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Ästhetizismus im luftleeren Raum

  • Vera Viehöver: Diskurse der Erneuerung nach dem Ersten Weltkrieg. Konstruktionen kultureller Identität in der Zeitschrift »Die neue Rundschau«. (Kultur - Herrschaft - Differenz 7) Tübingen: Francke 2004. 352 S. Kartoniert. EUR (D) 58,00.
    ISBN: 3-7720-8072-3.

Inhalt

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Zum Stand der literaturwissenschaftlichen Zeitschriftenforschung

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Mit der vorliegenden Monographie wagt sich die Düsseldorfer Kulturwissenschaftlerin Vera Viehöver in ein Gebiet vor, das man als vielleicht letzte große terra incognita der literaturwissenschaftlichen Forschung bezeichnen könnte: die (deutschen) literarischen Periodika, hier die Neue Rundschau des S. Fischer Verlages.

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Bereits seit Jahrzehnten besteht in der Forschung Konsens über die Bedeutung von Literatur- und Kulturzeitschriften für die Etablierung und Entwicklung intellektueller Öffentlichkeit. 1 Dies gilt in besonderem Maße für die kulturelle Umbruchphase der Moderne zwischen 1870 und 1933. Gerd Mattenklott nennt die großen allgemeinen Kultur- oder Rundschauzeitschriften zwischen 1900 und 1933 Formen »der höchsterreichbaren Gegenwart« in einer Zeit, in der sich das tradierte Medium Buch »für den stürmischen Verlauf der intellektuellen Auseinandersetzungen als viel zu schwerfällig« erwiesen hatte. 2 Gegenüber der monologischen Struktur des Buches stellt die Zeitschrift demnach also den Ort des literarischen Gespräches dar, an dem sich die vielschichtigen und wechselhaften Kommunikationsprozesse der Moderne verfolgen lassen.

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Dennoch läuft die Beschäftigung der Literaturwissenschaft mit dem Medium Zeitschrift nur äußerst zögerlich an. 3 Dieses Unbehagen der Germanistik an der Gattung scheint sich auf nach wie vor unbewältigte methodologische und theoretische Probleme zurückführen zu lassen. Bis heute sind auch die wichtigsten historischen Periodika nur schwer zugänglich. 4 Zudem fehlen in den allermeisten Fällen gründliche bibliographische Erschließungsarbeiten. Zwar stehen mittlerweile zumindest die ›großen‹ Zeitschriftenbibliographien von Raabe, Dietzel / Hügel, Estermann und Wallas zur Verfügung, 5 doch die Erfahrung zeigt, dass diese häufig genug unvollständig oder sogar fehlerhaft sind. Nicht zu unterschätzen ist weiter die Frage der Analysetechnik. Je nach Untersuchungszeitraum und Anzahl der untersuchten Medien sieht sich der Forscher womöglich hunderten von Bänden (und damit schnell zehntausenden von Texten) gegenüber; eine Menge, an der herkömmliche Methoden literaturwissenschaftlicher Analyse notwendig versagen. Die jeweilige Sichtungs- und Verarbeitungstechnik erhält damit entscheidende Bedeutung. Denn für die Literaturwissenschaften ergibt sich in der Zeitschriftenforschung ein eher ungewöhnliches Problem: Während bei der ›traditionellen‹ Arbeit eigentliche Entdeckungen eher selten sind, gilt es hier, die bei der Lektüre stetig anwachsende Fülle von Entdeckungen zu verwalten und zu verwerten. Eine mögliche Lösung wäre die Anwendung statistischer Methoden. Für welche Verfahren man sich aber auch immer entscheidet, Tatsache ist, dass die Zeitschrift mehr als jedes andere Medium die »Germanistik zum Überschreiten der Grenzen ihrer Disziplin« herausfordert. 6

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Nächst der Bewältigung methodologischer Fragen stellt sich als zweites zentrales Problem das des theoretischen Zugriffs. Bis heute hat weder die Literatur- noch die Kommunikationswissenschaft eine verbindliche Definition der Gattung ›Zeitschrift‹ liefern können. Als im Wesentlichen kollektiv produziertes Medium verweigert sie sich sowohl einer Annäherung über den traditionellen Werk- wie auch den Autorbegriff. Die inhaltliche und formale Erscheinungsvielfalt der Zeitschrift lässt zudem eine Gattungskonstitution über einen objektivierten Katalog von Merkmalen kaum zu.

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In den letzten Jahren hat sich deshalb, ausgehend von der Publizistik, die Forderung nach einer Funktionsbestimmung des Mediums Zeitschrift durchgesetzt, das heißt, es wird primär nach den Funktionen des jeweiligen Untersuchungsgegenstandes innerhalb der Gesellschaft einer Zeit gefragt. 7 Hermeneutische Methoden sind hier nur sehr bedingt einsetzbar, etwa in der Recherche von Hintergrundinformationen. Der theoretische Gesamtzugriff muss jedoch auf anderem Wege erfolgen. Hierfür eignen sich, wie die Forschungen der letzten Jahre gezeigt haben, vor allem diskurstheoretische Ansätze. Noch fruchtbarer für die Zeitschriftenforschung aber scheint der interdiskurstheoretische Ansatz nach Link zu sein, der in der Folge vor allem von Link-Heer, Gerhard und Parr aufgenommen wurde, und den Viehöver in der hier besprochenen Monographie zugrunde legt. 8

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Wenn man mit Link davon ausgeht, dass die literarisch-kulturellen Zeitschriften der beginnenden Moderne vor allem die Funktion erfüllten, die sich auffächernden Spezialdiskurse zu reintegrieren, und zwar extensiv durch die Akkumulation von Wissen und intensiv durch eine Anwendung mehrstimmigen Diskursmaterials, das die Anschlussmöglichkeiten an andere Diskurse noch steigert, 9 dann verwandelt sich der traditionelle Problemstatus der Zeitschrift für die Literaturwissenschaft, nämlich ein bloßes Konglomerat disparater, teils nichtfiktionaler und keinem bestimmten Autor zuzuordnender Texte darzustellen, in einen entscheidenden Vorteil. Denn das Medium erscheint nun als vielstimmiges, unabgeschlossenes Ganzes, das sich vor allem durch seine diskursive Struktur konstituiert.

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Ein weiterer Vorzug des interdiskurstheoretischen Ansatzes ist, dass die Anschlussmöglichkeiten des verwendeten Diskursmaterials sowohl für kollektive als auch für individuelle Subjektivierungen gelten. 10 Damit lässt sich ein zentrales Charakteristikum der literarisch-kulturellen Zeitschrift in den Griff bekommen: Ihr Changieren zwischen Kollektivem und Individuellem. Angesichts der aktuellen Lage der literaturwissenschaftlichen Zeitschriftenforschung sind in den nachfolgenden Bemerkungen immer auch folgende Fragen von zentraler Bedeutung: Welche praktisch-methodischen Verfahren wendet die Autorin an? Können sie für die weitere Erforschung von Zeitschriften vorbildhaft wirken? Was kann der interdiskurstheoretische Ansatz für die literaturwissenschaftliche Erforschung von Zeitschriften, insbesondere Rundschauzeitschriften, leisten?

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Theoretische Anlage
der Monographie

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Viehövers Untersuchung geht von einem performativen Kulturverständnis aus. Basisannahme ist, dass das Medium der Kulturzeitschrift Prozesse kultureller Identitäts- oder ästhetischer Positionsfindung nicht nur abbildet, sondern sie vor allem herstellt. Sie betrachtet die Zeitschrift Die Neue Rundschau zwischen 1918 und 1933 als »Generator vielschichtiger Diskurse der Erneuerung« (S. 12) nach der Krise des Ersten Weltkrieges, dem »Kollaps« (S. 13) aller kulturellen Codes. Der Zusammenbruch hergebrachter Deutungsmuster macht eine Neubestimmung des Eigenen und des Fremden nötig. Diese erfolgt, so Viehöver, als »Praxis der kulturellen Kartierung«, wobei Kultur nach Nünning als ›offenes System‹ verstanden wird, 11 als prinzipiell unabschließbarer, symbolisch und textuell vermittelter Prozess der Selbstauslegung und Bedeutungskonstruktion (S. 13). Im Zentrum der Analyse steht die These, dass nationaler und ästhetischer Erneuerungsdiskurs in der kommunikativen Praxis der Neuen Rundschau eng miteinander verzahnt sind:

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Wo immer die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen deutscher Nationalidentität zu beantworten versucht wird, […] ist in der als epochal wahrgenommenen Umbruchssituation der ersten Nachkriegszeit die Frage nach einer adäquaten Haltung in Hinblick auf die Krise im Bereich der Ästhetik immer schon mitgestellt – und umgekehrt. (S. 27)
[12] 

Dabei kommt der Neuen Rundschau, Viehöver zufolge die »bedeutendste kulturelle Rundschauzeitschrift bürgerlich-liberaler Prägung der Weimarer Republik«, eine Sonderstellung zu. Keine andere Zeitschrift zeige »die vielschichtigen Überlagerungen von europäischem beziehungsweise nationalem und ästhetischem Erneuerungsdiskurs« deutlicher und könne deshalb einen »doppelten Führungsanspruch« bei der nationalen wie ästhetischen ›Neukartierung‹ Europas geltend machen (S. 139).

[13] 

Zum diskurstheoretischen
Ansatz

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In ihrer Analyse verbindet die Autorin einen medientheoretischen Grundansatz mit der interdiskursanalytischen Perspektive. Sie geht erstens davon aus, dass bestimmte Praxen kultureller Kommunikation immer an bestimmte Medien rückgebunden sind, das heißt, dass unterschiedliche Medien je spezifische Formen kommunikativer Praxis hervorbringen (S. 24), anders formuliert, dass eine »kommunikative Praxis ›so und nicht anders‹ nur in diesem Medium stattfindet, daß sie Effekt des Mediums ist« (S. 66). Die Neue Rundschau wird – zweitens – mit Link als komplexe »diskursive Formation« (S. 24) in den Blick genommen. Ziel der Untersuchung ist es »zu zeigen, aufgrund welcher Mechanismen heterogene Einzeldiskurse miteinander verschaltet sind« (S. 65).

[15] 

Sichtbar werden sollen die verborgenen »Brückenelemente« oder »Scharnierstellen« (S. 24), welche die Teildiskurse unter der Oberfläche verbinden. Dabei will die Autorin jedoch nicht den »expliziten Willenskundgebungen der Herausgeber« in einzelnen Leitartikeln, Programmschriften und ähnlichem nachgehen, sondern

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die diskursiven Strukturen […] analysieren, die sich erst in der Zusammenschau zahlreicher thematisch divergenter Beiträge, und zwar sowohl genuin literarischer bzw. essayistischer als auch wissenschaftlicher und kunstkritischer, als ein komplexes Verweisungsgeflecht zu erkennen geben. (S. 17)
[17] 

Präsentiert sich die »diskursive Formation« Neue Rundschau als mediales Netzwerk an sich, so soll im Laufe der Analyse die Funktion der Zeitschrift im Sinne Foucaults als medialer »Knoten« oder »Bündel von Beziehungen« (S. 61) auf ein größeres Netzwerk erweitert werden, nämlich das europäische (Kultur-)Zeitschriftenwesen. Nach Viehöver ›trifft‹ sich in der Neuen Rundschau die Elite der Intellektuellen zum »Europäischen Rundgespräch« (S. 16); zugleich findet ein kommunikativer Austausch mit europäischen ›Schwesternzeitschriften‹ wie der Nouvelle Revue Française, Criterion, Neue Schweizer Rundschau etc. statt.

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Zur Gliederung

[19] 

Die Monographie gliedert sich in fünf Hauptkapitel. Das erste, »Die literarisch-kulturelle Zeitschrift als Medium«, soll die medientheoretische Grundlegung schaffen. Ausgehend von einer Vielzahl von Definitionsversuchen der Literaturwissenschaft und Publizistik entwickelt die Autorin einen Arbeitsbegriff von ›Zeitschrift‹ als performatives Genre. Zentral behandelt ist die Funktion des Mediums als genuin kollektive Gattung, die netzartige Kommunikationsstrukturen begünstigt. Als Exkurs gefasst wird ein knapper Abriss zur allgemeinen Geschichte der Kulturzeitschrift als ›Nationaljournal‹.

[20] 

Kapitel II (»Vom ›Kampforgan der naturalistischen Weltanschauung‹ zum Medium der deutschen Renaissance: Geschichte und Konzeption der ›Neuen Rundschau‹«) bietet in sehr konzentrierter Form die Geschichte und Programmatik der Zeitschrift, die 1890 unter dem Titel Freie Bühne für modernes Leben als reines (Theater-)Kunstblatt gegründet worden war. Viehövers besonderer Fokus gilt der deutschen Tradition der Kulturzeitschrift und den von Beginn an in der Neuen Rundschau angelegten Interdependenzen von Ästhetischem und Nationalem, bevor im dritten Kapitel (»Der Erste Weltkrieg als Gedächtniskrise«) allgemein historisch auf das Krisenbewusstsein der Nachkriegszeit als ›Kultur der Niederlage‹ eingegangen wird. 12

[21] 

Der historisch-theoretischen Fundierung folgen dann die beiden großen Analysekapitel, »Der ästhetische Diskurs der Erneuerung« (Kapitel IV) und »Der nationale Diskurs der Erneuerung« (Kapitel V). Hier kommt insbesondere die Generator-Funktion der Neuen Rundschau bei der Herstellung kultureller Diskurse, die nationale Identitätskonstruktionen und ästhetische Reflexion zusammenbinden, in den Blick. Ausgehend von den zeit- und kulturkritischen Beiträgen Rudolf Kaysers, Chefredakteur der Neuen Rundschau von 1922 bis 1933, untersucht Viehöver vor allem Texte aus den Bereichen Literatur, bildende Kunst, Musik und Architektur, aus denen ›fächerübergreifende‹ Diskursmuster als ›Brückenelemente‹ und ›Scharnierstellen‹ des ästhetischen Diskurses herausgelöst werden. Die Fokussierung auf das Feld der Kunst erscheint der Autorin legitim, da sich die Neue Rundschau in erster Linie als »genuin kulturelle Zeitschrift« (S. 26) verstanden habe.

[22] 

In Kapitel V geht es anschließend um die interdiskursive Integration oder Synthese von Ästhetischem und Nationalem. Sie wird in zwei Hauptteilen behandelt: »Deutsche Selbstbilder« und »Alteritätskonstruktionen«. Der erste Teil gilt dem deutschen Nachkriegsselbstbild, das nach Viehöver in eine konsequente Ästhetisierung des Nationalen mündet, beispielhaft aufgezeigt an der Idee der Führerschaft des Dichters in den beiden Sonderheften über Deutschland beziehungsweise über Gerhart Hauptmann der Jahre 1922 und 1923. Der zweite Teil rückt drei ›kulturelle Räume des Anderen‹ ins Blickfeld: den österreichischen, den französischen und den russischen beziehungsweise asiatischen. Hier fragt die Autorin in erster Linie nach den je spezifischen mit den Räumen verbundenen Alteritätsvorstellungen und inwieweit diese als Reflexe der allgemeinen Krise einer Gegenwart zu lesen seien, in der politische und ästhetische Sphäre nicht voneinander isoliert zu denken waren.

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Wertung

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Im Voraus sei ausdrücklich angemerkt, dass die theoretischen Basisannahmen der Analyse − die Performativität des Mediums Kulturzeitschrift, die Notwendigkeit einer Funktionsbestimmung der Gattung, die Bindung der spezifischen Form der Kommunikation an das je spezifische Medium und der interdiskurstheoretische Zugriff − in jeder Hinsicht begrüßenswert sind. Angesichts des Textbefundes insgesamt fragt sich jedoch, ob der als interdiskursiv apostrophierte Ansatz hier nicht nachträglich auf ein traditionelles Untersuchungsdesign appliziert wurde, nämlich die Analyse der Zeitschrift Die Neue Rundschau als literarisches Kunstwerk.

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›Historische Ästhetik‹:
Die Zeitschrift als ›Kunstwerk‹

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Eine grundlegende Schwäche der vorliegenden Arbeit ist die historische Anbindung des Themas. Sehr deutlich wird dies bereits im ersten Kapitel. Viehöver entwickelt hier zunächst ihren Arbeitsbegriff von Kulturzeitschrift, als deren Hauptmerkmale sie die Simulation von Kommunikation (S. 35), die fragmentarische Struktur und einen grundsätzlich experimentellen antitotalitären Charakter bezeichnet (S. 36 f.). Die Herleitung dieser Charakteristika erfolgt jedoch nicht, wie zu erwarten gewesen wäre, über die Rekapitulation der Hochphase der deutsche Rundschaupublizistik und ihrer wichtigsten Erzeugnisse ab 1870, sondern über eine oberflächliche Betrachtung von Periodika des 18. Jahrhunderts (etwa die Briefe, die neueste Literatur betreffend von Lessing, Nicolai und Mendelssohn oder Gottscheds Beyträge zu einer critischen Historie der deutschen Sprache, vgl. S. 36).

[27] 

Die fragwürdige historische Fokussierung auf Aufklärung, Klassik und Romantik zieht sich in der Folge wie ein roter Faden durch die Argumentation. Im Unterkapitel »Kurze Geschichte der literarisch-kulturellen Zeitschrift als ›Nationaljournal‹« versucht Viehöver insbesondere, Schillers Zeitschriften Thalia und Horen sowie Novalis’ und Schlegels Athenaeum als traditionsbildend und -bindend für die Publizistik noch des frühen 20. Jahrhunderts zu etablieren. Deutlich wird hierbei, dass es der Autorin vor allem auf die angeblich genuin ›ästhetische‹ Konzeption dieser Periodika ankommt, verstanden als »radikale Ästhetisierung des Projektes der Nation« sowie auf den (vermeintlich) elitistischen Ansatz, die Zeitschrift nur für einen »illustren Kreis von Eingeweihten« (S. 73) zu publizieren. 13 Ähnlich verfährt sie mit Schlegels Deutschem Museum, das nur der Ausbildung »eines literarischen Nationalbewußtseins« (S. 76) gedient habe − und nicht etwa eines politischen. 14

[28] 

Der Umweg über die Zeitschriften des 18. Jahrhunderts, mit deren Hilfe eine ästhetisch-apolitische Tradition der Kulturzeitschrift etabliert wird, dient Viehöver dazu, das implizite Kernziel ihrer Untersuchung zu legitimieren: die Präsentation der Neuen Rundschau als Kunstwerk. Damit jedoch gerät sie in der Folge in Widerspruch zum selbst gewählten interdiskurstheoretischen Ansatz. Nach Viehöver stellt die Zeitschrift ein unabgeschlossenes, kollektives Kunstwerk dar, das einer kulturellen Elite − den ›Intellektuellen‹ − zur Selbstverständigung über ästhetische und politische Positionen diene (vgl. S. 73). Die Individualität der einzelnen Teilnehmer werde aufgehoben in der kollektiven kommunikativen Praxis des Mediums (vgl. S. 55). Damit befindet sich die Autorin noch halbwegs mit der diskursanalytischen Perspektive in Einklang.

[29] 

Viehöver geht jedoch noch weiter und behauptet, dass trotz der prinzipiellen Unabgeschlossenheit des Diskurses – und damit der Zeitschrift – dennoch jedem Heft »der Status eines eigenständigen künstlerischen Werkes zukomme«. Dieser beruhe auf der »sorgfältigen redaktionellen Arbeit« und führe letztlich dazu, dass auch das Medium insgesamt »ein nach strengen Gestaltungsprinzipien komponiertes Kunstwerk« (S. 109) sei. Gleichsam durch die Hintertür kehrt so der mit dem diskurstheoretischen Ansatz eigentlich suspendierte Kunstwerkbegriff in die Argumentation zurück: Es gibt wieder eindeutige Urheber des ›Diskurses‹ (die Redaktion beziehungsweise die Beiträger) und ein autonomes, in sich geschlossenes Werk. Viehöver hätte sich entscheiden müssen: Entweder für die mehr traditionelle Analyse der Kommunikation eines namentlich benannten Kreises von Intellektuellen, oder für die Untersuchung der Neuen Rundschau als Interdiskurs.

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Die ›Neue Rundschau‹ −
keine Rundschauzeitschrift?

[31] 

Der unterstellte Kunstwerkcharakter der Neuen Rundschau, ihre ›Sonderrolle‹ innerhalb der allgemeinen Kulturzeitschriften der Moderne, legitimiert in der Folge für Viehöver den Verzicht auf die (historische) Darstellung der Epoche der Rundschaupublizistik zwischen 1870 und 1918, und das, obwohl die Autorin die Neue Rundschau klar »in der Tradition der großen Rundschauzeitschriften der Gründerzeit« sieht (S. 81). Viehöver verspürt Unbehagen an der (unterstellten) ›deutschen‹ Orientierung dieser Organe, ihrer Funktion als Wegbereiter eines ›kulturpolitischen Nationalismus‹ anstatt eines wie auch immer gearteten ästhetischen Erneuerungswillens. Das Linksliegenlassen der Rundschau-Tradition stellt jedoch eines der Hauptprobleme der Untersuchung dar. Könnte man den Kunstwerkcharakter mit Abstrichen zumindest noch für die Frühzeit der Neuen Rundschau als Freie Bühne geltend machen, so ist er mit der Wandlung des Blattes zur ›echten‹ Rundschauzeitschrift 1894 endgültig überholt. Bereits der Name, Neue Deutsche Rundschau, hat Signalwirkung. Er rekurriert deutlich auf die berühmteste Vorgängerin und Konkurrentin, Julius Rodenbergs 1874 gegründete Deutsche Rundschau.

[32] 

Über die Zugehörigkeit der Neuen Rundschau zum Typus der Rundschauzeitschrift herrscht in der Forschung Konsens. Deshalb erscheint es symptomatisch, dass Viehöver die entsprechende Literatur nicht zur Kenntnis genommen hat, vor allem die Arbeiten Syndrams (Kulturpublizistik und nationales Selbstverständnis. Untersuchungen zur Kunst- und Kulturpolitik in den Rundschauzeitschriften des deutschen Kaiserreiches (1871–1914) [1989]) und Kuhlhoffs (Bürgerliche Selbstbehauptung im Spiegel der Kunst. Untersuchungen zur Kulturpublizistik der Rundschauzeitschriften im Kaiserreich (1871–1914) [1990]) sowie die Bibliographie Dietzel / Hügels (Deutsche Literarische Zeitschriften 1880−1945. Ein Repertorium [1988 ff.]). 15

[33] 

Als vollgültige Rundschauzeitschrift kann die Neue Rundschau nicht als ›Solitär‹ behandelt werden, als wie auch immer geartetes ›Kunstwerk‹, zumal sich die Autorin damit weit außerhalb des eigenen interdiskursiven und funktionsanalytischen Rahmens stellt. Denn für die Rundschaupublizistik gelten spezifische Bedingungen. Man müsste mit Viehövers eigenen Vorgaben formulieren, dass ›unterschiedliche Medien je spezifische Formen kommunikativer Praxis hervorbringen, dass eine kommunikative Praxis so und nicht anders nur in diesem Medium stattfindet, dass sie Effekt des Mediums ist‹. Auf die besonderen Strukturen und Funktionen des Mediums Rundschauzeitschrift geht Viehöver jedoch nicht ein.

[34] 

Anmerkungen zur
Rundschaupublizistik

[35] 

Rundschauzeitschriften haben in Deutschland nach 1870 / 71 besondere Aufgaben zu erfüllen. Ein Vergleich der programmatischen Texte wie des Erscheinungsbildes der wichtigsten dieser Zeitschriften (Neue Rundschau, Deutsche Rundschau, Preußische Jahrbücher, Grenzboten, Gegenwart, Nord und Süd, Die Gesellschaft u.a.) zeigt, dass das im wesentlichen kohärente (was nicht heißt: unwandelbar festgeschriebene) Programm der Rundschaupublizistik etwa folgendermaßen aussah: Oberstes Ziel war es, Spiegel des gesamten deutschen Kulturlebens zu sein, wobei ›Kulturleben‹ nicht im eingeschränkten Sinne von bildender Kunst, Literatur und Theater verstanden wurde, sondern jede Form kultureller Äußerung meinte, ganz gleich, ob Naturwissenschaft, Politik, Ethnographie, Statistik oder eben Literaturkritik und Kunstberichterstattung. 16 Das große ›Projekt‹ der Rundschauzeitschriften als ›Nationaljournale‹ war es, eine »Einheit der Kultur« herzustellen, 17 der modernen ›Zersplitterung‹ des Lebens wie der Ausdifferenzierung der Künste und Wissenschaften entgegenzuwirken. Dabei beharrten sie keineswegs, wie Viehöver behauptet, auf einer strikten »Trennung von Kultur und Politik« (S. 81), sondern bemühten sich gerade um eine Synthese von Ästhetik und Nationalem, und dies bereits seit den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts.

[36] 

Die Herstellung dieser Synthese erfolgte immer auf zweifachem Wege. Zum einen über eine rege Sammeltätigkeit in allen Disziplinen zwecks Bereitstellung relevanter Informationen (man beachte zum Beispiel die Rubrikenpraxis der Zeitschriften, nämlich möglichst viele verschiedene Themen nebeneinander zu stellen), zum anderen über die Reintegration solcherart gewonnenen Wissens durch die Verwendung geeigneter literarischer Formen. In der Epoche der Rundschaupublizistik waren dies in erster Linie die kritischen Formen, vor allem die Essayistik.

[37] 

Interdiskurstheoretisch gesprochen, verwenden die Zeitschriften extensive (beziehungsweise additive oder akkumulative) und intensive Verfahren der Wissensintegration. In der Regel gehen beide Hand in Hand, 18 so dass Medium und verwendete Formen aufs engste korreliert sind. 19 Durch interdiskursive Bezugnahmen und Verweise stellt sich innerhalb der einzelnen Ausgaben einer Zeitschrift, aber auch über diese hinaus, eine komplexe Struktur her. So entsteht eine innere Einheit oder ein Abbild der ›Einheit der Kultur‹ in der eigentlich additiven Form der Zeitschrift − als mediale Konstruktion von kulturellen Zusammenhängen oder, um bei einer Formulierung Viehövers zu bleiben, als Kartierung des kulturellen Raumes. 20

[38] 

›Kunstwerk‹ versus ›Netzwerk‹

[39] 

Auch Viehöver macht in ihrer Monographie auf das »dichte […] diskursive Verweisungsnetz« (S. 153), welches sich in der Neuen Rundschau konstituiert, aufmerksam. Weil sie jedoch keine Vergleichsorgane aus der Rundschaupublizistik heranzieht, behandelt sie das Phänomen wiederum nur als singuläres, nur in dieser Zeitschrift vorkommendes. Der Netz- oder Zykluscharakter (S. 109) der Zeitschrift muss zum Beleg dienen für Viehövers These vom ›Kunstwerk‹ Neue Rundschau. Mit Grothe, den die Autorin an dieser Stelle zitiert, schließt sich die Zeitschrift als Netz über ihre Erscheinungsphase hin zu einem »großen Reigen, einem Kunstwerk der Publizistik, organisch zusammen«. 21 Hier lässt sich wirklich nicht mehr von »antihermeneutischen Methoden« (S. 61) bei der Analyse der Zeitschrift sprechen, die Viehöver im theoretischen Teil der Arbeit noch vehement eingefordert hatte. Die Neue Rundschau erscheint als das planvoll gestaltete, ›fragmentarische‹ und doch ›ästhetisch geschlossene‹ Werk eines kleinen Grüppchens von Intellektuellen, dem so genannten »Rundschau-Kreis« (S. 266), den näher zu bestimmen die Autorin sich jedoch hütet, weil sie sich an das Gebot der Vermeidung der Autor-Werk-Relation halten will. Eine genauere Betrachtung gerade des Autorenstammes wäre jedoch von Bedeutung gewesen, denn diskursanalytisch ist es durchaus von Interesse, wer spricht beziehungsweise sprechen darf, zwar nicht im Sinne eines autonomen Autorsubjekts, sondern in Hinblick auf die Frage, wie Aussagen überhaupt zustande kommen.

[40] 

Wer über die Zeitschrift als ›Knoten in einem Netz‹ sprechen möchte, sollte auch das Netz in Augenschein nehmen, in dem dieser Knoten angeordnet ist. Mit Bourdieu ließe sich fragen, wie sich das einzelne Periodikum im ›literarischen Feld‹ entwickelt und welche Stellung seine Akteure (Verleger, Redakteure, Mitarbeiter, Leser) dabei einnehmen. 22 Dies umso mehr, als für die Epoche der Rundschaupublizistik äußerst komplexe Verknüpfungsstrukturen nachzuweisen sind. Man geht sicher nicht zu weit, wenn man von einem Rundschau-Geflecht spricht, und zwar nicht nur von einem deutschen, sondern einem europäischen.

[41] 

Zwischen den einzelnen Rundschauzeitschriften bestehen vielfältige Beziehungen materieller, ideeller und personeller Art, insbesondere herrscht innerhalb des Rundschaufeldes eine starke Fluktuation von Mitarbeitern. So sind etwa Otto Brahm, Wilhelm Bölsche und Julius Meier-Graefe, die zu den bekanntesten Mitarbeitern der Neuen Rundschau gehören, für eine Vielzahl anderer Medien tätig gewesen, vor allem auch bei der Deutschen Rundschau. Nicht zu unterschätzen ist weiter die enge Verbindung von Zeitschrift und Buchmarkt. Viele Artikelserien aus Rundschauzeitschriften werden später als Monographien veröffentlicht, meist im Hausverlag des Blattes. Die Zeitschrift dient ihrem Verleger als wichtigstes Promotionsorgan seiner Produkte, indem etwa die Texte von Hausautoren zuerst hier abgedruckt werden. Häufig genug − so etwa bei den Grenzboten und eben der Neuen Rundschau − bildeten die Autoren des Verlages den Kern der Mitarbeiter der Zeitschrift, die sowohl Literatur in Fortsetzungen als auch Essays und Aufsätze für das Medium lieferten. 23

[42] 

Außer zum eigenen Verlag und zu anderen Zeitschriften des gleichen Typs bestanden darüber hinaus enge Beziehungen zur deutschen Tages- wie zur wissenschaftlichen Fachpresse. 24 Die deutschen Rundschauzeitschriften waren so Teile eines großen und dabei kleinmaschigen kulturellen ›Netzes‹, das sich darüber hinaus durch vielfältige Verbindungen zu europäischen Rundschauzeitschriften wie der Revue des deux Mondes, der Revue Universelle, der Nouvelle Revue Française, Blackwood’s Magazine etc. noch wesentlich erweiterte.

[43] 

›Autoren‹ − ›Autorengruppen‹

[44] 

Eine wichtige Begleiterscheinung des Aufstiegs der Rundschaupublizistik ist die Aufwertung des Publizisten als Autor. In der Frühzeit, also etwa zwischen 1870 und 1880, wurden die meisten Beiträge in erster Linie von Fachwissenschaftlern verfasst, weil man davon ausging, dass nur eine umfassende fachliche Ausbildung eine adäquate Wissensvermittlung gewährleiste. Seitdem jedoch setzte sich mehr und mehr die Überzeugung durch, dass der didaktische Anspruch besser über eine künstlerische Gestaltung des Textes erreicht werden könne. Infolge dessen wurden die Wissenschaftler, die nur ihr eigenes Fach bearbeitet hatten, mehr und mehr durch Autoren abgelöst, die eine Vielzahl von wissenschaftlichen und künstlerischen Themen ansprechend darzubieten in der Lage waren. In der Bewertung von Texten in Rundschauzeitschriften spielt es deshalb, interdiskurstheoretisch betrachtet, immer auch eine wesentliche Rolle, welcher Gruppe von Autoren sie entstammen.

[45] 

Viehöver stellt diese Autorfrage in ihrer Monographie nicht, im Gegenteil: Sie nimmt eine Spaltung vor in ›Wissenschaftler‹ und ›Künstler‹, wobei die Wissenschaftler (und dadurch auch der Bereich der Naturwissenschaft) aufgrund des Primats des ›Ästhetischen‹ fast völlig vernachlässigt werden. Der angenommene Antagonismus beider ›Parteien‹ beeinträchtigt wiederum die Ergebnisse der Untersuchung. So unterstellt die Autorin etwa, dass Samuel Saenger (1864−1944), Redakteur der Politischen Chronik der Neuen Rundschau seit 1908, vor allem deshalb eingestellt worden sei, weil er als nationalliberaler Staatswissenschaftler über die »notwendige Kompetenz« (S. 104) verfügt habe, die Chefredakteur Oskar Bie (1864−1936) als Kunsthistoriker offenbar nicht hatte haben können. Es geht hier jedoch nicht um eine je individuelle Kompetenz. Beide, Bie und Saenger, gehörten dem Typus des modernen Publizisten an. Bie hatte neben Kunstgeschichte auch Philosophie und Musikgeschichte studiert und vor seiner Tätigkeit in der Neuen Rundschau vor allem für den Börsen-Courier, den Kunstwart und die Freie Bühne gearbeitet. 25 Saenger war ebenfalls für die Freie Bühne tätig, und zwar mit in erster Linie literatur- und kunstkritischen Beiträgen. 26 Die Autoren waren also nicht nur Fachexperten, sondern sie verfügten darüber hinaus über eine große thematische und künstlerische Bandbreite. Sie besaßen jene integrativen Qualitäten, die für die Zeitschrift nötig waren.

[46] 

Zeitschrift ohne Publikum?

[47] 

Innerhalb des Rundschau-Geflechtes ist insbesondere eine Gruppe gesellschaftlicher Akteure von existentieller Bedeutung: das Publikum. Große Rundschauzeitschriften waren teure Unternehmungen, denen es auf eine ständige Steigerung der Auflagenzahlen ankommen musste. Das bedeutete, dass sich die Gestaltung der Zeitschrift in erster Linie nach dem Publikumsgeschmack zu richten hatte und dass das, modern gesprochen, ›Format‹ fortlaufend an die sich wandelnden Bedürfnisse der Leserschaft angepasst werden musste. Die Hauptzielgruppe der Zeitschriften war das gebildete Bürgertum. In den Anfängen der Rundschaupublizistik hatte man in erster Linie die höheren Schichten im Blick, also vor allem die studierte Bildungselite. Mit dieser Schicht allein ließ sich jedoch keine Zeitschrift finanzieren, geschweige denn vergrößern. Deshalb setzt in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts in allen Medien ein Trend zur Popularisierung ein, der sich sowohl stilistisch als auch in der Verwendung neuer publizistischer Formen und Inhalte äußert. War vor 1880 die fachwissenschaftliche Studie dominant, so setzten die Zeitschriften danach verstärkt auf Essayistik und Feuilleton, beides Gattungen, die unterhaltsamen und informativen Charakter vereinigen. Die Abwendung vom Elitepublikum zeigt sich auch daran, dass zunehmend auf unübersetzte fremdsprachige Zitate und sperrige Anmerkungsapparate verzichtet wird. Durch solche Adaptionsleistungen gelang es auch der Neuen Rundschau, ihre Auflage von 1000 Stück (1898) auf 7000 (1911) zu steigern. 27

[48] 

Diese Notwendigkeit zur Publikumsorientierung einer Zeitschrift steht nun allerdings Viehövers Konzept des ›organischen Kunstwerks‹ diametral entgegen. Ihre Vorstellung der Neuen Rundschau als eines kleinen Kreises von Intellektuellen, der mittels seines Organs ästhetische und nationale Positionen intern autark verhandelte, verträgt sich nicht mit dem Faktum, dass das Blatt publikumswirksam sein musste, oder, wie Viehöver indigniert schreibt, »Verleger und Redakteure mußten sich stets im klaren darüber sein, daß ihrer planvollen Lenkungstätigkeit die Interpretationsarbeit autonomer Leser gegenüberstand« (S. 109). Es offenbart sich wiederum ein merkwürdig ästhetizistisches Verständnis der Gattung Zeitschrift als einer Art Salon, ein Salon allerdings, der im luftleeren Raum agiert.

[49] 

Zwar räumt die Autorin ein, dass für die ›Vollendung‹ des Kunstwerks Neue Rundschau der »Prozeß der Lektüre, die als eigener, schöpferischer Akt verstanden werden muß« (S. 108), erforderlich wird, aber wie diese Rezeption aussehen könnte, wird nicht thematisiert, außer ein einziges Mal in einem kurzen Zitat des Mitarbeiters (und Lesers) Hugo von Hofmannsthal, der aber schwerlich als Durchschnittsleser gelten kann (S. 108 f.). Dass er zitiert wird, ist allerdings symptomatisch: Für Viehöver braucht das Kunstwerk Zeitschrift den angemessenen, man kann sagen, eingeweihten Leser. Im Kreise der Eingeweihten allerdings kommt es offensichtlich nicht auf das wichtigste Ziele der Rundschaupublizistik, die (Volks-)Bildung, an. Das Projekt der Einheit der Kultur hat ja letztlich zum Zweck, genuin didaktisch zu wirken, möglichst viele Vertreter des eigenen Volkes auf einen Wissensstand zu bringen oder, wie es im zeitgenössischen Sprachgebrauch heißt, die Bürger ›auf eine höhere Kulturstufe zu heben‹.

[50] 

›Rundgespräche‹:
Neue Rundschau und
Nouvelle Revue Française

[51] 

Indem Viehöver den »Rundschau-Kreis« als ästhetischen Salon darstellt, ergibt sich für die Monographie eine folgenreiche theoretische Unschärfe: Der interdiskurstheoretische Ansatz gerät in Gefahr, ins interaktionistische Modell überzugehen. Besonders deutlich wird dies im Kapitel über die »›Schwesternzeitschriften‹: ›Neue Rundschau‹ und ›Nouvelle Revue Française‹ im Dialog«. Schon die Terminologie ist problematisch, »treffen« sich hier doch, der Autorin zufolge, »Rundschau-Kreis« und »N.R.F.-Gruppe« (S. 264) zum »Europäischen Rundgespräch« oder »Konzert« (S. 15). Die anschließende Darstellung inszeniert das Verhältnis beider Zeitschriften als Dialog von wenigen, exemplarischen Vertretern, den prominentesten zumal: auf deutscher Seite der Chefredakteur Rudolf Kayser, der politische Redakteur Samuel Saenger sowie die Schriftsteller Heinrich Mann, Thomas Mann und Otto Flake. Auf französischer Seite der Germanist Félix Bertaux, N.R.F.-Gründungsmitglieder Jean Schlumberger und André Gide, der Philosoph Bernard Groethuysen und Jacques Rivière. Zwischen diesen Personen, so muss es man formulieren, werden freundschaftliche Bande geknüpft: »Die Sympathie war gegenseitig« (S. 258).

[52] 

In der Folge kommt es Viehöver weniger auf das eigentliche Thema ihrer Monographie an, nämlich auf die Analyse diskursiver Strukturen, die sich erst »in der Zusammenschau zahlreicher thematisch divergenter Beiträge« ergeben (S. 17, Hervorhebung E. J.), sondern auf die »Konvergenzen« in den programmatischen und politischen Haltungen der prominenten Protagonisten. 28 Dadurch jedoch fällt, salopp formuliert, alles unter den Tisch, was interdiskurstheoretisch und funktionsanalytisch von Interesse gewesen wäre. So erfährt der Leser nur en passant, dass beide »Kreise« positiv auf einen Beitrag von Ernst Robert Curtius im Neuen Merkur reagierten (S. 262), 29 oder dass Heinrich Mann für beide Blätter schrieb (S. 270). Beides wären Indizien gewesen für das europäische Rundschau-Geflecht. Viehöver geht dem aber nicht nach, sondern stellt, innerhalb ihrer Konzeption des Kunstwerkes, dem Solitär Neue Rundschau das gleichgeartete Pendant Nouvelle Revue Française zur Seite.

[53] 

In diesem Zusammenhang ist es besonders bedauerlich, dass die in der Einleitung angedeuteten Beziehungen der Neuen Rundschau zu anderen europäischen Kulturzeitschriften nicht weiter ausgeführt wurden. 30 Insgesamt betrachtet, hätte eine Verbreiterung der Materialbasis der Arbeit entscheidende Impulse geben und das theoretische Changieren zwischen Hermeneutik, Interaktionismus und Interdiskurstheorie verhindern können. Vor allem aber darf bezweifelt werden, dass innerhalb der Gesamtformationen der Zeitschriften eine derart ungetrübte Eintracht der Positionen geherrscht haben sollte. Ob es nun um die (behauptete) grundsätzlich apolitische Haltung beider Blätter geht (S. 260) oder um die Überzeugung, die europäische Erneuerung müsse auf genuin ästhetischem Weg erfolgen (S. 260), die Kritik germano- beziehungsweise frankophober Tendenzen wird allseits »freudig […] begrüßt« (S. 269), der ästhetische Salon präsentiert sich in seltener Einmütigkeit.

[54] 

Nur verhalten scheint dabei auf, dass die deutsch-französische Verständigung ein äußerst schwieriger Prozess war. Die ›stürmische Auseinandersetzung‹ (Mattenklott) geht in einem vagen Kosmopolitismus der Protagonisten unter, dieser aber, und das ist bezeichnend, wird am Ende denn doch auf der Seite der Neuen Rundschau verbucht, die sich, stärker als die ›Schwester‹, die »Aufgabe der Aufklärung« zu eigen gemacht und die »Weichen für die Korrektur des einstigen Feinbildes« gestellt habe (S. 273). Zugunsten des ›ästhetischen Salons‹ gibt Viehöver die eigene Forderung, eben nicht den expliziten ›Willenskundgebungen‹ von Herausgebern und Chefredakteuren Glauben zu schenken, auf.

[55] 

Materialprobleme

[56] 

An der Darstellung des Verhältnisses zwischen Neuer Rundschau und Nouvelle Revue Française offenbart sich ein weiteres Grundproblem: Viehöver trifft an keiner Stelle Aussagen darüber, welche Sichtungs- und Verarbeitungsmethoden sie angewandt hat und geht auch nicht auf das spezifische Erscheinungsbild des Mediums ein. Der Leser erfährt nichts über die Rubrikenaufteilung der Zeitschrift, nichts über die verwendeten literarischen beziehungsweise publizistischen Formen, nichts über die Struktur der Mitarbeiterschaft, nichts über die behandelten Themen. Und das bedeutet, er erfährt auch nichts darüber, wie sich diese Faktoren im Laufe des Untersuchungszeitraumes verändern und was dies für Auswirkungen auf die »Diskurse der Erneuerung« in der Neuen Rundschau hat.

[57] 

Für Viehöver ist die »mediale Entwicklung der Zeitschrift« 1907 »im wesentlichen abgeschlossen« (S. 110). Innerhalb der Stilisierung der Neuen Rundschau nach 1918 zum Kunstwerk begreift sie die Zeitschrift als eine Art »überzeitliche […] Gemeinschaft« (S. 83) und macht sich die Position Giesens zu Eigen, dass die (textuelle) Kommunikation von Intellektuellen »zur Konstruktion einer übersozialen, unsichtbaren und zeitlosen Welt« führe. 31 Bei einem methodischen Ansatz, der auf der Basisannahme beruht, dass »(nationale) Kulturen nicht als ›überzeitliche, widerspruchsfreie homogene und eigensinnige Entitäten‹« anzusehen seien (S.13), 32 ist die Vorstellung einer solchen ›zeitlosen Zeitschrift‹ zumindest fragwürdig.

[58] 

Die von Viehöver angewandte Sichtungsmethode schließlich sei anhand eines kleinen Rechenexempels näher beleuchtet. Das Gesamtuntersuchungsvolumen beträgt 16 Jahrgänge (1918−1933), das sind für die Neue Rundschau 32 Bände à ca. 1.000 Seiten, also etwa 32.000 Seiten. Nehmen wir als Beispiel den Österreich-Abschnitt des erwähnten Kapitels. Viehöver stützt sich hier auf insgesamt 22 Artikel aus acht Jahrgängen. Von diesen 22 Artikeln werden sechs nur in den Fußnoten genannt, stammen allein fünf aus dem so genannten Hofmannsthal-Sonderheft vom November 1929 und weitere drei aus dem Österreich-Sonderheft vom Juni 1923. Ein Artikel beschäftigt sich mit den USA, ein zweiter wird ohne Angabe der Datierung aus der Sekundärliteratur zitiert. Beinahe alle Texte entstammen den Bereichen Politik und Kunst und sind von prominenten Verfassern. 33

[59] 

Bei diesem Umgang mit den Quellen ist Viehövers Ansatz der ›Mehrstimmigkeit‹ und der ›Beitragsvielfalt‹ nicht durchführbar. Sie reduziert 16 Jahre Diskurs auf die Hälfte und setzt dann auch noch Schwerpunkte in den Sonderheften. Um verlässliche Aussagen zu treffen, hätte man das Thema zumindest noch durch die ganzen Jahrgangsbände verfolgen und sich auch etwa Texte aus den Bereichen Wissenschaft, Geschichte, Wirtschaft, Reisen usw. ansehen müssen. Besonders prekär wird es dann, wenn die Autorin Fremdtexte heranzieht, um Diskurspositionen in der Neuen Rundschau zu belegen. 34 Viehöver schildert einen exemplarischen Diskurs exemplarischer Vertreter, der zudem nicht in seiner chronologischen Entwicklung dargeboten wird und somit den Charakter des Geschlossenen und Überzeitlichen erhält.

[60] 

Interdiskurstheoretisch beziehungsweise diskurshistorisch betrachtet, wäre Viehövers Methode der »Zusammenschau zahlreicher thematisch divergenter Beiträge, und zwar sowohl genuin literarischer bzw. essayistischer als auch wissenschaftlicher und kunstkritischer« Art (S. 17, Hervorhebung E. J.) zu begrüßen, wenn sie denn umgesetzt worden wäre. Tatsächlich aber spaltet die Autorin die Diskurse ein ums andere Mal, indem sie etwa in Kapitel IV die verschiedenen Disziplinen − signifikanterweise nur aus dem Gebiet der Kunst − nacheinander behandelt (»Dichtung ohne Welt: Literaturkritik«, »Kunst ohne Gegenstand: Kritik der bildenden Künste«, »Baukunst ohne Sinnlichkeit: Architekturkritik«, »Tonkunst ohne Melos: Musikkritik«). Auch ist nicht wirklich einzusehen, warum insgesamt der ›Diskurs der Erneuerung‹ in ästhetischen Diskurs (Kapitel IV) und nationalen Diskurs (Kapitel V) aufgeteilt wird. Für das Ziel der Monographie, nämlich den Nachweis der Synthese beider Diskurse, scheint dieses Verfahren wenig dienlich.

[61] 

Zum Status
literarischer Formen

[62] 

Viehöver macht in ihrer Arbeit nicht kenntlich, um welche Textgattungen es sich bei den von ihr verwendeten Artikeln handelt. Für die interdiskurstheoretische Analyse der Rundschaupublizistik ist es jedoch auch nicht gleichgültig, welche Aussagen in welcher literarischen Form getroffen werden. Das Feuilleton gehorcht anderen Gesetzen als die literaturwissenschaftliche Studie. Viehöver hätte zumindest an irgendeiner Stelle definieren müssen, was sie unter ›genuin literarischen beziehungsweise essayistischen als auch wissenschaftlichen und kunstkritischen‹ Formen verstanden haben will. Bei näherer Betrachtung ergibt sich, dass die verwendeten Texte in erster Linie essayistischer Natur sind, getreu Viehövers an Adorno angelehnter Auffassung des Essays als reine Kunstgattung: Ihn kennzeichne,

[63] 
daß er die prinzipielle Unabgeschlossenheit des Wissens in seiner Form abbildet und somit gegen das cartesische Ideal einer ›zweifelsfreien Gewissheit‹ die ›offene geistige Erfahrung‹ ausspielt. Wie der Essay als literarische Form, zumindest seiner idealtypischen Bestimmung nach, offen und experimentell angelegt ist und jeden totalitären Wissensanspruch negiert, so ist auch die Zeitschrift ein Medium des Perspektivischen und Antitotalitären. (S. 36 f.)
[64] 

Hier kommt also wieder der bereits bekannte Ästhetizismus zum Tragen, beispielsweise, wenn es über einen Beitrag Fritz von Unruhs heißt, dessen »(mindere) künstlerische Qualität« sei »an dieser Stelle von untergeordneter Bedeutung« (S. 217) − gemäß des interdiskurstheoretischen Ansatzes dürfte diese ›Qualität‹ aber überhaupt nicht von Bedeutung sein.

[65] 

Innerhalb des Untersuchungsdesigns käme es weniger auf den ›Kunststatus‹ des Essays an, als auf seinen grundlegend interdiskursiven Status. Der Essay entwickelt sich in Deutschland erst nach 1870 zu einer gängigen Form der Publizistik, Literatur und Dichtung und wird als eigenständige Prosagattung anerkannt, das heißt, seitdem findet eine intensive poetologische und philosophische Reflexion über die Gattungsmerkmale statt. Ort dieser Reflexion und der Entwicklung der Gattung ist die (Rundschau-) Zeitschrift. Der Essay als ars combinatoria hat, interdiskursiv reformuliert, die Aufgabe, fortlaufend neue »Konfigurationen« seines Gegenstandes zu erzeugen, das heißt, eine

[66] 
aus einer je spezifischen Perspektive erfolgende […] Integration von Spezial- und Interdiskursen [zu leisten] mit dem Ziel, […] Wissenssynthesen sowohl für individuelle als auch für kollektive Subjektivierungen und die mit ihnen verknüpften politisch-thematischen Gesinnungen und Haltungen applizierbar zu machen. 35
[67] 

Die beiden Pole oder Spezialdiskurse, zwischen denen der Essay ›changiert‹, sind ›Wissenschaft‹ und ›Literatur‹. Dieses Changieren prädestiniert ihn mehr als jede andere Gattung in der Epoche der Rundschaupublizistik zur Form der Wahl. Aber nicht nur jeder einzelne Text stellt Wissenssynthesen beziehungsweise interdiskursive Bezüge her, sondern die Gattung gestattet es darüber hinaus, innerhalb des Mediums Zeitschrift Verknüpfungen zwischen unterschiedlichen formalen und inhaltlichen Komplexen herzustellen. Im Zusammenhang mit der Essayistik der Rundschauzeitschriften nach 1870 habe ich diese Erscheinung kontextuelles Feld genannt. Ein Thema − beziehungsweise mehrere Themen − wird zunächst mit einem ›Großessay‹ eingeführt und anschließend rubrikenübergreifend in den unterschiedlichsten thematischen Aspekten und textuellen Formen verarbeitet, so dass ein netzartiges Panorama entsteht. 36

[68] 

Der Befund, dass fast sämtliche von Viehöver verwendeten Quellen Essays sind, spricht somit weniger für den Kunstcharakter, als für den interdiskursiven Charakter der Zeitschrift; hätte die Autorin von ihrer gewissermaßen ›inoffiziellen‹ Methode, die Neue Rundschau als Kunstwerk zu analysieren, Abstand genommen, so wäre ihre Hauptthese von der Synthese des Ästhetischen und Nationalen mittels übergreifender Diskurselemente entscheidend zu untermauern gewesen.

[69] 

Fazit:
Diskurse der Erneuerung –
›Neue‹ Diskurse?

[70] 

Viehövers Grundproblem, das theoretische Changieren zwischen Hermeneutik, Interaktionismus und Interdiskurstheorie, beeinträchtigt schließlich in hohem Maße die Ergebnisse der Untersuchung. Eingangs hatte die Autorin als Hauptziel formuliert, zu zeigen, »daß das Projekt der Kartierung kultureller Räume nach dem Ersten Weltkrieg als eine Praxis öffentlichen Schreibens gesehen werden kann, in der nationale und ästhetische Kategorien eine unauflösliche Synthese eingehen« (S. 27). Die Beschreibung dieser ›öffentlichen‹ Praxis wird jedoch wiederum nicht in der ›Mehrstimmigkeit‹ beziehungsweise der ›Zusammenschau‹ einer Vielzahl thematisch divergenter Beiträge realisiert, sondern im reduzierten Blick auf den Diskurs weniger prominenter Kulturprotagonisten. So steht Neue Rundschau-Chefredakteur Rudolf Kayser exemplarisch für den ästhetischen (Kapitel IV.2), Thomas Mann für den nationalen Diskurs der Erneuerung (Kapitel V). Den Höhepunkt dieses repräsentativen Diskurses schließlich bilden die Unterkapitel »Der Dichter als Führer der Nation« (Kapitel V.1.3.) und »›So deutsch und so undeutsch‹: Österreich als kultureller Raum« (Kapitel V.2.1.), die Gerhart Hauptmanns und Hugo von Hofmannsthals »exemplarisches ›Deutschtum‹« (S. 213) in den Mittelpunkt der Analyse stellen.

[71] 

Aus den wenigen Beiträgen exemplarischer Autoren extrahiert Viehöver anschließend die ›Brückenelemente‹ und ›Scharnierstellen‹, die den ästhetischen und den nationalen Diskurs der Erneuerung verzahnen sollen, und zwar in Form von antithetischen Begriffspaaren: Organismus vs. Mechanismus, Gemeinschaft vs. Individuum, Geist vs. Materie, Substanz vs. Form (vgl. S. 148). Diese ›Scharniere‹ avancieren dann in einem weiteren Reduktionsschritt zu »Variationen über ein einziges Thema«: die existentielle Krise des Künstlers, seinen »Verlust der Erfahrung eines Absoluten, überzeitlich Gültigen« (S.181 f.). Hier geht es, Viehövers selbst gewähltem Ansatz genau entgegengesetzt, nicht mehr um die »Mechanismen«, welche »heterogene Einzeldiskurse miteinander verschalt[en]«, sondern gerade um die »Intentionen der einzelnen Autoren« (S. 65), wird, nach dem ›Kunstwerk‹ Zeitschrift der Urheber desselben, der ›Künstler‹ in den Blick genommen.

[72] 

Die Stilisierung des Diskurses der Erneuerung zum überzeitlichen Diskurs des exemplarischen Künstlers konterkariert so letztlich auch den imagologischen Ansatz der Untersuchung. Viehöver orientiert sich im Wesentlichen an Ruth Florack. Von ihrem theoretischen Ansatz her teilt sie Floracks Kritik an der Auffassung der Aachener Schule, wonach literarische Nationenbilder »repräsentativ [seien] für Kollektivvorstellungen und sich sogar, zeitübergreifend, zu einem Gesamtbild addieren lassen« und fordert,

[73] 
daß jede Studie den Status ihres jeweiligen Gegenstandes ›in seinem − geschichtlich besonderen − kulturellen Kommunikationszusammenhang zu klären‹ habe und reflektieren müsse, ›auf welcher Ebene und in welchem Modus von Fremdem und Eigenem gesprochen wird‹ (S. 189). 37
[74] 

Diese Klärung aber findet nicht statt. Auch in Bezug auf Nationenstereotype verzichtet Viehöver auf die historische Fundierung des Themas und die funktionsanalytische Beschreibung des Gegenstandes. Die präsentierten Imagines erhalten so den Charakter des Zeitlosen. Interdiskurstheoretisch aber wäre gerade von Interesse gewesen, inwieweit die »Diskurse der Erneuerung« ›altes‹ und ›neues‹ Diskursmaterial integrieren. Interdiskurse stellen »eine Art Reservoir von Anschauungsformen« dar, mit deren Hilfe »spezialdiskursive Sachverhalte, aktuelle Ereignisse, aber auch […] Alltagserfahrungen« codiert werden können. 38 So stellt Viehöver etwa fest, dass während des Ersten Weltkriegs in der Neuen Rundschau ein »Mechanismus« auftritt, den sie als die »Externalisierung des inneren Feindes« bezeichnet, das heißt eine Projektion als negativ empfundener eigener Eigenschaften auf den Kriegsgegner (S. 124). Dieser Befund würde im Rahmen des interdiskurstheoretischen Ansatzes entscheidend gewonnen haben, wenn man ihn zu ähnlich gelagerten Diskursen in der Rundschaupublizistik der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts in Beziehung gesetzt hätte, zum Beispiel der Debatte um »innere und äußere Kolonisation« oder den Berliner Antisemitismusstreit.

[75] 

Insgesamt betrachtet, behindert Viehövers Primat des ›Ästhetischen‹ die interdiskursive Analyse des (vorgeblich) ›Nicht-Ästhetischen‹, des Nationalen und Imagologischen erheblich. Fast erleichtert resümiert die Autorin in ihrer »Schlussbetrachtung« denn auch, dass »[p]olitische Gesinnung und ästhetische Positionsbestimmung« in den Diskursen der Neuen Rundschau »letztlich nicht zur Deckung« kämen (S. 326). Die Synthese beider sieht sie dennoch gelungen: »im Medium selbst [ist] die Idee eines hybriden publizistischen Kunstwerks verwirklicht« (S. 327).



Anmerkungen

Bereits 1974 hat Paul Raabe, der Nestor der Bibliographie moderner deutscher Literatur, die eingehende Analyse literarischer Periodika und die Erschließung des gesamten in historischen Zeitschriften enthaltenen Materials als »unaufschiebbares Desideratum« bezeichnet, trotzdem konnte Michael Nagel noch 2002 konstatieren, dass die »periodische Presse früherer Zeiten […] einen ungehobenen Schatz dar[stelle]«, dessen »imponierende Vielfalt« bislang nur »punktuell« genutzt worden sei. Paul Raabe: Die Zeitschrift als Medium der Aufklärung. In: Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 1 (1974), S. 99–136, hier S. 99 f. Michael Nagel: Einleitung. In: M. N.: Zwischen Selbstbehauptung und Verfolgung. Deutsch-jüdische Zeitungen und Zeitschriften von der Aufklärung bis zum Nationalsozialismus. Hildesheim 2002, S. 1–4, hier S. 1.   zurück
Gerd Mattenklott: Spuren eines gemeinsamen Weges. Deutsch-jüdische Zeitschriftenkultur 1910−1933. In: Merkur 42.2 (1988), S. 550–581, hier S. 570.   zurück
Neben der hier besprochenen Monographie gibt es bislang nur eine Handvoll Arbeiten: Karl Ulrich Syndram: Die ›Rundschau‹ der Gebildeten und das Bild der Nation. Untersuchungen zur komparatistischen Bedeutung eines Typs bürgerlich-liberaler Zeitschriften für die Vermittlung nationaler Kunst- und Kulturvorstellungen im deutschen Sprachgebiet (1871−1918). Aachen 1988. K. U. S.: Kulturpublizistik und nationales Selbstverständnis. Untersuchungen zur Kunst- und Kulturpolitik in den Rundschauzeitschriften des deutschen Kaiserreiches (1871–1914). Berlin 1989. Birgit Kuhlhoff: Bürgerliche Selbstbehauptung im Spiegel der Kunst. Untersuchungen zur Kulturpublizistik der Rundschauzeitschriften im Kaiserreich (1871–1914). Bochum 1990. Esther Leroy: Konstruktionen des Germanen in bildungsbürgerlichen Zeitschriften des deutschen Kaiserreichs (Imaginatio borealis. Bilder des Nordens 6) Frankfurt / Main 2004.   zurück
In jüngster Zeit erleichtern auch in Deutschland Digitalisierungsprojekte für Zeitschriften die Arbeit. Verwiesen sei an dieser Stelle auf die Elektronische Zeitschriftenbibliothek (EZB), ein Verbundprojekt von bislang 349 Bibliotheken und Einrichtungen. Das Verzeichnis der EZB der Universität Bielefeld enthält derzeit 23.000 Einträge, 13.000 Titel sind im Volltext verfügbar.   zurück
Paul Raabe: Index Expressionismus. Bibliographie der Beiträge in den Zeitschriften und Jahrbüchern des literarischen Expressionismus 1910−1925. 8 Bde. Nendeln 1972 ff. Thomas Dietzel / Hans-Otto Hügel: Deutsche Literarische Zeitschriften 1880−1945. Ein Repertorium. 5 Bde. München 1988 ff. Alfred Estermann: Die deutschen Literaturzeitschriften 1850−1880. Bibliographien − Programme. 5 Bde. München, New York 1988/89. A. E.: Die deutschen Literaturzeitschriften 1815−1850. Bibliographien, Programme, Autoren. 11 Bde. München 1991 ff. A. E.: Inhaltsanalytische Bibliographien deutscher Kulturzeitschriften des 19. Jahrhunderts. 10 Bde. München 1995 ff. Armin A. Wallas: Zeitschriften und Anthologien des Expressionismus in Österreich. Analytische Bibliographie und Register. 2 Bde. München 1995.   zurück
Andreas Herzog: Was vermag eine inhaltsanalytische Zeitschriftenbibliographie? Eine Erläuterung am Beispiel von Armin A. Wallas’ Projekt »Zeitschriften und Anthologien des Expressionismus in Österreich« (11.11.1999). In: Trans. Internetzeitschrift für Kulturwissenschaften 4 (Oktober 1999). URL: http://www.inst.at/trans/4Nr/herzog4.htm [04.10.2004].   zurück
Vgl. Günter Kieslich: Zeitschrift. In: Emil Dovifat (Hg.): Handbuch der Publizistik. Unter Mitarbeit führender Fachleute. Bd. 3: Praktische Publizistik. 2. Teil. Berlin 1969, S. 370–383, hier S. 382.   zurück
Vgl. etwa Jürgen Link: Literaturanalyse als Interdiskursanalyse. Am Beispiel des Ursprungs literarischer Symbolik in der Kollektivsymbolik. In: Jürgen Fohrmann / Harro Müller (Hg.): Diskurstheorien und Literaturwissenschaft. Frankfurt / Main 1988, S. 284–307.   zurück
Vgl. Ute Gerhard: Diskurstheorien und Diskurs. In: Ansgar Nünning (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze − Personen − Grundbegriffe. Stuttgart, Weimar 1998, S. 95–98, hier S. 96.   zurück
10 
Rolf Parr: ›Sowohl als auch‹ und ›weder noch‹. Zum interdiskurstheoretischen Status des Essays. In: Wolfgang Braungart / Kai Kauffmann (Hg.): Essayismus um 1900. Heidelberg 2006, S. 1–14, hier S. 10.   zurück
11 
Vgl. Ansgar Nünning: Kulturwissenschaft. In: Ansgar Nünning (Anm. 9), S. 99–302, hier S. 301.   zurück
12 
Wolfgang Schivelbusch: Die Kultur der Niederlage. Der amerikanische Süden 1865, Frankreich 1871, Deutschland 1918. Darmstadt 2002.   zurück
13 
Viehöver übersieht dabei die ›Gattungs‹-Orientierung von Schillers publizistischen Konzepten: Die ästhetische Erziehung kleiner Kreise war immer dazu gedacht, eine stetig wachsende Breitenwirkung zu erzielen und zuletzt auf die ganze Nation ausgedehnt zu werden.   zurück
14 
Schlegel selbst allerdings schreibt in seinem Geleitwort zum zweiten Jahrgang des Deutschen Museums, Aufgabe der Zeitschrift sei, »Deutsche Sprache und Geschichte, deutsche Kunst und Erkenntniss nach unsern besten Kräften zu befördern«. Friedrich Schlegel: Deutsches Museum. Zweyter Jahrgang 1813. In: Deutsches Museum (1813), Bd. 2, S. 463.   zurück
15 
Vgl. Anm. 3 und 5.   zurück
16 
Darauf rekurriert übrigens Neue Rundschau-Chefredakteur Oskar Bie, wenn er 1911 schreibt, die Neue Rundschau habe »das feste Ziel, alle Gebiete der Produktion und des Wissens, nur wenn sie auf eine persönliche Anschauung und künstlerische Kraft eingestellt sind, zu pflegen«. [Oskar Bie]: Die neue Rundschau. In: Das XXVte Jahr (Almanach des S. Fischer-Verlages) Berlin 1911, S. 67–82, hier S. 81.   zurück
17 
Kai Kauffmann / Erdmut Jost: Diskursmedien der Essayistik um 1900: Rundschauzeitschriften, Redeforen, Autorenbücher. Mit einer Fallstudie zur Essayistik der Grenzboten. In: Wolfgang Braungart / Kai Kauffmann (Anm. 10), S. 15–36, hier S. 16.   zurück
18 
Rolf Parr (Anm. 10), S. 6.   zurück
19 
Ebd., S. 13.   zurück
20 
Vgl. Kai Kauffmann / Erdmut Jost (Anm. 17), S. 34.   zurück
21 
Klaus Grothe: Die Neue Rundschau des Verlages S. Fischer. Ein Beitrag zur Publizistik und Literaturgeschichte der Jahre von 1890 bis 1925. In: Archiv für die Geschichte des Buchwesens 4 (1963), Sp. 808–996, hier Sp. 811 f.   zurück
22 
Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt / Main 1999.   zurück
23 
Die berühmtesten Autoren der Neuen Rundschau waren sicherlich Robert Musil, Otto Flake, Jakob Wassermann, Hugo von Hofmannsthal, Alfred Döblin und Thomas Mann; für die Grenzboten wären zum Beispiel Erich Schmidt, Otto Ludwig, Robert Waldmüller, Moritz Busch und Adolf Rosenberg zu nennen.   zurück
24 
Diese Vernetzung sei am Beispiel Georg Simmels erläutert: Zwischen etwa 1880 und 1917 schrieb Simmel für ca. 33 verschiedene Periodika. Darunter waren die bekannten Rundschauzeitschriften wie Die Neue Rundschau, Die Zukunft, Nord und Süd, Der Kunstwart und andere, Tageszeitungen wie das Berliner Tageblatt, die Vossische Zeitung, die Frankfurter Zeitung und andere, aber auch Fachzeitschriften unterschiedlicher Disziplinen wie die Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft, das Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik oder das Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft. Schließlich verfasste Simmel auch Beiträge für Kunstmagazine, etwa Dekorative Kunst. Illustrierte Zeitschrift für Angewandte Kunst, und, in diesem Zusammenhang besonders bedeutsam, für ausländische Blätter wie die Österreichische Rundschau, die Zeit. Wiener Wochenschrift für Politik, Volkswirtschaft, Wissenschaft und Kunst und die italienische Scientia. Rivista di scienza. Organo internazionale di sintesi scientifica.   zurück
25 
Vgl. Karl Ulrich Syndram 1989 (Anm. 3), S. 113.   zurück
26 
Vgl. ebd., S. 118.   zurück
27 
Vgl. den Brief S. Fischers an Arthur Schnitzler. Zit. bei: Peter de Mendelssohn: S. Fischer und sein Verlag. Frankfurt / Main 1970, S. 185. S.a. Fritz Schlawe: Literarische Zeitschriften. Teil 1885–1910. Stuttgart 1961, S. 27.   zurück
28 
Vgl. die Titel der Unterkapitel, »Programmatische Konvergenzen« und »Politische Konvergenzen«.   zurück
29 
Bezeichnenderweise zitiert Viehöver hier Thomas Mann, der den Artikel von Curtius erst dann »glänzend« fand, »da ich von André Gide erfuhr, er habe diese Befriedigung geteilt«. Thomas Mann: Das Problem der deutsch-französischen Beziehungen. In: Neuer Merkur 5 (1921/22), Heft 12, S. 649–666, hier S. 649. Vgl. in der vorliegenden Monographie S. 262 f.   zurück
30 
Vgl. S. 16 der vorliegenden Monographie. Viehöver nennt Criterion (hg. von T. S. Eliot), Neue Schweizer Rundschau (hg. von Jakob Burckhardt), Convegno (hg. von Enzo Ferrieri) und Revista de Occidente (hg. von Ortega y Gasset).   zurück
31 
Vgl. Bernhard Giesen: Die Intellektuellen und die Nation. Eine deutsche Achsenzeit. Frankfurt / Main 1993, S. 81.   zurück
32 
Der Text in einfachen Anführungszeichen stammt aus: Alois Wierlacher: Kulturwissenschaftliche Xenologie. Ausgangslage, Leitbegriffe und Problemfelder. In: A. W. (Hg.): Kulturthema Fremdheit. Leitbegriffe und Problemfelder kulturwissenschaftlicher Fremdheitsforschung. Mit einer Bibliographie von Corinna Albrecht, Ulrich Bauer, Sabine Krolzig und Dunja Schiller. München 1993, S. 19–112, hier S. 45.   zurück
33 
Es handelt sich um folgende Beiträge: In Fußnoten: Hermann Bahr: Österreich. (1915) [Anm. 8, S. 231 f.], Franz Weyr: Der Zerfall Österreichs (1918) [Anm. 9, S. 233], Revindex: Der deutsche Gedanke an der Donau (1923) [Anm. 13, S. 233 f.], Thomas Mann: [Grußadresse an Schnitzler] (1922) [Anm. 46, S. 242], Paul Zucker: Baukunst in Deutschland (1923) [Anm. 58, S. 244], Otto Flake: Robert Müller (1924) [Anm. 78, S. 249]. Hofmannsthal-Sonderheft: Jakob Wassermann: Hofmannsthal der Freund (1929) [S. 242 f.], Raoul Auernheimer: Hofmannsthal als österreichische Erscheinung (1929) [S.243], Ernst Robert Curtius: Hofmannsthal und die Romanität (1929) [S.247 f.], Heinrich Eduard Jacob: Österreichische Form (1929) [S. 245 f.], Max Mell: Hofmannsthals Werk (1929) [S. 248]. Österreich-Sonderheft: Hugo von Hofmannsthal: Österreich im Spiegel seiner Dichtung (1923) [S. 237 f.], Robert Müller: Der letzte Österreicher (1923) [S. 249 f.], R. M.: Austria…ultima (1923) [S. 249 f.]. Die beiden bereits unter Fußnoten genannten Artikel von Revindex und Zucker sind auch aus diesem Heft. USA: Robert Müller: Manhattan Girl (1920) [S. 250]. Undatiert: Oskar Walzel: […] [S.230 f.]. Die Übrigen: Karl Renner: Die deutsche Aufgabe Österreichs und unserer östlichen Nachbarvölker (1922) [S. 232 f.], Friedrich Meinecke: Verfassung und Verwaltung in der deutschen Republik (1919) [S. 234], Otto Flake: Wien und Prag (1924) [S. 234], Robert Musil: Der Anschluss an Deutschland (1919) [S.234 f.], Willi Handl: Österreichische Erzähler (1919) [S. 236], Wilhelm Hausenstein: Wir und das Barock (1919) [S. 244 f.], ein Beitrag aus dem Neuen Merkur [!].   zurück
34 
So zum Beispiel im Unterkapitel »Literaturbetrachtung als kulturelle Deutung«, in dem exemplarisch Ernst Robert Curtius behandelt wird, was dem Ansatz der ›Mehrstimmigkeit‹ wieder einmal zuwiderläuft. Viehöver zitiert eine Fülle von Artikeln, wobei im Fließtext nicht kenntlich gemacht wird, dass die betreffenden Beiträge nicht aus der Neuen Rundschau, sondern zum Beispiel aus dem Neuen Merkur (S. 282) oder verschiedenen Monographien des Autors (S. 283) stammen.   zurück
35 
Rolf Parr (Anm. 10), S. 10.   zurück
36 
Kai Kauffmann / Erdmut Jost (Anm. 17), S. 34.   zurück
37 
Der Text in einfachen Anführungszeichen stammt aus: Ruth Florack: Tiefsinnige Deutsche, frivole Franzosen. Nationale Sterotype in deutscher und französischer Literatur. Stuttgart, Weimar 2001, S. 17, S. 7, S. 21.   zurück
38 
Rolf Parr (Anm. 10), S. 5.   zurück