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Die Ästhetik der manipulierten Zeit

  • Andreas Becker: Perspektiven einer anderen Natur. Geschichte und Theorie der filmischen Zeitraffung und Zeitdehnung. (Kultur- und Medientheorie) Bielefeld: transcript 2004. 370 S. zahlr. Abb. Kartoniert. EUR (D) 28,00.
    ISBN: 3-89942-239-2.
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Thema und Aufbau

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Zu den den kinematografischen Phänomenen Zeitlupe und Zeitraffer existieren bisher keine ausführlichen Studien. Wer sich über die Regeln ihres Auftretens und ihrer Wirkung informieren will, muss sich mit Einträgen in Filmenzyklopädien begnügen, die freilich nur das bisherige Forschungsinteresse widerspiegeln können:

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Zwar ist die Technik eine notwendige Bedingung dafür, dass FilmemacherInnen Vorgänge und Prozesse auf eine neuartige Weise aufzeichnen können, aber deren Beschreibung reicht nicht aus, um die ästhetische Wirkung der Aufnahmen zu verstehen. (S. 13)
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Allein deshalb ist das vorliegende Buch erwähnenswert: weil es tatsächlich in eine Forschungslücke stößt, deren Bestehen sich auch in seinem Literaturverzeichnis niederschlägt, das sich auf allgemeinere philosophische, literaturwissenschaftliche, medienhistorische oder –theoretische sowie naturwissenschaftliche Texte beschränken muss.

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Wie geht der Autor nun seinen Text zur Geschichte und Theorie der filmischen Zeitraffung und Zeitdehnung an? Was die Geschichte betrifft, konzentriert er sich vor allem auf zwei Aspekte: Erstens auf den Ursprung der beiden Phänomene, der in der Zusammensetzung eines Filmes aus Einzelbildern liegt, also auf die Tatsache, dass die im Film wahrgenommene Bewegung quasi zwischen den Bildern entsteht. Damit verweisen Zeitlupe und –raffer auf die Vorgeschichte des Films, in diesem Fall auf die Chronofotografie. 1 Zweitens unterstellt er eine Progression bei der Verwendung der Techniken, einen Wandel bei ihrer Einbettung in die filmische Erzählung. Dieser zweite Punkt führt direkt zu Beckers theoretischer Hypothese:

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Die Manipulation des zeitlichen Maßstabs [...] bringt hinter den gewöhnlichen Vorgängen liegende Strukturen zum Vorschein und erschließt uns neue Bereiche. Diese Neuordnung des Sinnlichen durch die Verfahren ist der eigentliche Untersuchungsgegenstand. (S. 13)
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Das Buch besteht aus vier großen Teilen: der nicht nur einführenden, sondern auch zusammenfassenden Einleitung, die auch »Etymologische Hinweise« (S. 22 ff.) zu den zwei Begriffen sowie vorfilmische »Gedankenexperimente« (S. 33 ff.) enthält; dem ersten Teil, »Die filmische Entdeckung der Natur« (S. 47 ff.), der bei den chronofotografischen Experimenten von Muybridge und Marey beginnt und über Analysen von Riefenstahls Olympia-Filmen (1936 und 1938), Fancks und Pabsts Die weiße Hölle des Piz Palü (in der stummen Fassung von 1929) und Georges Rouquiers Farrebique (1946) zu »Temporale Karikaturen« (S. 155 ff.) – vorgefunden beim Disney-Regisseur James Algar sowie bei Nuridsanys und Pérennous Mikrokosmos. Das Volk der Gräser (1995) und David Attenboroughs Serie The Private Life of Plants (1995) – vordringt; dem zweiten Teil, den »Perspektiven einer anderen Natur. Errettung oder ›Sprengung‹ der physischen Realität« (S. 187 ff.) – der nicht nur aufgrund seiner Anordnung in der Mitte des Buches dessen theoretisches Zentrum ausmacht. Der dritte Teil, »Die Entdeckung der filmischen Natur« (S. 225 ff.), befasst sich mit etwas experimentelleren Produktionen, wie Alexander Kluges Die Patriotin (1979), Oskar Fischingers München-Berlin Wanderung (1927), Morten Skalleruds A Year along the Abandoned Road (1991), Godfrey Reggios Koyaanisqatsi (1983), Peter Mettlers Picture of Light (1994), Peter Greenaways A Zed & Two Noughts (1985) oder Jean-Luc Godards Histoire(s) du Cinéma (1998).

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Abgerundet wird der Band von einem, etwas lieblos ausgewählt und aufbereiteten Anhang mit schwarz-weißen Abbildungen. Das Erscheinungsbild dieser Reprints und Screen-Shots geht Hand in Hand mit der nachlässigen Lektorierung des Buches, die sich z.B. in zahlreichen Doppelabständen zwischen Wörtern niederschlägt.

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Einleitung

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Wie schon erwähnt, fasst die Einleitung in weiten Teilen das Anliegen und Vorgehen des Buches zusammen. Ergänzt wird dieser Überblick durch zwei Unterkapitel, denen die kohärente Einbindung in den roten Faden der Thesenentwicklung etwas abgeht.

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Das erste Unterkapitel befasst sich mit der Etymologie der beiden Begriffe, die etwa aus dem zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts stammen (vgl. S. 23). ›Zeitlupe‹ war offenbar zunächst der Produktname einer Hochgeschwindigkeitskamera der Firma Ernemann (Dresden) und wurde erst in der Folge als Bezeichnung für die (mit dieser Kamera gedrehten) Aufnahmen verwendet (vgl. S. 24). Beide Begriffe resultieren aus einer synästhetischen Komposition aus dem Wort ›Zeit‹ und jeweils eines Wortes zur Beschreibung räumlicher Wahrnehmung (vgl. S. 25). Damit stellen sie eine gelungene Metapher für das Zusammenwirken von Raum und Zeit im filmischen Universum dar, das im Falle von Zeitlupe und –raffer die Wahrnehmung der Dauer einer Bewegung verändert.

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Kritik übt Becker an der Beschränkung der Enzyklopädien 2 auf die Beschreibung des technischen Vorgangs und an ihrer Missachtung der phänomenalen Komponente (S. 26). Es gibt aber auch Enzyklopädien, die im Rahmen ihrer Möglichkeiten einen anderen Ansatz verfolgen. So heißt es z.B. bei Katz zu ›slow motion‹: »It has also been widely used for artistic effect, to create a romantic aura or stress a moment in time.« 3

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Das zweite Unterkapitel handelt von der intellektuellen Herleitung eines relativen Zeitbegriffs – angefangen bei Aristoteles über Condillac bis zu den Physikern des 19. Jahrhunderts Karl Ernst von Baer und Ernst Mach –, der den theoretischen Hintergrund bildet für die im Film variable Präsentation und Wahrnehmung von Zeit in Relation zu der tatsächlich während der Projektion verstreichenden.

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Die filmische Entdeckung der Natur:
Muybridge, Ingarden und die Perspektive der Zeit

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Der zentrale Punkt der ausführlichen Passage über Eadweard Muybridge ist die Feststellung, dass das Spiel mit Zeitlupe- und raffer direkt auf die den Film konstituierenden Einzelbilder verweist (Raffung z.B. ist in diesem Sinne eine Auslassung von Einzelbildern), und damit auf die Chronofotografie, die durch die streifenartige Anordnung der Einzelbilder bereits das Prinzip des Films vorwegnahm.

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Die Serienfotografie diente Muybridge also nicht nur dazu, die Zeit festzuhalten, wie dies der Name Chronofotografie suggeriert, sondern sie erlaubte es ihm auch, die Zeit zu manipulieren und ihren Maßstab zu verändern. Muybridge nutzte die Periodisierung bereits als ein ästhetisches Verfahren. Ein schneller Pferdegalopp wurde mit höherer Bilderfrequenz aufgenommen, so dass Details zum Vorschein kamen, als wäre es ein langsamer Trab. Indem er [...] die Größe des ›Moments‹ maschinell variierte, erhob er sich in die Lage, schnelle und langsame Bewegungen ineinander zu überführen. Muybridge hat damit als einer der Ersten die Zeit gerafft und gedehnt. (S. 66) 4
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Man fragt sich im Laufe dieses Abschnitts allerdings, was die Zusammenfassung von Untersuchungsergebnissen anderer über die Vorzüge und Nachteile der Methodik von Muybridge bzw. teilweise auch Étienne-Jules Marey mit der Fragestellung der Arbeit zu tun hat. Die gleichen Bedenken treffen auf den folgenden Exkurs zu Roman Ingardens Filmtheorie aus den 40er Jahren zu. An diesen Stellen wirkt die Arbeit unnötig aufgebauscht. Es wäre sicher kein Qualitätsverlust gewesen, gewisse Begrifflichkeiten ohne seitenlange Herleitungen einzuführen, zumal diese stellenweise beliebig wirken, da sie ebenso aus anderen Quellen hätten entwickelt werden können. Zentral für Becker ist die bei Ingarden vorgenommene Perspektivierung der Zeit, ihre Unterteilung in zwei Formen, den Prozess und das Endprodukt, sowie die Feststellung, dass »Raum- und Zeitperspektiven eng miteinander zusammenhängen« (S. 98). Dies ist keine neue Erkenntnis und kann getrost als eine Banalität der Filmtheorie bezeichnet werden. Schlimmer jedoch ist, wie Becker, wieder an Ingarden anknüpfend, auf eine Objektivierung der in der Erinnerung immer subjektiven Zeitperspektiven im Film schließt:

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Der durch den Film aufgezeichnete Vorgang wird insofern von subjektiven Erinnerungsphänomenen befreit. Der Film wäre ein Instrumentarium, um sich durch repetitive Wahrnehmung des Aufgezeichneten von den Zeitperspektiven der Erinnerung und ihren Verzerrungen zu lösen. (S. 97)
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Abgesehen von ihrer Irrelevanz für die Argumentation, präsentiert sich diese Aussage ein wenig naiv. Jahrzehnte nach der Prägung der Apparatus-Theorie sollte man nicht mehr so leichtfertig die Neutralität des Kameraobjektivs postulieren.

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Frühe Beispiele

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Es folgen Beispiele aus dem wissenschaftlichen Film und dem Unterhaltungskino – eine sehr schöne Zusammenstellung vor- und frühfilmischer Zeitrafferversuche (die zunächst dominierten) des Physikers Ludwig Mach (»Entdecker der Zeitrafferapparatur«, S. 107); von Étienne-Jules Marey, der

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zwei Anwendungsfelder nennt, die auch heute noch kaum erschlossen sind, sei es aus technischen oder finanziellen Gründen: Die Naturgeschichte im Sinne geologischer Transformationen und der Alterungsprozess eines Menschen; (S. 106)
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des Botanikers Wilhelm Pfeffer, der 1898 Zeitrafferaufnahmen wachsender Tulpen (vgl. S. 107), in der »auch heute im wissenschaftlichen Film üblichen Ästhetik« (S. 109) durchführte; von Oskar Messter, der, obwohl auch er die Zeitrafferfrequenzen noch zeigte, ohne sie in eine Handlung einzubinden, diese um die Jahrhundertwende erfolgreich einem breiteren Publikum zugänglich machte (vgl. S. 109 f.) und von Frederick S. Armitage, der 1901 in einer einzigen Einstellung und im Zeitraffer den Rückbau des New Yorker ›Star Theatre‹ dokumentierte (vgl. S. 111 f.). Nur auf einer halben Seite angedeutet wird der Einsatz des Zeitraffers im »avantgardistischen Kino« (S. 113), zu dem der Verfasser Filme wie Vertovs Der Mann mit der Kamera (1929) und Murnaus Nosferatu (1922) zählt. Es folgen »frühe Formen der Zeitlupe« (S. 113 ff.), die sehr eng mit der Entwicklung von Hochgeschwindigkeitskameras für die militärische Forschung zusammenhängen, insbesondere mit der berühmten Kamera ›Zeitlupe‹ der Firma Ernemann aus Dresden (vgl. S. 116).

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Die »narrative Option«
bei Leni Riefenstahl, Arnold Fanck und Georges Rouquier

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Es dauerte einige Jahre, bis die FilmemacherInnen sich vom dokumentarisch-wissenschaftlichen Einsatz der Zeitperspektivierung lösten und sie als narrative Option entdeckten. (S. 118)
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Es ist bezeichnet für dieses Buch und seinen etwas ungeraden Argumentationsstrang, dass hier die »narrative Option« als eine positive Entdeckung angekündigt und in der Folge u.a. an einem Spielfilmbeispiel (Die weiße Hölle von Piz Palü, Fassung von 1929) verdeutlicht wird, obwohl der Autor sich explizit nur auf dokumentarisches Material beschränken wollte:

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Der [sic!] Untersuchungskorpus wurde auf die Chronofotografie und dokumentarische Filme eingegrenzt, dabei berücksichtigte ich nur jene Werke, deren Dramaturgie bzw. Darstellungsabsicht auf der Raffung oder Dehnung von Zeit beruht. Zeiraffungen in den frühen Slapstick-Filmen, Actionfilme, Spielfilme, die häufig Zeitlupensequenzen einbinden (beispielsweise Sam Peckinpahs The Wild Bunch (1969)), wurden nicht berücksichtigt. (S. 19)
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Es mag dem Autor im Laufe der Arbeit klar geworden sein, dass ihm diese Beschränkung den Zugang zu den produktiveren Regionen seines Themas verwehrt, weshalb er sie etwas aufgeweicht hat. Zunächst widmet sich Becker allerdings den Olympia-Filmen von Leni Riefenstahl, die ebenfalls »zahlreiche Merkmale eines Spielfilms« (S. 122) aufweisen und zu den ersten gehören, in denen »die Zeitlupe konsequent zur ästhetischen Durchformung eingesetzt wurde«, und zwar »so subtil, dass man kaum mehr merke, welch großer Teil des Films in gedehnter Zeit spielt« (S. 120). Die Auswahl der zeitlupentauglichen Sportarten (vgl. S. 128), die Konzentration auf den Männersport (vgl. S. 129), und die technische Perfektion, mit der die Zeitlupen eingesetzt und kombiniert wurden, erwecke die Illusion, »als komme dem dargestellten Körper jenes durch den Film erzeugte Attribut zu« (S. 126).

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Wir interpretieren die verlangsamte Dimension immer unter den aus dem Alltag bekannten Prämissen und scheitern damit. Wir sind leichter geneigt, die Langsamkeit einer anderen Schwerkraft zuzuschreiben, den Sportler so aufzufassen, als bewege er sich in einem trägeren Medium oder anzunehmen, er sei größer und bewege sich deshalb so langsam, nur um unsere gewohnte Zeitperspektive aufrecht zu erhalten. (S. 130)
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In diesem sehr schönen Unterkapitel wird dargestellt, wie es Riefenstahl gelingt, mittels der Zeitlupentechnik ihre »esoterische« (S. 133) oder auch »monumentale« (S. 139) Programmatik der Verschmelzung von Außen und Innen, der Erschaffung einer »reinen Größe« bzw. von »Makellosigkeit« (S. 139) umzusetzen:

[31] 
Der Film erfüllt hier die gleiche Funktion wie der im Himmel zusammenlaufende Lichterdom von Albert Speer oder das riesenhafte Maifeld vor dem Olympiastadion, welches als Schauort der Massenchoreografien Gret Paluccas diente. (S. 139)
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Der Film von Pabst und Fanck zeigt dagegen Zeitrafferaufnahmen von Wetterphänomenen wie z.B. Wolken, die, durch ihre Anordnung und Kombination mit menschlichen Gesichtsausdrücken, anthropomorphisiert werden. Die Natur wirkt belebt, und ihre manipulierte Zeitlichkeit erhält eine metaphorische Bedeutung entweder für die Gefühle der Protagonisten, für die der Zuschauer oder aber für die Stimmung der Filmszene selbst (vgl. S. 146). Schließlich bespricht Becker noch den Film Farrebique von Georges Rouquiers aus dem Jahre 1946, dessen oft im Zeitraffer gehaltener Bilderbogen der Natur von einem Off-Erzähler begleitet und kontextualisiert wird (vgl. S. 153), und der mit dieser narrativen Einbindung »bewusst neue Wege weist, die Filmemacher wie Disney, Nuridsany und Attenborough in ihren Naturfilmen aufgriffen und ausdifferenzierten« (S. 154). Das Kapitel über diese Filmemacher krankt an einer überlangen Ausführung zur Person Walt Disneys und seinen Praktiken (James Algar war der Regisseur seiner berühmten Naturfilme wie z.B. Die Wüste lebt von 1954), die man ohne inhaltlichen Verlust auf drei Sätze hätte reduzieren können.

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Zentraler Punkt des Kapitels ist die These, diese Filmemacher verwendeten die Zeitlupen- und Zeitraffertechnik besonders zur Überzeichnung von bestimmten Praktiken von Tieren, um auf Kosten deren Bloßstellung einen Lacheffekt zu erzielen, weshalb Becker von »temporalen Karikaturen« spricht.

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Perspektiven einer anderen Natur

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So wie mit der Zeitlupentechnik die Filmwahrnehmung manipuliert wird, so manipuliert Becker die Geschichte der Zeitlupe, um sie für seine Beweisführung einer ideologisch angehauchten Filmgeschichte mit guten und bösen Protagonisten zu instrumentalisieren. Nachdem er im ersten Teil des Buches die ›Bösen‹ geschildert hat, die Zeitlupe und –raffer illusionistisch einsetzen, hält er es, in der Mitte des Buches angekommen, »an dieser Stelle der Arbeit [für] notwendig, die bisher untersuchten Filme und den Einsatz der Verfahren einer Kritik zu unterziehen« (S. 187). Dabei ordnet er die Filme des ersten Teils, unter Bezugnahme auf dessen Schrift über die Errettung der äußeren Wirklichkeit, 5 der Position Siegfried Kracauers zu, die des nachfolgenden dritten Teils (die ›Guten‹) dagegen der Position Walter Benjamins aus seinem Kunstwerk-Aufsatz. 6 Er begründet das damit, dass die Filme des ersten Teils sich als Darstellung einer außerfilmischen Realität verstünden, wie sie Kracauer beschrieben und gefordert habe (vgl. S. 188), während die Filme des dritten Teils der Argumentation Benjamins folgten, der auf dem »Primat des Bildes vor dem der ›Wirklichkeit‹« (S. 216) bestünde. In der Einleitung hatte Becker diese beiden Pole bereits mit zwei Begriffen aus Schellings Naturphilosophie zu verdeutlichen versucht:

[36] 
Natur dient den Filmen im ersten Teil der Arbeit als Gegenstand, als ein fest umgrenzter Bereich, der jenseits des Films liegt und welchen der Film nicht verändert, auf den er höchstens hinweisen kann [natura naturata]. Andere Bedeutungen von Natur, [...] gemeinhin, das, was in der philosophischen Tradition mit natura naturans beschrieben wird, übergehen diese Filme. Im Gegensatz dazu sind die im zweiten Teil der Arbeit behandelten Werke sensibel für genau jene Transformationen, sie achten auf neuartige Bewegungs- und Wachstumsformen und ziehen die Konsequenz, dass der Film – also unsere Sichtweise – mitbestimmt, was als Natur gilt. (S. 17)
[37] 

Das gegeneinander Ausspielen einer modernen (Benjamin) und einer gewissermaßen romantischen oder impressionistischen (Kracauer) Sichtweise erscheint an dieser Stelle allerdings weder ausgesprochen originell noch sonderlich produktiv.

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Die Entdeckung der filmischen Natur

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Spätestens bei diesem eher ›politisch‹ motivierten Kapitel muss man sich fragen, ob hier tatsächlich eine »Geschichte und Theorie der filmischen Zeitraffung und Zeitdehnung« erzählt wird, oder ob der Autor nicht eher den Versuch macht, die Konzepte von so gegensätzlichen Filmleuten wie einerseits Disney und andererseits Kluge oder Godard anhand dieser Stilmittel noch einmal zu veranschaulichen. Aus diesem Grund soll hier auf eine Zusammenfassung der Filmanalysen verzichtet werden. Anstatt unbefangen zu untersuchen, welche ästhetischen und erzählerischen Funktionen Zeitlupe und –raffer in der Filmgeschichte schon eingenommen haben, scheint die Auswahl der Filmbeispiele und deren Beschreibung von Anfang an einer ideologisierten Sichtweise untergeordnet worden zu sein. Auch die, entgegen der Ankündigung in der Einleitung, Einbeziehung von Spielfilmen wie Greenaways A Zed & Two Noughts macht die Methodik des Autors verdächtig.

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Eingebettet wird Beckers These von den – vor allem aus der ersten Jahrhunderthälfte stammenden – Filmen, die »durch illusionäre Kontextualisierung der Verfahren« (S. 225) diese Verfahren diskreditierten, und der ›Befreiung der Natur von der äußeren Wirklichkeit‹ durch Avantgardisten – die vornehmlich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wirkten – in eine Gegenüberstellung der Positionen von Kracauer und Benjamin, wobei vor allem ersterer durch seine Gleichsetzung mit den illusionistisch inszenierten Filmen des ersten Kapitels ziemlich diskreditiert wird. Es scheint mehr von der Reichhaltigkeit Kracauers Ausführungen verloren zu gehen als durch die plakative Zuspitzung der Positionen an Erkenntnissen gewonnen wird.

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Abschließende Beurteilung

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Dieses Buch ist weniger eine Typologie, als dass es versucht, am etwas willkürlichen Beispiel von Zeitraffer und Zeitlupe eine kulturgeschichtliche Linie nachzuzeichnen. In weiten Teilen fehlt die Stringenz in Darstellung und Argumentation. Der Rückgriff, beispielsweise, auf bestimmte Verfahren zeitlicher Raffung in der Reise- und Tagebuch-Literatur (vgl. S. 14) hinkt gewaltig, da nahezu jede, literarische wie filmische, Erzählung die erzählte Zeit rafft. Gleichzeitig fehlt eine deutliche Abgrenzung von Zeitraffung und –lupe zu anderen Filmtechniken der Zeitmanipulierung wie z.B. der Montage (vgl. S. 144). Insgesamt scheint der Autor eher an philosophischen Aspekten als an Filmästhetik interessiert zu sein, obwohl er Letzteres immer wieder betont. Dabei gerät ihm die Untersuchung der ästhetischen sowie erzählerischen Funktionen von Zeitlupe- und raffer, aufgrund seiner ideologischen Kategorisierung der behandelten Filme, etwas aus dem Blickfeld und bringt wenig wirklich verwertbare Informationen zu Tage. Deutlich wird auch, dass die Betrachtung von Spielfilmen für die ästhetische Beschreibung der Phänomene sicher ertragreicher gewesen wäre. Eine Ansicht, zu der der Autor im Laufe seiner Arbeit offenbar auch gekommen ist, da er, entgegen seiner Ankündigung in der Einleitung, eben nicht ausschließlich dokumentarische und wissenschaftliche Filme untersucht. Allerdings hat sich die grundsätzliche Ausrichtung der Studie dadurch nicht mehr geändert.

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Die kenntnisreiche Aufarbeitung der (oft bereits von anderen untersuchten) Hintergründe einzelner Produktionen ist zwar stellenweise durchaus von Interesse (Muybridge, Mach, Riefenstahl, Disney) und sprachlich durchaus ansprechend gelöst, nimmt allerdings im Verhältnis zu der eigentlich zu untersuchenden Fragestellung deutlich zu viel Platz ein. So verwundert es nicht, wenn es im »Resümee« (S. 303 ff.) zu relativ banalen Feststellungen kommt, denen man nicht anmerkt, dass sie das Ergebnis einer 300 Seiten langen Reflektion des Themas sind:

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So kann der Zeitraffer- und Zeitlupenfilm gewöhnliche Bedeutungen aufbrechen und Sinnesfelder, Bedeutungsfelder, sogar sprachliche Bezeichnungen zusammenführen, welche gewöhnlich nicht miteinander zusammenhingen. (S. 307)


Anmerkungen

Andere Aspekte wie das »Daumenkinoprinzip« (S. 11) z.B. bei Messters Mutoskop, oder die Problematik der Kurbelgeschwindigkeit und ihre Standardisierung mit der Einführung des Tonfilms werden kurz erwähnt, spielen aber für die weitere Betrachtung keine Rolle.   zurück
Vgl. z.B. Bawden, Liz-Anne / Tichy, Wolfram (Hg.): Buchers Enzyklopädie des Films. [The Oxford Companion to Film.] Luzern/Frankfurt / M. 1977.   zurück
Katz, Ephraim: The Film Encyclopedia. New York 1994, S. 1262. Vgl. auch: Wulff, Hans J.: ›Zeitlupe / Zeitraffer‹, in: Koebner, Thomas (Hg.): Reclams Sachlexikon des Films. Stuttgart 2002, S. 672 f.   zurück
Wobei Muybridge sich deutlich mehr für die Verlangsamung von für das Auge zu schnell ablaufenden Prozessen interessierte (vgl. S. 67).   zurück
Vgl. Kracauer, Siegfried: Theorie des Films: die Errettung der äußeren Wirklichkeit. Frankfurt / M. 1964.   zurück
Vgl. Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit: drei Studien zur Kunstsoziologie. Frankfurt / M. 1988.   zurück