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Der Mechaniker am Räderwerk der Seele

Schillers psychologische Gestaltung seiner Dramenfiguren

  • Lothar Pikulik: Der Dramatiker als Psychologe. Figur und Zuschauer in Schillers Dramen und Dramentheorie. Paderborn: mentis 2004. 347 S. Kartoniert. EUR (D) 38,00.
    ISBN: 3-89785-239-X.
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Wie Volker Hage bereits Ende des letzten Jahres prophezeite, werde das Schillerjahr 2005 »eine kleine Buchindustrie in Gang« setzen. 1 Daß sich diese Prognose als zutreffend erwiesen hat, ist im Grunde keine wirkliche Überraschung. Dabei ist neben einer beinahe unüberschaubaren Menge an populären bis trivialen Schriften zu Friedrich Schiller auch eine bedeutende Zahl wissenschaftlich fundierter Sammelbände und Studien erschienen, in denen das Werk Friedrich Schillers neu gesichtet, analysiert und interpretiert wird. In diese Reihe gehört die vorliegende Arbeit von Lothar Pikulik, die mit dem Aspekt der Psychologie nicht nur einen fruchtbaren Zugang zum dramatischen Œuvre Schillers wiederentdeckt hat. Denn auf Grundlage der Forschungen Wolfgang Riedels zu Schillers Anthropologie gelingt dem Autor ein Zugriff, der über eine schlichte Wiederentdeckung des Deutungsmoments der Psychologie hinausgeht. So verfolgt Pikulik eine »anthropologisch-psychologische Betrachtungsweise« (S. 17), die es ermöglicht, die Seelendynamik der Dramenfiguren Schillers präziser zu fassen und zugleich das auf den Zuschauer berechnete Wirkungskalkül näher zu bestimmen.

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Lothar Pikuliks Studie gliedert sich in drei Teile, wobei dem Mittelteil, der sich der Interpretation der einzelnen Dramen widmet, der größte Raum vorbehalten ist. Den Anfang bilden die theoretischen Grundlagen, in denen es um Schillers Kenntnis und Konzeption der menschlichen Psyche geht. Dabei wird sowohl auf den konstitutiven Einfluß der neuen Leitwissenschaft des 18. Jahrhunderts, der Anthropologie, als auch auf Schillers bisher kaum berücksichtigte Partizipation am Gedankengut der Empfindsamkeit eingegangen. Doch zwischen dem theoriegeschichtlich fundierten Menschenbild und der dramatischen Figurengestaltung bestehe kein Kongruenzverhältnis. Vielmehr erfolge hier ein »medialer Sprung« hin zur »Veranschaulichung psychischen Geschehens« (S. 11) im Drama. Die damit akzentuierte poetische Eigenständigkeit macht eine spezifische Sichtung von Schillers Dramen notwendig, die sich vor allem am Widerspruch von Autonomie und Heteronomie orientiert, den die einzelne Figur auszutragen hat (S. 11). Der dritte Teil richtet sich seinerseits auf die mit der Dramengestaltung verbundenen Wirkungskonzepte und ihre Perspektivierung auf den Zuschauer. In diesem Zusammenhang werden die auf transpoetische Vermittlung setzenden Modelle der mitleidigen Rührung und des Pathetischerhabenen in Anschlag gebracht, um die psycho- und sozialtherapeutische Funktion der Schaubühne zu begründen.

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Das knappe Forschungsreferat, das dem ersten Teil vorangestellt ist (S. 14–18), charakterisiert jene Arbeiten, in denen der Aspekt des Psychologischen bei Schiller bereits behandelt worden ist. Ein wichtiger Impulsgeber ist dabei Max Kommerell, auf dessen Studien, Schiller als Gestalter des handelnden Menschen (1934) und Schiller als Psychologe (1934 / 1935), Pikulik wiederholt rekurriert. Auch den Forschungen Wolfgang Riedels weiß sich die Arbeit »dankbar verpflichtet« (S. 16), zugleich berührt sie sich »vielfach« (S. 16) mit den Analysen Karl S. Guthkes, die in dessen Sammelband Schillers Dramen. Idealismus und Skepsis (Tübingen u.a. 1994) zu finden sind.

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Abgesehen von der Forschungsliteratur, die dem Aspekt des Psychologischen bei Schiller nachgeht, werden Monographien und Sammelbände jedoch nur einmal aufgezählt, während Aufsätze aufgrund ihrer Vielzahl gar nicht erst aufgeführt werden (S. 17 f.). Zwar ist es angesichts der umfangreichen Schiller-Bibliographien durchaus verständlich, wenn in einer Monographie nur eine Auswahlbibliographie geboten wird. Jedoch läßt die äußerst sparsame Verwendung von Nachweisen der Sekundärliteratur, die Pikuliks Studie kennzeichnet, den Leser im unklaren, inwieweit der Autor die divergierenden Forschungsmeinungen in seine Überlegungen integriert hat. So muß beispielsweise das Kapitel zur Braut von Messina gänzlich ohne Hinweise auf die Sekundärliteratur auskommen (S. 277–291), obgleich das Drama auch in jüngster Zeit Gegenstand der wissenschaftlichen Diskussion gewesen ist. 2 Im Kapitel zur Jungfrau von Orleans führt diese Praxis sogar zu dem eigenwilligen Fall, daß zweimal aus der Forschungsliteratur zu Thomas Mann zitiert wird (S. 260, Anm. 7 und 10), wohingegen die Schiller-Forschung abermals nicht zur Sprache kommt. Vielmehr begnügt sich Pikulik mit einem einzigen Hinweis auf den Kommentar der Schiller-Nationalausgabe (S. 259, Anm. 6), 3 der sich zudem auf einen Band bezieht (Bd. 9, Weimar 1948), der den neuesten Stand der Forschung nicht mehr repräsentiert.

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Der Literaturwissenschaftler
als Psychologe

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Einleitend gibt Pikulik einen Aufriß des Themenfeldes der ›Erfahrungsseelenkunde‹ im 18. Jahrhundert, um aufzuzeigen, welche Anknüpfungspunkte das psychologische Interesse Schillers in der kontemporären Theoriebildung finden konnte. Dabei stellt Wolfgang Riedels Quellenedition zu Schillers Lehrer Jacob Friedrich Abel einen nützlichen Leitfaden dar, 4 um auf Johann Georg Sulzers Differenzierung von Denken und Empfinden, letzteres verstanden als »das Andere der Vernunft« (S. 22), hinzulenken. Von aller Vernunftleitung emanzipiert, lassen sich die Empfindungen somit als »unwillkührliche Handlungen der Seele« (S. 23) begreifen. In Opposition zu den ›willkürlichen‹ Handlungen, die sich aus dem Denken ergeben, implizieren sie ein Moment der Unfreiheit, des passiven Leidens, und können daher – so Sulzer – »mit Rechte Leidenschaften genannt« (ebd.) werden.

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Ebenso wie den Dichter Schiller das Wechselspiel zwischen Denken und Empfinden interessiert, verfolgt der Mediziner Schiller die Wechselwirkung von Psyche und Soma. Am Beispiel des depressiven Mitschülers Joseph Frédéric Grammont, den der angehende Arzt Schiller zu kurieren versucht, wird deutlich, daß die medizinisch-anthropologischen Überlegungen, die Schiller in seiner Dissertation Versuch über den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen anstellt, nicht allein der theoretischen Selbstverständigung dienen. Indem die Arbeit bereits aus den noch unveröffentlichten Räubern zitiert, erfolgt überdies eine Ausweitung der Erkenntnisse auf das Gebiet der Literatur. Pikulik hebt dabei die Bedeutung hervor, die Schiller auch der Körpersprache beimißt, die als »direkter oder verschlüsselter Ausdruck der Seele« (S. 31) deren Bewegungen abbildet. Was derart unsprachlich zur Sprache kommt, verweist auf die Sphäre des »Un- oder zumindest Halbbewußten« (S. 35), auf das »›geheime Spiel‹ der Antriebskräfte« (ebd.), das der Dramatiker Schiller zu ergründen sucht. Für die einzelne Figur ergibt sich daraus ein komplexes Feld aus bewußten und unbewußten Antrieben, die ihre mentale Verfassung bestimmen. Die Handlungsentscheidung aber bleibt darüber hinaus auch von »den äußeren Umständen« (ebd.), also den Interaktionsmöglichkeiten des Individuums mit seiner Umwelt, abhängig.

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Als ausgewiesener Kenner der Empfindsamkeit nähert sich Pikulik im zweiten Abschnitt einem Thema, das in der bisherigen Forschung »vernachlässigt [worden] ist« (S. 38, Anm. 6): »Schillers Anteil an der Empfindsamkeit« (S. 37). Dazu werden zunächst ausgewählte Briefe aus der Zeit zwischen 1784 bis 1790 herangezogen, um eine »innere Disposition« (S. 40) Schillers nachzuweisen, die eine Qualifizierung als ›empfindsam‹ rechtfertigt. Zugegebenermaßen legt die Lektüre des Briefes vom 5. Mai 1784 an Wilhelm Friedrich Hermann Reinwald, in dem die »Glükseligkeit« der Selbstgenügsamkeit und der »schwärmerischen Träume« (S. 39) gepriesen wird, eine solche Lesart nahe. Auch soll unbestritten bleiben, daß sich Schiller hier des Vokabulars der Empfindsamkeit bedient. Die Frage ist nur, inwieweit ihm damit eine Partizipation an dieser Strömung tatsächlich nachzuweisen ist. Denn Pikuliks Argumentation beruht vorrangig auf der Suggestion, das Briefzitat »könnte auch im Werther stehen« (ebd.). Die »Werther-Ähnlichkeit« (S. 41) wird schließlich so weit ausgedehnt, daß potentiell sogar Schillers »kryptische Identifikation mit Werther« (ebd.) in Betracht gezogen wird. »Dies um so mehr, als der seelische und poetische Funke, der Schiller entzündete, entscheidend von Klopstock ausging, so daß er an der berühmten Stelle, wo Werther und Lotte dem Dichter der Frühlingsfeier huldigen, sich hätte miteinschließen können« (ebd.). Zwar ist es zu begrüßen, wenn auf die Bedeutung Klopstocks für den frühen Schiller hingewiesen wird – was im Hinblick auf Schillers Jugendlyrik noch hätte ausgebaut werden können –, 5 doch bleibt die Hypothese, Schiller in den Seelenbund von Werther und Lotte integrieren zu wollen, zu spekulativ. Hier betätigt sich der Literaturwissenschaftler als Psychologe.

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Schillers »Psychologische Selbsterfahrung« (S. 37) wird darüber hinaus auch auf die Freundschaftsbekundungen innerhalb des Leipzig-Dresdner Körner-Kreises bezogen. Die enthusiastisch das Thema der Freundschaft beschwörenden Briefe werden dabei als Ausdruck von »Schillers Empfindsamkeit« (S. 44) gewertet, ebenso wie die schwärmerischen Briefe, die Schiller in den Folgejahren an die Schwestern von Lengefeld richtet. Den »Schwankungen und Überspannungen seines Seelenlebens« (S. 45) will er begegnen, indem er die »rettende Therapie« (ebd.) einer Heirat ins Auge faßt. Doch indem Schillers »Veränderung der Lebensform« (ebd.) als ein Entschluß beschrieben wird, der allein aus »therapeutischen Gründen« (ebd.) erfolgt sei, wird seine Motivation, Charlotte von Lengefeld zu ehelichen, entschieden vereinseitigt. Außerdem bleibt »Schillers Empfindsamkeit« letztlich unscharf bestimmt: als »Komponente einer komplexen Verfassung, in der sie weder einseitig noch allein den Ton angibt, sondern im Verein, allerdings auch in Konkurrenz mit unterschiedlichen Richtungsvorgaben« (S. 47).

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Empfindsame Ästhetik?

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In einem weiteren Schritt ist Pikulik bestrebt, Schillers Partizipation an der Empfindsamkeit auch mit dessen ästhetischen Schriften zu vermitteln. In Perspektive auf Schillers Briefe an den Prinzen von Augustenburg wird »Empfindsamkeit als Sensibilität für das Schöne« (S. 49) definiert, gleichbedeutend mit dem Begriff des Geschmacks. Daran werde jedoch ein gegenstrebiges Wechselverhältnis offenbar, das den Geschmack kennzeichne. Zum einen sensibilisiere erst das »feine Gefühl« (ebd.) den Geschmack für das Schöne, zum anderen habe der Geschmack seinerseits die Funktion, dieses Gefühl zu verfeinern. Ziel solcher Verfeinerung ist nicht nur die Domestizierung der sinnlichen Bedürfnisse, sondern auch »die Reinigung der Gefühle von Überspanntheiten wie der Schwärmerei« (ebd.). Damit erlangt die »geläuterte Form der Empfindsamkeit« (ebd.) den Status einer »ästhetischen Bildungskraft« (S. 50).

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Auch Schillers Abhandlung Ueber naive und sentimentalische Dichtung wird als »Dokument der Empfindsamkeit« (S. 51) gelesen. Dadurch, daß Schiller das Sentimentalische vorrangig als Empfindungsweise bezeichnet – nämlich als eine, die das konkrete Verhältnis von Wirklichkeit und Ideal beschreibt –, scheint der Konnex zwischen ›sentimentalisch‹ und ›empfindsam‹ hergestellt. Im Anschluß an Schillers Unterscheidung, welche die Polarität von Idealist und Realist als »psychologischen Antagonism« charakterisiert, versucht Pikulik, die Künstlertypologie zu einer prinzipiell menschlichen Typologie zu erweitern. Die Behauptung aber, daß der »empfindsame Menschentypus dem sentimentalischen Dichtungstypus« (S. 53) entspreche, blendet dabei den spezifisch modernen Gehalt des Sentimentalischen aus, Bewußtseinsform für das verlorene Ideal harmonischer Ganzheit zu sein. Somit gerät die Konstruktion einer solchen Entsprechung in eine deutliche Schieflage. Darüber hinaus wendet sich Schiller in seiner Abhandlung sogar selbst gegen jene literarischen Produkte der Empfindsamkeit, die das »Übel der Empfindeley« (S. 57) verbreiten halfen.

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Unabhängig davon werden kurz darauf die Merkmale des Naiven und Sentimentalischen referiert, um herausstellen zu können, daß das Sentimentalische von einer »empfindsamen Reflexionsstruktur« (S. 55) geprägt sei. Gemeint ist hier das Verlustgefühl im Modus des Sentimentalischen, das einhergeht mit einem Reflexionsmechanismus, der die verlorene Einheit des Menschen erneut als anzustrebendes Ideal etabliert. Weiter führt Pikulik aus: »In diesem Zusammenhang erhebt sich das Gefühl zur Idee und wird Empfindsamkeit zum Idealismus geadelt« (S. 56). Diese Behauptung jedoch ist zumindest ungenau formuliert. Denn daß sich ein »Gefühl« direkterweise zu einer »Idee« erheben würde, läßt sich mit Schillers Ausführungen nicht belegen. Vielmehr ist nur prozeßhaft vom anfänglichen »Gefühl« zur letztlich wirkenden »Idee« zu gelangen. Voraussetzung ist dabei das Erlebnis »einer gewissen Wehmuth«, 6 die sich bei der Naturbetrachtung einstellt. Diese Verlusterfahrung wird zum Anlaß für das Aufkeimen der Vollkommenheitsidee: »Es sind nicht diese [Natur-]Gegenstände, es ist eine durch sie dargestellte Idee, was wir in ihnen lieben«. 7 Damit wird die Idee der Vollkommenheit vom Betrachter selbst in die Natur projiziert, so daß erst hier berechtigterweise von einem »Idealismus« gesprochen werden kann.

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Am Ende des Kapitels wird die Formel der »empfindsamen Reflexionsstruktur« ins »reflektierte Empfinden« (S. 59) gewendet. Vor dem Hintergrund des skizzierten Projektionsvorgangs wird das »Objektgefühl […] so zum Subjektgefühl« (S. 60). »Damit konstituiert sich die für die sentimentalische Rezeption charakteristische Struktur der vermischten Empfindung« (ebd.), die insbesondere für Fragen der ästhetischen Rezeption, die im dritten Teil der Arbeit aufgegriffen werden, von Bedeutung ist. Gedacht ist hier an die Theorie des tragischen Mitleidens sowie an die Theorie des Erhabenen, die in engem Zusammenhang mit der konkreten Figurengestaltung stehen. Und auch dafür wird die »psychologische Typologie« (S. 57) des Naiven und Sentimentalischen fruchtbar gemacht. Denn gerade der Übergang vom naiven Zustand eines unmittelbaren Weltbezugs zur sentimentalischen Selbstreflexion wird bei Schiller wiederholt in den Dramen gestaltet (Louise Millerin, Johanna von Orleans und Wilhelm Tell). 8

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Seelenstärke
mit Schattenseiten

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Ausgangspunkt ist die Feststellung, daß sowohl das Konzept des Schönen als auch das Konzept des Erhabenen die Erfahrung der Freiheit vermitteln, daß aber beide »[i]hrer Struktur und Intention nach […] unvereinbar« (S. 62) sind. Auch wenn dieses Problem zunächst nicht weiter verfolgt wird, muß doch die Frage gestellt werden, wie Schiller – insbesondere in Hinsicht auf seine Dramen – »die Fähigkeit des Menschen zur Freiheit« (ebd.) begründet. Eine Antwort gibt Pikulik, indem er auf die dem Stoizismus verpflichtete Gemütsruhe hinweist. Sofern sie nicht als Empfindungslosigkeit, sondern als »Seelenstärke« (S. 63) verstanden wird, ist sie Ausdruck eines erhabenen Selbstgefühls, das aus dem Bekanntwerden des Menschen mit der Ideenwelt resultiert. Denn im Gefühl der Freiheit wird die Emanzipation von den »Schranken der Sinnlichkeit« (S. 66) erfahren. Das bewahrt jedoch nicht vor der Konsequenz, daß »das Gefühl der Freiheit in der Erfahrung des Erhabenen […] möglicherweise nicht mehr als die psychische Kompensation der realen Unfreiheit« (ebd.) sei.

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»Seelenstärke«, die Schillers Lehrer Jacob Friedrich Abel 1777 in einer Rede detailliert behandelt, ist die ›Maßeinheit‹ der »psychischen Energie« (S. 67) des einzelnen. Der wiederholt an Schillers Figuren erkennbare Hang zur Größe geht somit »aus einem bloßen Kraftgefühl hervor« (ebd.), während hier »das Verbrechen als Mittel der Selbstbestätigung« (ebd.) dient. Als exemplarische Figuren werden die Brüder Karl und Franz Moor benannt sowie John Miltons Lucifer, der – so Schiller – den Leser, seiner »Seelenstärke wegen, mit einem Gefühl von Bewunderung« (S. 68) durchdringe. Dabei wird die ästhetische Wertung von der moralischen Betrachtung losgelöst. »Das Ideal bestünde natürlich darin, daß beides zusammen kommt: das kraftvolle und das sittliche Handeln« (ebd.), aber ein solcher rein positiver Held kann nicht Impulsgeber einer Tragödie sein. Vielmehr ist es der Verbrecher, der – wie in der Erzählung Der Verbrecher aus verlorener Ehre – ein hohes Potential an Seelenstärke besitzt. Damit setzt sich die Orientierung an einem »Heroismus« (S. 69) fort, der bereits im Sturm und Drang »eine Renaissance« (ebd.) erfahren hatte.

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»Die Sentimentalisierung des Dramas« (S. 71) im 18. Jahrhundert, die mit der Verbreitung des bürgerlichen Trauerspiel einsetzt, rückt jedoch verstärkt das Moment des Rührenden und Tränenseligen in den Vordergrund. Die damit einhergehende »Differenzierung der Charakterdarstellung« (ebd.) gestattet Schiller, sich an der psychologisch nuancierten Figurengestaltung zu orientieren, ohne die literarische Tendenz zur »Empfindeley« übernehmen zu müssen. Seine Dramenfiguren gewinnen damit die Fähigkeit zur detaillierten Introspektion: »Schillers Figuren bedenken und bereden ihre Seelenverfassung und innere Motivation häufig so offen und bestimmt, als erkennten sie selber zur Genüge, was ihr Gemüt bestimmt« (ebd.).

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Der Dramatiker Schiller will die geheimsten Bewegungen der Seele aufdecken, doch bleibt die Frage, ob deren tiefste Gründe auch erkennbar seien. Pikulik verweist hier auf Sulzer als wichtige Referenz für die Erforschung des Unbewußten, dessen Wirkmechanismen Schiller vor allem an der Figur Franz Moors exemplarisch demonstriert. 9 Hier gelingt »eine ungeheure Erweiterung des Erfahrungshorizontes«: »Die Gewißheit, etwas zu wissen, wird erweitert durch die, daß man etwas nicht weiß und daß dieses Etwas weit und unüberschaubar ist« (S. 75). Dabei beeinflussen die unbewußten psychischen Geschehnisse beziehungsweise die »›unteren‹ Seelenkräfte« (S. 86) die Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten der Dramenfiguren und forcieren ihre inneren Spannungen und Brüche (S. 79). Insbesondere bei den dramatischen Protagonisten zeigt sich dies als ein entschiedener Zug zur – sentimentalischen – Selbstreflexion, die vor allem in den Jugenddramen zur Divergenz von »Extraversion« und »Introversion« (S. 83) beiträgt, zum Konflikt von äußerem Handeln und innerem Bewußtsein.

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Die Ertappung der Seele

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Wie Pikulik in seiner Einleitung schreibt, steht »Schillers dramatisches Schaffen […] von Beginn an im Zeichen eines psychologischen Interesses« (S. 9). Zentrale Referenzstelle dafür ist Schillers Formulierung seiner »dramatischen Methode« aus der Vorrede zu den Räubern, derzufolge der Dramatiker bestrebt sein solle, »die Seele gleichsam bei ihren geheimsten Operationen zu ertappen«. 10 Damit wird das Augenmerk auf die Dramenfiguren gelenkt, die im späten 18. Jahrhundert aufgrund des Vorrangs der Charakter- vor der Handlungstragödie, den auch Jakob Michael Reinhold Lenz unterstreicht, deutlich in den Vordergrund treten (S. 89 f.). In diesem Rahmen werden Schillers Figuren als »differenzierte Individuen« und »gemischte Charakter[e]« (S. 93) kenntlich, die dem Spannungsverhältnis von Innen- und Außenwelt »mitunter so wesentlich« ausgeliefert sind, »daß das Individuum als Opfer der äußeren Umstände anmutet« (ebd.). Da Schiller seine Figuren »okkasionell« (S. 97) auf die aktuellen Situationen reagieren läßt, wird keine festgelegte Linie in ihrem Entwicklungsgang sichtbar. Das läßt Pikulik zu der eigenwilligen Behauptung kommen, Schillers Figuren würden »ein Eigenleben zu führen beginnen« (S. 99), das für den Autor nicht mehr ohne weiteres umformbar sei. Da aber Schiller seine Stücke zumeist an historischen Personen ausrichtet, sind die Figuren bereits vielfach durch geschichtliche Koordinaten vorbestimmt. Dennoch gibt ihre literarische Gestaltung genügend Raum, den »nervus rerum« der Stücke »im Inneren der Charaktere und ihrer Beziehungen zueinander« (S. 101) zu situieren.

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Im Anschluß an Pikuliks Ausführungen im Kapitel zu den »Darstellungsprinzipien« (S. 89–108) folgen die einzelnen Drameninterpretationen. Vorgestellt werden Schillers große Dramen, doch wird an keiner Stelle eine Begründung dafür geliefert, warum nur diese Stücke behandelt werden. Der Menschenfeind und Demetrius erhalten zwar kein eigenes Kapitel, werden aber immerhin noch kurz besprochen (S. 42 f., 273 f.). Dagegen finden Schillers Lustspiel Körners Vormittag, seine lyrische Operette Semele sowie die weiteren dramatischen Fragmente – abgesehen von einer summarischen Nennung (S. 14) – keine Erwähnung. Überdies verspricht Pikuliks Einführung: »Im Blickpunkt dieser Untersuchung stehen im übrigen die intertextuellen Bezüge des Schillerschen Œuvres zu Quellen, Vorbildern, verwandten Texten« (S. 17). Im Rahmen der verschiedenen Interpretationen wird dieser Anspruch jedoch allenfalls in Ansätzen eingelöst.

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Im Hinblick auf die Drameninterpretationen, die im folgenden nur in Schlaglichtern nachgezeichnet werden sollen, läßt sich zusammenfassend sagen, daß sich Pikuliks Besprechungen der Schillerschen Stücke durch detaillierte Analysen und textnahe Auslegungen auszeichnen. In ihrem Gehalt konvergieren die Ausführungen jedoch, wie anfangs auch dargelegt (S. 16), zumeist mit den Interpretationen Karl S. Guthkes oder Peter-André Alts. Dabei wird es vermieden, konträre beziehungsweise disparate Deutungsansätze gegeneinander abzuwägen. Nur in Einzelfällen kommt es zu Abgrenzungen gegen spezifische Forschungsthesen (zum Bespiel S. 116), da Pikulik zugleich bestrebt ist, auch eigene Linien durch die Dramen zu führen. Zwar läuft er mitunter Gefahr, Altbekanntes zu reformulieren, jedoch gelingen ihm, da er den Focus verstärkt auf die Psyche der Dramenfiguren richtet, präzise charakterologische Differenzierungen und Beschreibungen. Darüber hinaus endet jedes Kapitel mit einem Absatz, der auf eine Metaebene ausgreift oder ein Textdetail in einen größeren ideengeschichtlichen Zusammenhang einbindet. Das einzelne Stück wird dort im Vergleich mit den anderen Dramen gesehen, von der Binnen- wird auf die Gesamtperspektive eingeschwenkt.

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Die Jugenddramen:
Vom Bruderzwist
zum Freundschaftsbund

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Gemäß dem hohen Potential an Seelenstärke, das der Verbrecher besitze, richtet sich die Betrachtung der Räuber zunächst auf die Figur des Franz. Sein menschenverachtendes Verhalten wird – unter Rekurs auf Alfred Adlers individualpsychologische Überlegungen – als Form der Kompensation für seine »auf Grund physischer Häßlichkeit, charakterlicher Mängel und sozialer Zurücksetzung pathologisch empfundene und zum psychischen Komplex ausgewachsene Minderwertigkeit« (S. 113) gesehen. Sein Bruder Karl hingegen wird nicht schlicht mit dem Etikett des ›erhabenen Verbrechers‹ versehen. »Dazu fehlt ihm zum einen die Kaltblütigkeit, […] zum anderen die ›Naivität‹ und Gewissenlosigkeit des rigorosen Tatmenschen« (S. 124). Schematisch seien die Brüder Moor – gemäß Schillers Ästhetischen Briefen – als Verkörperungen des Wilden (Karl) und des Barbaren (Franz) vorstellbar (S. 128).

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In der Verschwörung des Fiesko zu Genua gehe es – so Pikulik – um die Demonstration, »wie sehr das Politische mit dem Privaten verquickt« (S. 133) sei. Während für eine solche Verquickung das Handeln Verrinas in Anschlag zu bringen ist, bleibt dagegen für die Hauptfigur Fiesko die Nachordnung des Privaten gegenüber dem Politischen – beziehungsweise seiner Selbstverwirklichung im Raum des Politischen – zu konstatieren. Denn ihn interessiert vorrangig sein strategischer Plan, Genua zu unterwerfen, an dem er sich als Schöpfer und Künstler berauscht (S. 135). Damit ist allerdings eine Deutungsrichtung eingeschlagen, die bereits in den frühen 1960er Jahren formuliert worden ist. 11 Doch »[m]it seiner Kraft und Größe und seinem Schöpfertum ist Fiesko zugleich als heroische und geniale Gegenfigur zu einem unheroischen und kleingeistigen Zeitalter entworfen« (S. 143).

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Ferdinand von Walter und Louise Miller dagegen sind aufgrund ihres Gegenwartsbezugs nicht als Gegenfiguren, sondern als exemplarische Figuren ihres Zeitalters konzipiert. Dabei liege der zentrale Konflikt von Kabale und Liebe »nicht eigentlich in dem Gegensatz der Stände, sondern im Antagonismus zwischen ständischem Denken und einem vom Standesbewußtsein losgelösten Gefühl« (S. 150). Diese These zielt auf die beiden Hauptakteure, die auf unterschiedliche Weise diesen »Antagonismus« auszutragen haben. Auf der einen Seite betreibt Ferdinand »nicht allein die Vergöttlichung der Liebe« (S. 156), sondern darüber hinaus die eigene »Selbstvergottung« (ebd.). In dieser Selbststeigerung nun komme, hebt Pikulik hervor, die Ambivalenz der Seelenstärke zum Ausdruck (S. 157). Denn aufgrund seines vermeintlich unumschränkten Besitzanspruches auf die Geliebte übt Ferdinand ein »subordinierendes Harmoniediktat« (S. 158) auf Louise aus. Auf der anderen Seite erfährt Louise durch den Geliebten »nichts weniger als eine Initiation in die Welt des Gefühls« (S. 163). Daraus erwächst ihre Zerrissenheit, deren Komplexität über den »dramatischen Standardkonflikt zwischen ›Pflicht und Neigung‹« (S. 165) hinausgeht.

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Im Don Karlos ist die Situation nicht nur deshalb eine grundsätzlich andere, weil Schiller erneut das Feld des historischen Dramas betritt. Vielmehr wird durch die Installation von »drei Systeme[n] des Zwangs und der Kontrolle« (S. 171), womit Pikulik den Hof, den Staat und die Kirche meint, eine Atmosphäre der »Heimlichkeit« (S. 172) geschaffen, die das Verhalten der Figuren maßgeblich prägt. Das verändert, erschwert und verkehrt bisweilen die intersubjektive Kommunikation: »Der Deutende sucht die fremde Sprache mit der Grammatik zu entziffern, die sein eigenes Empfinden strukturiert« (S. 174). In diesen Rahmen ist die brüderliche Freundschaft von Don Karlos und Marquis Posa gestellt, die insofern als politisches Bündnis gewertet wird, als sie zur Verbreitung des Humanitätsgedankens beitragen soll (S. 178). Dennoch ist beider Freundschaft eine ungleichgewichtige, da sie von im Grunde unvereinbaren Motivationen getragen wird. »Posa braucht den Freund für seine Pläne, Karlos den Marquis für seine Seele« (S. 179). Trotz der literarischen Komplexität der Titelfigur Don Karlos, die Schiller selbst in einem Brief beschreibt, liegt das Interesse doch auf dem widersprüchlichen Marquis Posa. Dessen Eigenart wiederum scheint in der Oppositionsbildung am besten erfaßbar:

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Er ist nicht nur Idealist, sondern auch Realist; ein aufgeklärter Kopf und andererseits ein Schwärmer; ein Philanthrop und Moralist und gleichwohl als Intrigant agierend; er ist offenherzig und freimütig und gibt sich wiederum rätselhaft verschlossen; er weckt Vertrauen und verrät es; er plädiert für die brüderliche Gemeinschaft der Menschen und ist selber ein Einzelgänger; er ist ein Kind seiner Zeit und auch seiner Zeit weit voraus. (S. 184)
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Die klassischen Dramen:
Vom Sternenglauben
zum Apfelschuß

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Pikuliks Bestimmung des Marquis Posa, »ein Kind seiner Zeit und auch seiner Zeit weit voraus« zu sein, könnte auch auf die Figur des Wallenstein angewendet werden. Für dessen Gestaltung reaktiviere Schiller den Typus des erhabenen Verbrechers, der zum »Verbrecher aus verlorener Freiheit« (S. 196) umgeformt werde. Gerade die historische Leerstelle, die keine eindeutigen Auskünfte über Wallensteins Handlungsantriebe zu geben vermag, bietet dem Dramatiker die Chance, »die Seele« des Protagonisten »gleichsam bey ihren verstohlensten Operationen zu ertappen« (S. 199). Doch diese »Operationen« sind zwei- oder mehrdeutig. Analog dazu sieht Wallenstein die Ambiguität nicht nur als Merkmal seines Verhaltens, sondern als Charakteristikum des Lebens schlechthin (S. 201). »Wenn er kein Verräter ist, aber […] als Verräter gilt, so zeigt sich an ihm die Zweideutigkeit von Sein und Schein. Er ist damit Paradigma einer Problematik, die sich durch Schillers gesamtes Œuvre, besonders durch seine politischen Dramen zieht« (S. 202). Wallenstein ist Opfer eines Schuldigwerdens, an dem er nahezu keine Schuld trägt. Hinter seinem zögernden Verhalten steht dabei »ein selbstreflexives, ›hamletisches‹ Bewußtsein«, das »dem modernen Typus des sentimentalischen Menschen entlehnt ist« (S. 209). Neben Wallenstein kommen bei Pikulik auch der ambivalent zu bewertende Octavio Piccolomini, die Nebenfiguren Buttler und Gordon sowie das Liebespaar Max und Thekla zur Sprache. Gerade das Verhältnis der Liebenden bilde mit dem Primat gegenseitigen Vertrauens (S. 227 f.) ein Widerlager zu den Intrigen ihrer Umwelt.

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Wie schon in seiner Wallenstein-Trilogie unterscheidet Schiller auch in der Maria Stuart »bei den höheren Chargen seiner politischen Dramen die öffentliche von der privaten Seite« (S. 232). Daß dies auf der Ebene der Königinnen mit der historischen Problemlage der ›two bodies of king‹ in direkten Zusammenhang gebracht werden kann, 12 sieht Pikulik nicht. Vielmehr geht es ihm um die Darstellung der kollidierenden Besitzansprüche beider Regentinnen sowie um die damit verbundenen, psychologisch erkundbaren Motivationen. In bezug auf Maria wird die Interpretation jedoch dort zu einseitig, wo allein die Argumente ihrer Gegenpartei ins Feld geführt werden. Denn beispielsweise wird Marias Ablehnung, den Vertrag von Edinburgh zu unterzeichnen, nur mit den Worten Paulets kommentiert (ebd.). Ihre eigentliche »Hoffnung« aber, »Zwei edle Nationen unterm Schatten | Des Ölbaums frei und fröhlich zu vereinen«, 13 bleibt dabei außer Betracht.

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In England aber wird – mit Ausnahme von Talbot – einzig Marias schuldhafte Vergangenheit gesehen und ihr damit die alleinige Verantwortung für ihre Taten zugesprochen. Damit deutet sich ein »Grundwiderspruch« an, »der sich durch Schillers Dramatik zieht […]: zwischen der Überzeugung, daß der Mensch frei und verantwortlich ist für seine Taten und sich im Falle des Vergehens durchaus schuldig wissen soll, und dem Einblick in die Bestimmung durch die inneren und äußeren Umstände, die ihn unfrei und entschuldbar erscheinen läßt« (S. 234). Im Kontrast mit ihrer Widersacherin Elisabeth, die als gefühlskalte politische Strategin in den Vordergrund tritt, bilde sich darüber hinaus ein ähnliches Figurenpaar wie in den Räubern heraus. »Maria verkörpert wie Karl die Mischung aus Edelmut und Laster, die sich in Reue und Buße wandelt, Elisabeth wie Franz die starke Seele, die sich entschließt, den Mangel an Zuwendung und Lebensgenuß durch den Willen zur Macht zu kompensieren« (S. 236).

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»Mythus plus Psychologie« (S. 253, 277) – unter dieser treffenden Formel Thomas Manns werden die folgenden zwei Dramen, Die Jungfrau von Orleans und Die Braut von Messina, subsumiert. Unter Rekurs auf die Vorrede der Braut von Messina wird die »poetische Wiederbelebung des Mythos« (S. 255) als Form der Kompensation gewertet, welche die entstandene Leere des menschlichen Lebens neu zu füllen habe. Aus »psychologischer Sicht« jedoch deute Schiller »den Mythos als seelische Projektion« (S. 260). Diese Diagnose wird im folgenden auf Johanna sowie auf die Brüder Don Manuel und Don Cesar bezogen.

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Johanna selbst wird über die Hingabe an ihre innere Welt charakterisiert (S. 264), eine Einstellung, die sie nötigt, die eigenen Empfindungen zu verdrängen beziehungsweise zu panzern. 14 Pikulik macht kenntlich, daß sie im Bewußtsein, als eine Gesandte Gottes zu agieren, alle persönlichen Bindungen abstreift. Das hat zur Konsequenz, daß sie ihre Gegner »gnadenlos und unter Verleugnung nicht nur humaner, sondern auch christlicher Grundsätze« (S. 267) bekämpft. Trotzdem sei hinter dieser Fassade ihr Gewissen nur temporär zum Schweigen gebracht. Denn in der Figur des schwarzen Ritters gewinnen ihre »geheimsten Operationen der Seele« (S. 271) drohende Gestalt. Durch die anschließende Begegnung mit Lionel erlebt Johannas naive Zuversicht einen Einbruch. Die sentimentalische Reflexion lähmt ihren Tatendrang und macht sie handlungsunfähig (S. 272). »Schiller hat aus seiner Heldin eine Figur mit einer zwiespältigen Identität gemacht, wobei sich die Doppelheit auch perspektivisch äußert. Johanna ist Mensch und bleibt es für den Nahblick auch, mutet aus der Distanz aber, die ihr Wirken schafft, als Übermensch, ja als Unmensch an« (S. 267).

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Der Rückgriff auf antike Dramenmodelle führt in der Braut von Messina zur Wiedereinführung des Chores. Seine Eigenart aber ist es bei Schiller, nicht distanzierend, sondern aktiv eingreifend aufzutreten (S. 279), »geradezu« als ein »Spiegel« (S. 280) der handelnden Personen. Auch mit der Grundanlage, ein Gegensatzpaar aus feindlichen Brüdern zu modellieren, greift Schiller auf ein bewährtes Konzept zurück, das er bereits in seinen Räubern erprobt hatte. Die Brüder Don Manuel und Don Cesar »besitzen den gleichen leidenschaftlichen Charakter. Sie hassen und lieben gleich, auch in der Weise, daß sie in Haß und Liebe auf das gleiche Objekt fixiert sind« (ebd.). Zwar lasse sich ihre Feindschaft »psychologisch« auf den »dunklen Drang […] in ihrer eigenen Brust« (S. 284) zurückführen, jedoch entspringt der Haß einem Familienfluch, so daß »die Geschwister im Lichte des Mythos als Opfer des Schicksals« (ebd.) erscheinen. Diese Selbstentzweiung der Natur, stellt Pikulik heraus, versinnbildliche überdies »den mit sich selbst zerfallenen, dem blinden Trieb hingegebenen Menschen« (S. 288).

[37] 

Im Wilhelm Tell dagegen ist auf Seiten der Schweizer von einem solchen »blinden Trieb« nichts zu spüren. Vielmehr handeln die Eidgenossen im Sinne »eines möglichst affektfreien Vorgehens« (S. 297), indem sie der willkürlichen Gewalt der Landvögte mit »Vergemeinschaftung, Selbstbeherrschung, Mäßigung« (S. 298) begegnen. Wilhelm Tell dagegen bleibt separiert, da er den Typus des naiven Menschen repräsentiert (S. 300), der in Übereinstimmung mit sich selbst lebt und handelt. Formales Kennzeichen dieses Zustands sei sein Sprechen in Sentenzen, das sich mit dem Erwachen von Tells »Bewußtheit« (S. 303) in der Apfelschußszene in ein Stammeln verkehre. Hervorzuheben ist, daß Pikulik Tells Weigerung, Gesslers Hut zu grüßen, nicht schlichtweg als Unachtsamkeit wertet, wie es in der Forschung im Anschluß an Tells eigene Aussage mehrfach geschehen ist. Inwieweit aber die Unterstellung einer »absichtsvolle[n] Unachtsamkeit« (ebd.) zu überzeugen vermag, muß dahingestellt bleiben. Schließlich gibt Tell in der sentimentalischen Reflexion seines Monologs »die geheimste Operation seiner Seele« (S. 304) preis. Mit der anschließenden Tat habe er – so Pikulik – bis zum Schluß seine private Angelegenheit verfolgt (S. 306). Diese Ansicht ist jedoch insoweit zu relativieren, als Tells direkt nach dem Gesslermord gesprochene Verse auf eine weit umfassendere Dimension zielen: »Frei sind die Hütten, sicher ist die Unschuld | Vor dir, du wirst dem Lande nicht mehr schaden«. 15

[38] 

Dramatische
Psychotherapie

[39] 

Im dritten Teil des Buches, der einen vergleichsweise kleinen Raum einnimmt, richtet Pikulik den Focus auf den »Zuschauer in der Dramentheorie« (S. 317). Damit wird das Wirkungskonzept dessen untersucht, was dramatisch als Kaleidoskop seelenstarker Protagonisten vorgeführt worden ist. In Anlehnung an Schillers Schaubühnen-Rede wird zunächst die sowohl psycho- als auch sozialtherapeutische Funktion des Theaters akzentuiert (S. 318). Dabei setzt Schiller auf die aktive Rezeptionsleistung des Zuschauers: »Hier wie auch sonst ist ihm an der ›Selbsttätigkeit‹ von Geist und Seele gelegen, und somit wird auch Zuschauen für ihn eine Art des Handelns« (S. 321).

[40] 

Um den Erfolg dieses Rezeptionsaktes zu gewährleisten, muß »die sinnliche Welt in ästhetischen Schein transformiert« (ebd.) werden, muß der »Stoff«, wie Schiller formuliert, »durch die Form vertilgt« werden. 16 Therapeutischer Zielpunkt solcher Kunst ist es, sowohl auf die Heilung der Wilden und Barbaren als auch auf die Harmonisierung des ab- und angespannten Zuschauers hinzuarbeiten. Hier stellt Pikulik, indem er darauf hinweist, daß Schiller der Kunst »eine existentielle Funktion für den Menschen zuspricht« (S. 325), eine zentrale Strukturanalogie in dessen Ästhetik heraus: »daß analog zu Stoff und Form in der Kunst ›Stofftrieb‹ (sinnlicher Trieb) und ›Formtrieb‹ (Vernunfttrieb) auch im Wesen des Menschen liegen und mit Hilfe der Kunst dazu gebracht werden können, sich zum ›Spieltrieb‹ zu vereinigen« (ebd.).

[41] 

Die therapeutisch wirkende Kunst wird an den modernen Zuschauer adressiert, den Pikulik als »sentimentalische[n] Zuschauer« (S. 328) identifiziert. Sein Gespaltensein in Ich und Welt soll die harmonisierende Wirkung des Schönen ausgleichen. Das Konzept der Rührung, das im Anschluß erläutert wird, helfe dagegen, »die emotionale Wirkung« der Rührung »in eine geistige und moralische Haltung« (S. 334) übergehen zu lassen. Diese Haltung werde durch die Wirkung des Pathetischerhabenen, die allein auf Seiten des Zuschauers Geltung erlange, noch erweitert und verfeinert (S. 340). Denn die ästhetische Erfahrung des Erhabenen, die Schiller an die Gattung der Tragödie bindet, stärkt die Autonomie des Rezipienten, indem sie ihn für die gefahrvolle Realität trainiert. 17 »Dem Zuschauer ist zugedacht, im Theater die befreiende Wirkung des Unglücks so lange und so häufig und so lange einzuüben, bis er befähigt ist, sie auch im wirklichen Leben zu erfahren. Er soll lernen, einen ästhetischen Ausnahmezustand zu einer existentiellen Regel zu machen« (S. 341).



Anmerkungen

Volker Hage: Die feurige Seele. In: Der Spiegel 41 (2004), S. 170–190, hier S. 171. Vgl. auch Wolfgang Schneider: Planet Schiller. Versuche der Neubesiedelung: die Schiller-Literatur im Jubiläumsjahr 2005. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Text + Kritik. Sonderband Friedrich Schiller. München 2005, S. 138–150.   zurück
Vgl. exemplarisch Johannes Endres: Nathan, entzaubert. Kontinuität und Diskontinuität der Aufklärung in Schillers Die Braut von Messina. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts (2000), S. 164–188; Henry W. Sullivan: The motifs of incest and fraticide in Friedrich Schiller’s The Bride of Messina and their possible Calderonian Sources. In: Conrad Kent (Hg.): The lion and the eagle. Interdisciplinary essays on German-Spanish relations over the centuries. New York 2000, S. 133–151, und neuerdings: Werner Frick: Trilogie der Kühnheit. Die Jungfrau von Orleans, Die Braut von Messina und Wilhelm Tell. In: Günter Sasse (Hg.): Schiller. Werk-Interpretationen. Heidelberg 2005, S. 136–174.   zurück
Schillers Werke. Nationalausgabe (fortan ›NA‹). 1940 begründet von Julius Petersen, fortgeführt von Lieselotte Blumenthal, Benno von Wiese, Siegfried Seidel. Hg. von Norbert Oellers. 42 Bde. Weimar 1943–2005.   zurück
Jacob Friedrich Abel: Eine Quellenedition zum Philosophieunterricht an der Stuttgarter Karlsschule (1773–1782). Mit Einleitung, Übersetzung, Kommentar und Bibliographie hg. von Wolfgang Riedel. Würzburg 1995.   zurück
Vgl. Richard Müller: Schillers lyrische Jugenddichtung in der Zeit der bewußten Nachahmung Klopstocks. Diss. Marburg 1916.   zurück
Ueber naive und sentimentalische Dichtung (NA, Bd. 20, S. 414).   zurück
Vgl. auch die tendenzielle Zweiteilung bei Carsten Zelle, der zwischen Goethes sentimentalischen und Schillers naiven Helden differenziert (Carsten Zelle: Art. ›Über naive und sentimentalische Dichtung [1795 / 96]‹. In: Matthias Luserke-Jacqui / Grit Dommes (Hg.): Schiller-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar 2005, S. 451–479, hier S. 458).   zurück
Vgl. Wolfgang Riedel: Die Aufklärung und das Unbewußte. Die Inversionen des Franz Moor. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 37 (1993), S. 198–220.   zurück
10 
Die Räuber (NA, Bd. 3, S. 5).   zurück
11 
Vgl. T. S. Conrad King: The Artist as Conspirator. A Study of Schiller’s Die Verschwörung des Fiesko zu Genua. In: American German Review 26 (1959 / 1960), H. 6, S. 28–33.   zurück
12 
Vgl. Ernst H. Kantorowicz: The king’s two bodies. A study in mediaeval political theory. Princeton 1957; Peter-André Alt: Der Tod der Königin. Frauenopfer und politische Souveränität im Trauerspiel des 17. Jahrhunderts. Berlin 2004, vgl. hierzu auch die Rezension in IASLonline: URL: http://iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/Arend3110181177_1031.html [08.11.2004]; Nikolas Immer: Die schuldig-unschuldigen Königinnen. Zur kontrastiven Gestaltung von Maria und Elisabeth in Schillers Maria Stuart. In: Euphorion 99 (2005), H. 1 / 2 (Sonderheft Schiller), S. 129–152, insbesondere S. 142–144.   zurück
13 
Maria Stuart (NA, Bd. 9, S. 32).   zurück
14 
Vgl. Anett Kollmann: Gepanzerte Empfindsamkeit. Helden in Frauengestalt um 1800 (Probleme der Dichtung, Bd. 34) Heidelberg 2004.   zurück
15 
Wilhelm Tell (NA, Bd. 10, S. 253).   zurück
16 
Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (NA, Bd. 20, S. 382).   zurück
17 
Vgl. Paul Barone: Schiller und die Tradition des Erhabenen (Philologische Studien und Quellen, Heft 186) Berlin 2004, S. 119–132.   zurück