegeschichte angewendet zu haben, ist das Verdienst dieser überaus anregenden und gut geschriebenen Studie.



Anmerkungen

Richard Wetzell: Inventing the Criminal. A History of German Criminology, 1880–1945. Chapel Hill 2000; Jürgen Simon: Kriminalbiologie und Zwangssterilisation. Eugenischer Rassismus 1920–1945. Göttingen 2000; Peter Becker: Verderbnis und Entartung. Eine Geschichte der Kriminologie des 19. Jahrhunderts als Diskurs und Praxis. Göttingen 2002; Karsten Uhl: Das »verbrecherische Weib«. Geschlecht, Verbrechen und Strafen im kriminologischen Diskurs 1800–1945. Münster u.a. 2003; Silviana Galassi: Kriminologie im Deutschen Kaiserreich. Geschichte einer gebrochenen Verwissenschaftlichung. Stuttgart 2004; Ylva Greve: Verbrechen und Krankheit. Die Entdeckung der »Criminalpsychologie« im 19. Jahrhundert. Köln u.a. 2004.   zurück
Christian Müller: Das Gewohnheitsverbrechergesetz vom 24. November 1933. Kriminalpolitik als Rassenpolitik. Baden-Baden 1995.   zurück