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Interesseloses Wohlgefallen?

Zu einer neuen Einführung in die Literatur und Kunst der Moderne und Postmoderne

  • Herbert Grabes: Einführung in die Literatur und Kunst der Moderne und Postmoderne. Die Ästhetik des Fremden. (UTB 2611) Tübingen / Basel: Francke 2004. 190 S. 16 farb. Abb. Kartoniert. EUR (D) 22,90.
    ISBN: 3-8252-2611-5.
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Der Gießener Anglist Herbert Grabes hat eine literaturwissenschaftliche Einführung in die Literatur und Kunst der Moderne und Postmoderne mit dem vielversprechenden Untertitel Die Ästhetik des Fremden vorgelegt. Dieser Titel erinnert an die Darstellung zur Moderne / Postmoderne von Peter V. Zima, Literaturwissenschaftler in Klagenfurt. 1 Allerdings setzt Grabes einen Schwerpunkt auf Literatur und Kunst – und nicht, wie Zima, auf Literatur, Gesellschaft und Philosophie.

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Aufbau des Buches und Argumentation

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Grabes’ Darstellung ist in fünf Kapitel unterteilt: Das erste und das fünfte Kapitel bilden den Rahmen für die Teile II bis IV. Denn diese beiden entfalten Grabes’ These, Moderne und Postmoderne seien als Ästhetik des Fremden zu beschreiben. Während Kapitel I »so allgemeinverständlich wie möglich« (IX) in die Thematik einführen will, liefert Kapitel V dem Fachpublikum bei Bedarf genauere theoretische Erläuterungen für diese These, vor allem Grabes’ Auseinandersetzung mit Kants Begriff des Erhabenen und Lyotards Rezeption. In den Kapiteln II und III im Mittelteil verspricht der Autor, einen Überblick über wichtige Entwicklungen und Richtungen der bildenden Kunst und der Literatur in der Moderne und Postmoderne zu liefern, samt ihrer verschiedenen Strategien, nachhaltig Fremdheit zu erzeugen. Stichworte sind z.B. Montage des Heterogenen, Ironie, Parodie, Variation und Intertextualität. Dabei behandelt Grabes die Moderne in Abschnitten zur frühen und späteren Moderne, analog verfährt er mit der Postmoderne. Dieser Überblick wird von einer kurzen, sechsseitigen Zusammenfassung in Kapitel IV abgeschlossen.

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Im Folgenden wird beispielhaft genauer auf das erste Kapitel und auf Kapitel III.2 eingegangen, das sich mit der Rolle der neuen Medien und der interkulturellen Literatur befasst, da hier ein entscheidender Widerspruch in Grabes’ Argumentation auftritt.

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Das erste Kapitel ist die »Ästhetik des Fremden« überschrieben: Grabes formuliert seine Ausgangsthese, dass die Kunst und Literatur des 20. Jahrhunderts – trotz ihrer Vielfalt – insgesamt durchgängig einer »Herrschaft des Fremden« bzw. dem Prinzip des »Shock of the New« unterstehe (S. 2). Die Pluralität der Postmoderne sei eine Folge der Erneuerungsbestrebungen der Avantgarden. Der Autor behauptet, die gesamte Kunst und Literatur durch eine »dritte Ästhetik« (S. 11) des Fremden beschreiben zu können. Denn die Kunst und Literatur seien rezeptionsästhetisch nicht nur bei ihrer Veröffentlichung dem Publikum unverständlich, neu bzw. fremd erschienen, sondern die Kunstwerke haben diese Fremdheit bis heute sowohl für ein »breites Publikum« als auch für »Kenner« (S. 5) bewahrt. Grabes behauptet, der Eindruck anhaltenden Befremdens beim Rezipienten führe entweder zur Ablehnung und Aggressivität oder – im besseren Fall – zu vermehrten Versuchen, die Fremdheit zu überwinden.

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Die Fremdartigkeit der Kunstwerke ließe sich erzeugen, indem eine Differenz erstens zur lebensweltlichen Erfahrung des Rezipienten, zweitens zu leitenden kulturellen Normen oder drittens zu den Normen des traditionellen Bereichs der schönen Literatur und Kunst erzeugt werde (S. 13). Gelingt es dem Leser oder Betrachter, die Kunst zum eigenen Weltverständnis »so in Beziehung zu setzen, dass ihm irgendwie Sinn gegeben und es emotional verarbeitet« werden kann, bewirke dies eine Bewusstseinserweiterung (S. 3), die Veränderung emotionaler Verhaltensweisen sowie Wohlgefallen. Dieses meint bei Grabes erstens die Genugtuung über die eigene Kreativität und zweitens die Anerkennung der rezipierten Kunst (S. 13).

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Warum aber lassen sich so viele potenzielle Rezipienten, das breite Publikum, diesen Genuss der (post)modernen Kunst entgehen? Grabes’ vorläufige Antwort lautet: Solche Leser gehen (noch) heute mit der Erwartung unmittelbaren Wohlgefallens, wie bei Kant für die schöne Literatur postuliert, an die Lektüre heran (S. 13). Diesen Lesern fehlen die Voraussetzungen, die »Ressourcen«, die Genugtuung und das Wohlgefallen aufschieben zu können und sich trotzdem lange und oft mit der Kunst zu befassen. Als Ressourcen zur erfolgreichen Verarbeitung nennt Grabes Imagination und begriffliches Denken (S. 17). Hier markiert der Autor seine Motivation, eine Einführung zu schreiben: Er will eine Reflexion über den Prozess der Rezeption ermöglichen und begrifflich ins Thema einführen (S. 14).

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Grabes behauptet nämlich, dass die Kunst der Moderne / Postmoderne so befremdlich sei, dass sie selbst von ihrer Theoriebedürftigkeit ausgehe. Sie liefere begriffliche Hilfestellung in Form von begleitenden Manifesten, Kommentaren und Theorieentwürfen (S. 14). Denn »das Befremden, dass die Literatur und Kunst der Moderne und Postmoderne [...] durch ihre Alterität auslöst, kann auf der Ebene der Wahrnehmung selbst nicht relativiert oder gar aufgelöst werden, weil diese gleichsam automatisch abläuft« (S. 14f). Es gebe keine »reine Wahrnehmung«, da sie durch anthropologische Konstanten bestimmt, durch Kultur geprägt und durch individuelle Erfahrungen konditioniert sei.

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Wie also mit der Fremdheit der Texte umgehen? Die Fremdheit der Texte könne nicht einfach »integriert«, »verarbeitet« (S. 15) oder »verstanden« (S. 16) werden. Denn bei der Ästhetik des Fremden stehe das Zusammenstimmen von der Begrifflichkeit des Verstandes mit der Vorstellungskraft in Frage und sei das Problem, das dem Leser aufgegeben sei (S. 17). Erst die begriffliche Reflexion, vermittelt durch die Literaturwissenschaft, eröffnet laut Grabes die Möglichkeit, der Fremdartigkeit der Kunst nicht mit Ablehnung zu begegnen, sondern die Chance der Bewusstseinserweiterung und der Verhaltensänderung zu nutzen (S. 15), Genugtuung über das eigene kreative Potential zu erleben und der Literatur Anerkennung zu zollen (S. 13). Schließlich könne die Fremdheit unter Zuhilfenahme aller Ressourcen nach gründlicher Auseinandersetzung doch verstanden oder zumindest vertrauter gemacht werden (S. 17).

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Warum aber vermehrt die Kunst das Befremden, das doch in der Lebenswelt bereits reichlich vorhanden ist? Grabes gibt zwei Antworten: Die Ästhetik des Fremden stärke die Kreativität der Leser und das Zusammenwirken von Imagination und Begrifflichkeit. Auf der Ebene der Gesellschaft hält Grabes die Literatur für den Raum, in dem interesselos der Umgang mit Fremdheit erprobt werden kann, ohne Angst vor praktischen Konsequenzen oder Misserfolg – im Gegensatz zum alltäglichen Umgang mit dem Fremden. Man könne freier agieren und reflektieren. Die Aufgabe der Literatur und Kunst sei es insgesamt, die Kultur zu erhalten und fortzuentwickeln (S. 18).

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Grabes entwirft seine Ästhetik des Fremden hauptsächlich im Kontrast zur These Weiskels und Lyotards, die avantgardistische Literatur und Kunst der Postmoderne sei eine Form der Ästhetik des Erhabenen (S. 7). Diese These weist er zurück und kontrastiert sie zugleich mit seinem Entwurf: Die indirekte Erzeugung von Wohlgefallen charakterisiere sowohl die Ästhetik des Erhabenen als auch die des Fremden, so Grabes.

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Aber es gibt entscheidende Unterschiede: Die Ästhetik des Erhabenen beruht laut Grabes auf einer Hemmung der Lebens- und der Vorstellungskräfte – sie ist also in der Wirkung radikaler. Zudem unterscheidet sich der zeitliche Ablauf: Die Lektüre (post)moderner Literatur bewirkt demnach weder eine Hemmung der Lebenskräfte, noch folgt das Wohlgefallen direkt darauf, sondern erst nach intensiver Auseinandersetzung mit einem Text. Zudem werde die Ästhetik des Erhabenen von Lyotard für die Postmoderne wiederbelebt mit dem Argument, es gehe um die Darstellung des Nicht-Darstellbaren, dessen, »was man denken, nicht aber sehen oder sichtbar machen kann« (S. 8). Lyotard rekurriere auf die Wendung in Kants Kritik der Urteilskraft, dass eine übergroße sinnliche Erscheinung zum Versagen der Vorstellungskraft und zu einer Rückbesinnung auf nicht darstellbare Ideen führe.

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Grabes stellt dies nicht in Zweifel. Er führt aber an, dass der Rückgriff auf Ideen metaphysischer Art, wie bei Kant, in der Postmoderne nicht mehr möglich sei. Folglich spreche man auch besser nicht mehr von der Erfahrung des Erhabenen, sondern von der des Abgrunds. Das Gefühl der Ohnmacht und Hemmung werde zudem nicht mehr von übermächtigen Naturerscheinungen, sondern durch die Erfahrung der Ungewissheit, Beliebigkeit und unaufhebbaren Subjektivität aller Bedeutungszuschreibungen hervorgerufen (S. 11).

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Die von Grabes als »dritte« Ästhetik (S. 11) des Fremden apostrophierte verortet er selbst zwischen den Polen des Schönen und des Erhabenen, wenn man seiner Illustration (S. 12) folgt. Die »neuere Kunst« sei durch unterschiedliche Ausmaße an Fremdheit gekennzeichnet, die zudem durch unterschiedliche Strategien hervorgerufen werden. Das Fremde bzw. das befremdend Andere versucht er auf dreierlei Art zu spezifizieren: als das Irritierende, das Unverständliche und das Unheimliche, das im Extremfall sogar in den Bereich des Erhabenen reichen könne. Das Schöne verortet er außerhalb der Ästhetik des Fremden, da ihm keinerlei Fremdheit eigne. Das Schöne ist für Grabes offenbar das Bekannte – aus der lebensweltlichen Erfahrung der Menschen mit ihren leitenden kulturellen Normen oder der tradierten schönen Literatur und Kunst (S. 13). Soviel zum Argumentationsgang des ersten Kapitels.

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Sprache und Duktus der Argumentation

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Einerseits bemüht sich der Verfasser, wie er in der Vorbemerkung schreibt, für das »breite Publikum«, das Schwierigkeiten mit der (Post)Moderne habe, so allgemein verständlich wie möglich (IX) eine Einführung zu schreiben. Das ist durchaus begrüßenswert. Andererseits will er vor dem Expertenblick standhalten, deshalb fügt er am Schluss der Darstellung eigens einen Theorieteil an. Grabes versucht bedingt durch die schwierige Textsorte einen Spagat, der m. E. zur Folge hat, dass sich in Kapitel I, V und VI Wiederholungen ergeben und zudem die Einleitung stellenweise zu umgangssprachlich, lapidar formuliert wird und stellenweise zu voraussetzungsreich ist. So finden sich im ersten Kapitel Formulierungen wie »irgendwie Sinn gegeben« (S. 13), »so etwas wie Wohlgefallen« (S. 7) oder »relativ interesselos« (S. 17). Zeitgenössisches psychologisches Vokabular wie »Ressource« (S. 14, S. 17) oder »Konditionierung« (S.15) steht unvermittelt neben systemtheoretischen Wendungen (S. 11) und dem historischen Vokabular Kants, das Grabes unkommentiert übernimmt, wenn er von »Wohlgefallen« (S. 3) mit Blick auf heutige Leser spricht.

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An anderen Stellen wird weniger begründet und argumentiert als suggeriert: »Und wer nicht völlig gleichgültig oder unsensibel ist, wird zugeben, dass es auch der Literatur [...] noch gelingt, Befremden auszulösen.« (S. 2); »Nun ist hinlänglich bekannt ...« (S. 3) oder »Gemeint sein kann natürlich nur ...« (S. 6).

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Hinzu kommt, dass der Verfasser wenige genaue Begriffsdefinitionen liefert, sondern der Leser sich die Bedeutungen, z. B. was denn eigentlich »erhaben« in der Einleitung meint bzw. wie die Definition Kants lautet, an diversen Stellen zusammensuchen muss (S. 7, S. 9). Der Verfasser verzichtet z.B. darauf anzugeben, wie er Moderne und Postmoderne qualitativ und zeitlich in Beziehung setzen und wo er beide beginnen und enden lassen will. So gewinnt der Leser mal den Eindruck, Grabes lasse die Moderne mit dem 20. Jahrhundert beginnen (S. 2), dann gibt er Beispiele wie die Impressionisten, die eher auf das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts verweisen (S. 5). Mal drängt sich aufgrund der Argumentation der Eindruck auf, die Moderne beginne bereits mit der Frühromantik (S. 5).

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Inhalt

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Grabes’ Ausgangsthese ist interessant, aber zentrale Begriffe der Darstellung, etwa das Fremde und das Schöne, werden so eingeführt und gebraucht, dass sie hinter dem Stand der Diskussionen beispielsweise in der interkulturellen Germanistik zurückbleiben. Zuerst zum zentralen Begriff des Fremden: Grabes’ Skala des Fremden – vom Irritierenden über das Unverständliche zum Unheimlichen – wird nicht erläutert und wissenschaftsgeschichtlich verankert und scheint deshalb wenig hilfreich.

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Es entsteht zudem der Eindruck, dass die Fremdheit der (post)modernen Texte mit ihrer Offenheit für diverse Interpretationen einhergehe bzw. damit identisch sei (S. 5). Weder verdeutlicht Grabes, dass es je nach Wissenschafts-Disziplin ganz unterschiedliche Diskurse und Vorstellungen vom Fremden gibt, in die sich z.B. Kant und Lyotard wie er selbst einschreiben und die auch Eingang in die Literatur finden. So geht er auch nicht auf den literaturwissenschaftlichen Diskurs über die spezifisch poetische Alterität ein. Noch wird dem Leser explizit in der Einführung verdeutlicht, dass Fremdheit ein relativer und relationaler Begriff ist, d.h. dass immer etwas für jemanden in Hinblick auf etwas fremd ist. Er unterscheidet nicht klar etwas normativ von etwas kognitiv Fremden oder führt explizit eine historische Dimension des Fremden ein. Unklar bleibt auch, was nach Grabes Ziel der Lektüre fremder Texte sei: Sinngebung, emotionale Bearbeitung (S. 13), Integration von Fremdem, Verarbeitung und Aufhebung des Fremden etc.

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Zweitens zum Begriff »Schön«: Ein Blick ins Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft genügt, um differenzierte Informationen zum Lemma zu finden: Es werden vier Erklärungen aufgeführt. 2 Da heißt es erstens, der ästhetische Wertbegriff sei einerseits bestimmten Dingen als Qualität eigen – z.B. ihrer Vollkommenheit wegen –, was die Existenz einer objektiven Idee des Schönen voraussetzt. Andererseits sei das Schöne z.B. bei Kant als Ergebnis eines ästhetischen Urteils gefasst: Organ des Schönen ist die Einbildungskraft und der Geschmack. Zweitens wird bemerkt, es genüge nicht, den Begriff des Schönen durch Oppositionsbegriffe wie Hässlich oder Erhaben zu profilieren, da die Geschichte der Ästhetik viele Versuche kenne, diese widerstreitenden Phänomene in einen umfassenden Begriff des Schönen zu integrieren, etwa das Erhabene als höchstes Schönes zu benennen. Davon ist in der Einführung nicht die Rede, das Schöne wird zumindest anfangs in Opposition zum Hässlichen, vor allem aber zum Fremden und Erhabenen gestellt (S. 3, S. 4, S. 11). Zudem wird drittens angemerkt, das Schöne sei ein relativer Begriff, der geschichtlichem wie kulturellem Wandel unterliege, weshalb der Begriff immer einer geschichtlichen Reflexion unterzogen werden müsse. Hierauf verzichtet Grabes, zudem drängt sich passagenweise der Eindruck auf, er verwende den Begriff des Schönen wie den des Erhabenen immer noch so wie Kant (S. 3), und zwar mit der Begründung, die erst im Theorieteil am Ende des Buches gegeben wird, Kant sei eben am wirkmächtigsten gewesen (S. 136).

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Der Leser sucht vergebens eine Erklärung in der Einleitung, wie Grabes das Erhabene für zeitgenössische Texte fasst. Erst am Anfang von Kapitel V wird deutlich, dass die Kunst der Moderne heute für manche Leser bereits wieder »klassisch« und »schön« geworden ist (S. 127). Hier scheint mir aber ein Widerspruch zu Grabes’ Hauptthese zu liegen, die Kunst und Literatur der (Post)Moderne sei anhaltend fremd.

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Schließlich wird viertens im Reallexikon zu Bedenken gegeben, dass es nicht selbstverständlich ist, dass Schönheit in der Literatur zur Darstellung kommt. Wegen der Sprachgebundenheit literarischer Ästhetik sei es vielmehr ein Problem, das bis in die Gegenwart diskutiert werde, und es sei offen, ob »schön« ein sinnvolles Prädikat für literarische Texte sein könne. In der Einleitung gewinnt man aber nicht nur den Eindruck, dass dies unproblematisch wie in der bildenden Kunst der Fall ist. Der Autor geht davon aus, dass heute ein breites Publikum mit der Erwartung an Höhenkammliteratur herangeht, sie müsse einer Ästhetik des Schönen verpflichtet sein und es müsse sich ein unmittelbares Wohlgefallen einstellen (S. 13). Das Publikum befände sich demnach noch immer von seiner Erwartungshaltung her in der Klassik. Dass dies so ist, darf bezweifelt werden.

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Ein letzter Punkt: Es wird nicht deutlich, wofür Grabes die Auseinandersetzung mit Weiskel und Lyotard braucht, um seine Ästhetik vorzustellen, außer dass er sich von einer prominenten These abheben und sich auf die Kantische Begrifflichkeit stützen will. Ich frage mich auch, ob dem Vergleich nicht ein Missverständnis zugrunde liegt. Mein Eindruck ist, dass es sich bei Lyotard und seiner Aktivierung und Ergänzung des Erhabenen vor allem um ein postmodernes Postulat ohne Utopie (Zima S. 224 – 229) handelt, während Grabes eine deskriptive Ästhetik vorlegen will.

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Beispielhaft für den Mittelteil zum Kapitel III.2: Die Kombination von Kunst und Literatur ist sehr anregend. Allerdings enttäuscht der darstellende Teil m. E. aus diversen Gründen: Grabes begründet seine Zusammenstellung von Kunst und Literatur nur lapidar (S. 19f), er sei eben Literaturwissenschaftler, außerdem seien viele neue Entwicklungen nach der Bildenden Kunst benannt. Die unterschiedliche Medialität und Rezeption der Künste reflektiert Grabes nur punktuell nebenbei im Textverlauf (S. 88).

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Da die Einführung mit Kunst und Literatur von der Moderne bis zur Postmoderne einen sehr weit gefassten Gegenstand zu besprechen hat, bleibt für die einzelnen Aspekte wenig Raum. Der Autor hat sich entschieden, zahlreiche Texte und Kunstwerke anzusprechen und aufzuzählen. Dies mag die Leser zur eigenen Lektüre anregen. Wer aber detaillierte Textinterpretationen und Beispielanalysen erwartet hat, anhand derer er selbst Fremdheit aus verschiedenen Perspektiven untersuchen könnte, wird nicht fündig.

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Die späte Postmoderne seit den 1980er Jahren charakterisiert Grabes als Literatur und Kunst der Variation. Das Befremdliche liege weniger in der provozierenden radikalen Fremdheit der Kunst und Literatur als in der Erkenntnis, dass es scheinbar nach aller Innovation nichts Neues mehr gebe (S. 116). Diese offen auf ihre Intertextualität weisende Literatur zeitige nur noch subtile Wirkungen und mildere Formen der Fremdartigkeit, die der Leser suchen müsse (S. 125) und die fast schon schön seien. Offenbar sieht Grabes in den Innovationsstrategien der spätpostmodernen Kunst eine Wiederbelebung der Ästhetik der Mimesis, wie sie seines Erachtens seit dem Spätmittelalter bis zur Genieästhetik gültig war (S. 115). Gefragt ist also ein gebildeter, sensibler Leser, der über die Traditionen an Themen und Formen verfügt, um die kleinen Differenzen schätzen zu können und sich an ihrer Entdeckung zu erfreuen.

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Die Literatur verliere darüber aber nicht ihr kritisches Potential: Die neuen Darstellungsformen wie Hybridisierungen seien in der Lage, »unbegründete ontologische Ansprüche von Repräsentationsformen zu unterlaufen« (S. 116). (Ob ein Erstsemester weiß, was gemeint ist?)

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Grabes behauptet einerseits, neue Impulse für Literatur und Kunst gingen von den Medien und der interkulturellen Literatur aus. Allerdings wird nicht deutlich, worin diese für die Fremdheitserfahrungen genau liegen. Einmal spricht er von der Fremdheit der Weltsichten, die durch die Kunst vermittelt würde, dann spricht er den ethnologischen Blick von »außen«, von der »Peripherie«, auf die Metropole an (S. 119). Grabes behandelt diese »Fremdheit« wie ein exotisches Gericht und erwähnt z. B. nicht, dass diese Art der Literatur auch in politischen Emanzipations- und Identitätsdiskursen von Minderheiten verankert ist, die in Widersprüche von Allgemeinem und Besonderem verstrickt sind (Zima). Wie aus einem eingeschobenen Zitat deutlich wird, sieht er die Funktion der bildenden Künste eurozentrisch in der »Regenerierung« (S. 119) der eigenen Kultur und wertet die interkulturelle Literatur insgesamt durch den Kommentar am Schluss ab, es handle sich in der Regel um konventionelle Erzählweisen (S. 121), was so nicht durchgängig stimmt und nicht auf mögliche Gründe hin befragt wird. (Literatur macht auch mit fremden kulturellen Mustern vertraut. Bei zu großer Fremdheit bräche die Kommunikation ab.) Dieser Gestus ist vereinnahmend und geht über mögliche Wertekonflikte hinweg. Grabes nennt zwar z.B. die Verfahren der Intertextualität und Hybridität, aber er erklärt sie ebenso wenig, wie er sie bei einer Textinterpretation anwendet. Dies ist für den Mittelteil charakteristisch.

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Grabes’ Konzeption

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Geht man nach diesen Einwänden einen Schritt zurück und versucht zu verdeutlichen, was Grabes’ Konzeption ist, ergibt sich folgendes Bild:

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Es ist auffällig, dass Lyotards Argumentation von Grabes verkürzt wiedergegeben ist: Es fehlt z.B. Lyotards These vom Ende der Metaerzählungen. Diese Verkürzungen sind aufschlussreich: Laut Zima steht Lyotard einer konsumierbaren Postmoderne, die in der Einverleibung des Ästhetischen in die Kulturindustrie mündet, kritisch gegenüber. Deshalb sieht er die letzte ernstzunehmende Aufgabe der Kunst darin, die konstatierte gesellschaftliche Heterogenität als Widersprüchlichkeit oder als Widerstreit in den ästhetischen Bereich zu transportieren. Das Erhabene verknüpfe nicht nur zwei widersprüchliche Erkenntnisarten (Vernunft und Einbildungskraft), sondern auch konträre Empfindungen wie Lust und Schrecken, Bewunderung und Furcht (Zima, S. 227). Diese Widersprüche sollen eine Zerreißprobe für das Subjekt darstellen, während das Schöne »als harmonisches und verallgemeinerungsfähiges Wohlgefallen zur Vereinheitlichung und Subjektkonstitution ohne Begriff beiträgt« (ebenda). Deshalb, bzw. in diesem Kontext, aktualisiert und ergänzt Lyotard Kants Begriff.

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Grabes wirft Lyotard in seiner Gegenargumentation nun vor, er bedenke bei aller Aktualisierung des Erhabenen die Differenzen und Entwicklungen vom 18. zum 20. Jahrhundert nicht. Er selbst geht aber im ersten Kapitel nicht explizit auf diese Entwicklungen ein, die es erst ermöglichen, die Position Lyotards und von Grabes eingestreute Schlagworte wie Ungewissheit, Beliebigkeit und unhintergehbare Subjektivität einzuordnen und zu verstehen. Ein knapper Exkurs zu diesen philosophischen Kontexten findet sich beiläufig unter der Überschrift »Die Feier des Flüchtigen und Beliebigen« in Kapitel III (S. 82f) wie im Kapitel IV (S. 128). Grabes konstatiert an diesen Stellen, die bereits von Nietzsche beschworene Wertkrise habe erst nach 1950 weite Kreise erfasst. Im Gefolge des Strukturalismus habe sich die Einsicht in die prinzipielle Beliebigkeit und Systemabhängigkeit aller Bedeutungen und den historischen Wandel der bedeutungsgebenden Systeme durchgesetzt. Gleiches gelte für die Erkenntnis, dass alle Wahrheitsannahmen und Sinnstiftungen konstruiert seien. Die Kunst könnte folglich nicht länger einer objektiven Wahrheit verpflichtet sein, sondern sei ein Prozess von Aus- und Eingrenzungen.

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Die Folgen für die Kunst reflektiert Grabes selbst im Folgenden nicht immer angemessen, vielmehr suggeriert er z.B. in Kapitel V, man könne in der Postmoderne wieder ungebrochen bei der Ästhetik der Renaissance ansetzen. Hinzu kommt, dass er seine eigene Rolle in diesem Band nicht reflektiert und seinen Standpunkt nicht klar angibt. Bei Grabes löst sich nach der verständigen Rezeption von Kunst offenbar alles in Wohlgefallen und Akzeptanz auf. Deshalb gibt es bei Grabes auch kaum mehr Kritik am interpretierten Kunstwerk. (Abgesehen von der Unterscheidung des »Kenners« von feinen und groben Strategien der Verfremdung.) Grabes’ ästhetische Wertungen erschließen sich im Hauptteil nur indirekt: aus der Benutzung des Adjektivs »geschätzte Konventionen« (S. 70), aus dem wiederholten Gebrauch des Adjektivs »respektlos« im Zusammenhang mit der radikalen Postmoderne (S. 70, S. 74, S. 75, S. 77), der Betonung des Aspekts der Beliebigkeit, der sich nicht ganz wegdiskutieren lasse (S. 87), sowie der Betonung des untilgbaren Bedürfnisses nach Sinngebung (S. 95).

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Der Autor verzichtet darauf, diese philosophischen und soziologischen Hintergründe und Kontexte ausführlich zu erläutern, weil dies seiner Absicht zuwiderlaufen würde: Er will ausschließlich für einen persönlich befriedigenden Umgang mit der (post)modernen Literatur, für seine scheinbar neutrale, da deskriptive literatur- und kunstwissenschaftliche Ästhetik des Fremden und die Auseinandersetzung mit aufgeführten Strategien wie Intertextualität oder Hybridisierungen werben. So erscheint es unnötig, z.B. die ideologischen Ursachen für die Ablehnung und Aggression mancher Rezipienten gegenüber bestimmten postmodernen Kunstwerken in konkreten Situationen zu erläutern. Als Beispiel sei nur an Salman Rushdies »Erfolg« mit den Satanischen Versen und seine anschließende Verfolgung erinnert. Davon ist aber bei Grabes nicht die Rede (S. 121). Der Autor verzichtet darauf, die zugrunde liegende Werteproblematik und die möglichen Folgen für die Leser aufzuzeigen, auf das Zusammenspiel von Indifferenz und Ideologien genauer einzugehen, wie dies Zima unternimmt, und seine eigene Positionierung in diesem Spannungsverhältnis vorzunehmen.

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Grabes begrüßt im Absatz zur »Konkurrenz des Gleichzeitigen« (S. 121–125) den Jahrmarkt der Kunst (Vattimo) – und dies sei »[...] kein Anlass für Bedauern« (S. 125) – ohne aber die Voraussetzungen dieser These darzulegen und ohne sie auf die konkurrierende Position von Lyotard nochmals zu beziehen. Grabes geht davon aus, alle Leser könnten heute aus dem vielfältigen Angebot des Kunst- und Literaturmarktes wählen, was seiner Eingangsthese von der anhaltenden Befremdlichkeit (post)moderner Kunst und Literatur und der Notwendigkeit, darüber zu informieren, zuwiderläuft: Durch die Vielfalt relativiere sich das Provokationspotenzial jeder einzelnen Richtung deutlich, zudem könne jeder seinen Vorlieben folgend Fremdheitserfahrungen vermeiden (S. 124).

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Grabes führt seinen Metaentwurf unironisch vor, verzichtet auf Relativierung als eine mögliche Konstruktion und macht nicht deutlich, dass es viele Ästhetiken der Postmoderne gibt, von denen auch Lyotards Entwurf nur einer ist.

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Fazit

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Meines Erachtens handelt es sich bei dem Band weniger um eine Einführung als um einen längeren Essay, der um einige Lektüreempfehlungen erweitert wurde. Das Buch ist als Einführung für Studienanfänger aus den genannten Gründen nicht geeignet, der Argumentationsstil ist problematisch und die methodisch-inhaltliche Ausrichtung ist einseitig, ohne dass dies kenntlich gemacht würde. Fortgeschrittene Studierende können eventuell aus dem Band Anregungen beziehen, wenn sie in der Lage sind, die nicht explizierte Position Grabes’ selbständig in die größeren diskursiven Zusammenhänge einzuordnen. Dazu sei nochmals auf die umfangreiche Darstellung Moderne / Postmoderne von Peter V. Zima verwiesen.



Anmerkungen

Vgl. Peter V. Zima: Moderne / Postmoderne. Gesellschaft, Philosophie, Literatur. Tübingen, Basel, 2. überarb. Auflage 2001.   zurück
Vgl. Joachim Jacob: Schön. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. von Jan-Dirk Müller. Bd. III. Berlin, New York 2003, S. 383–387.   zurück