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Lichtenbergs Anthropologie in Bruchstücken

  • Carl Niekerk: Zwischen Naturgeschichte und Anthropologie. Lichtenberg im Kontext der Spätaufklärung. (Studien zur deutschen Literatur 176) Tübingen: Max Niemeyer 2005. VII, 395 S. Kartoniert. EUR (D) 64,00.
    ISBN: 978-3-484-18176-2.
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Ziel der anzuzeigenden Arbeit ist es, den sich aus dem »Ende der Naturgeschichte« (Wolf Lepenies) entwickelnden Anthropologiediskurs der Aufklärung unter schwerpunktmäßiger Berücksichtigung seines Niederschlags im Werk von Georg Christoph Lichtenberg zu rekonstruieren. Dabei wird der gesamteuropäische, durch die Namen Georges-Louis Leclerc de Buffons (1707–1788) und Petrus Campers (1722–1789) repräsentierte Gelehrtendiskurs über den Menschen berücksichtigt, der Lichtenberg insbesondere durch den gedanklichen Austausch mit seinen Kollegen Johann Friedrich Blumenbach (1752–1840) und Georg Forster (1754–1799) nahegebracht wurde. Obwohl die Wissensgebiete, die der Anthropologie zugeordnet wurden, nicht zu seinen eigentlichen akademischen Arbeitsfeldern zählten, hat sich Lichtenberg relativ ausführlich und produktiv mit ihnen beschäftigt, wie die anregende, aus fünf Kapiteln bestehende Untersuchung Niekerks eindrucksvoll demonstriert.

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Naturgeschichte und Medizin

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Das erste Kapitel rekonstruiert »Lichtenbergs Überlegungen zu den naturgeschichtlichen Debatten der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts« (S. 5). Damit wird insofern die Grundlage für die folgenden Ausführungen geschaffen, als der Naturgeschichte im 18. Jahrhundert in gegenstandsmodellierender und epistemologischer Hinsicht der Status einer Metadisziplin zuerkannt wurde: Niekerk betont, dass sich die Naturgeschichte großer Aufmerksamkeit auch seitens der außerwissenschaftlichen Öffentlichkeit erfreute, weil sie den raschen Wissenszuwachs des aufgeklärten Jahrhunderts nachhaltig zu dokumentieren vermochte, Fragen bezüglich der teleologischen bzw. ästhetischen Ordnung der Natur provozierte und zur Erörterung der gesellschaftlichen Bedeutung sowie des Geltungsanspruchs der von ihr hervorgebrachten Erkenntnisse einlud. Anhand der Arbeiten Blumenbachs und einiger nicht zuletzt davon beeinflusster Reflexionen Lichtenbergs zeigt Niekerk, dass die von der Naturgeschichte bereitgestellten taxonomischen Klassifizierungsschemata unter dem Einfluss der sich beschleunigenden Wissensexpansion zunehmend in die Krise gerieten und durch kausal-genetische Betrachtungsweisen ersetzt wurden. Anschließend arbeitet er heraus, dass für Lichtenberg der menschliche Körper aus pragmatischen und erkenntnistheoretischen Gründen zum »Medium« (S. 65) einer neuen Natur- und Wirklichkeitsauffassung avancierte, die einerseits die Anthropologie zum bevorzugten Gegenstand der Naturgeschichte erklärte und andererseits deren statisch-klassifikatorische Ordnungsmuster als Anthropomorphismen reflektierte und damit in Frage stellte.

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Das zweite Kapitel widmet sich der von der zeitgenössischen Medizin inspirierten Sicht Lichtenbergs auf den eigenen Körper, die – parallel zum Denken im Problemkontext der Naturgeschichte – ebenfalls aus drei Gründen als Vorschule zur Beteiligung am anthropologischen Diskurs der Aufklärung fungierte. Erstens übte die aufgeklärte Medizin im Gegensatz zum philosophischen Rationalismus Wolffscher Provenienz eine materielle, die Physis in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückende Betrachtung des Menschen ein. Zweitens begriff sie den Körper auch als Resultat eines zivilisationsbedingten Sozialisationsprozesses und machte daher mit der Verwendung von Milieukategorien vertraut. Drittens schärfte sie das Bewusstsein für die Problematik, ob die menschliche Physis das Autonomiepostulat der aufklärerischen Vernunft nicht in erkenntnistheoretischer und praktischer Hinsicht unterlaufe. Da sich Empfinden und Denken nicht im abstrakten Reich der Ideen abspielten, sondern auf vielfältige Weise mit dem Körper und dessen konkreter Befindlichkeit verbunden seien, müsse dessen epistemologische, durch Individualität und Kontingenz geprägte Bedeutung stets mitbedacht werden.

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»Anthropologie in Bruchstücken«

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Das dritte, mit mehr als 120 Seiten umfangreichste und zentrale Kapitel entfaltet Lichtenbergs »Anthropologie in Bruchstücken« (S. 143). Mit dieser von ihm mehrfach verwendeten Formulierung möchte Niekerk klarstellen, dass Lichtenberg trotz seiner Beschäftigung mit einschlägigen Fragestellungen und Themen nie an der konzisen Ausarbeitung einer einheitlichen Anthropologie interessiert war. Zu Beginn des Kapitels wird dargelegt, dass Lichtenberg in der Streitschrift Ueber Physiognomik im Wesentlichen auf der Grundlage des zeitgenössischen anthropologischen Wissens argumentiert. Anschließend versucht Niekerk, alle für Lichtenberg relevanten Aspekte des Anthropologiediskurses systematisch zu entwickeln. Dabei werden zunächst jene Themen behandelt, die sich durch die zunehmende Etablierung der kausal-genetischen Betrachtungsweise der Natur als Problemfelder herauskristallisierten: die potenzielle Verwandtschaft zwischen Mensch und Tier, die mutmaßliche Gestalt der Urmenschen und der Nutzen der Beschäftigung mit Monstern und körperlichen Missbildungen hinsichtlich der auch normative bzw. ästhetische Implikationen besitzenden Frage nach der teleologischen Entwicklung der Natur. Danach wird gezeigt, dass Lichtenberg im Gegensatz zu vielen insbesondere deutschen Zeitgenossen keine Berührungsängste mit einer materialistisch-physiologischen Sichtweise hatte, welche die Dominanz des Körpers über den menschlichen Geist hervorhob, und dass er von jener Dominanz folgerichtig die Körperbedingtheit der menschlichen Wahrnehmung und Erkenntnis ableitete. Abschließend erörtert Niekerk die auch Lichtenberg beschäftigenden, durch die zeitgenössische Anthropologie inspirierten Themen der Geschlechterdifferenz sowie Ethnizität und Lichtenbergs vor allem in seinen letzten Lebensjahren deutlich zutage tretenden Antisemitismus, der ebenfalls »mit den naturgeschichtlichen und anthropologischen Diskussionen der Zeit zusammenhängt« (S. 248 f.).

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In den letzten beiden Kapiteln wird diskutiert, wie Lichtenbergs anthropologisches Wissen in seine Sicht von Gesellschaft und Geschichte eingegangen ist. Waren die Darlegungen des dritten Kapitels dem Menschen als körperbedingtem Naturwesen gewidmet, so steht nun dessen Entfaltung als Kulturwesen im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses. Da die in den Diskussionen über die Naturgeschichte etablierte kausal-genetische Betrachtungsweise nicht nur geographische und klimatische, sondern auch soziale Determinanten und deren zeitspezifische Ausprägungen in ihr Analyseinstrumentarium einbezog, konnten mit ihrer Hilfe auch die kulturellen Dimensionen der menschlichen Existenz ausgiebig diskutiert werden. Im vierten, Lichtenbergs Gesellschaftsverständnis gewidmeten Kapitel wird anhand der erkenntnisleitenden Begriffe »Nation«, »Stadt und Land« und »Sozialkritik« demonstriert, dass das von Lichtenberg erworbene zeitgenössische anthropologische Wissen »in den Hogarth-Kommentaren eine heuristische Funktion« (S. 272) besitzt. Lichtenberg entwickelt in seinen Interpretationen der Kupferstiche Hogarths eine Theorie kultureller Alterität, analysiert die zivilisationsbedingten, sich primär in der Großstadt einstellenden Degenerationserscheinungen und artikuliert auf der Basis dieser Bildbeobachtungen einen spätaufklärerischen Skeptizismus, der fortschrittsoptimistischen und sozialkritischen Positionen zwar nicht generell ablehnend, aber mit unverkennbarer Reserve gegenübersteht.

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Im fünften Kapitel wird Odo Marquards These, dass die Konjunktur der spätaufklärerischen Anthropologie auf die Krise der Geschichtsphilosophie im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts zurückzuführen sei, als unzulässige Simplifikation einer wesentlich komplexeren ideengeschichtlichen Gemengelage zurückgewiesen (S. 321 f., 332 u. 359). In Anbetracht der von der Anthropologie selbst und ihren Erörterungen über die Identität des Menschen begünstigten Verzeitlichung des Denkens müsse vielmehr von einer Koexistenz anthropologischer und geschichtsdeutender Kategorien in der Spätaufklärung ausgegangen werden. Anhand der Auseinandersetzungen Lichtenbergs mit geschichtsphilosophischen und pädagogischen Fragestellungen macht Niekerk deutlich, »dass es ein spezifisches Wissen aus der Naturgeschichte ist, das über die Herausbildung einer selbständigen Anthropologie [...] zu einem neuen Geschichtsverständnis führt« (S. 329). Obwohl ihm unter dem Eindruck der Französischen Revolution der Glaube an die rationale Planbarkeit des Geschichtsverlaufs und die Erziehung zu Autonomie und Mündigkeit immer schwerer gefallen sei, habe der stets sowohl von der Perfektibilität als auch von der Korruptibilität der menschlichen Natur überzeugte Lichtenberg bis zuletzt an den Prinzipien der Aufklärung festgehalten. Abschließend beschäftigt sich Niekerk mit der Frage, inwiefern von Lichtenbergs einschlägigen Überlegungen Anregungen für heutige Forschungsansätze zur Anthropologie hauptsächlich im angloamerikanischen Sprachraum ausgehen könnten.

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Lichtenberg als Schriftsteller und Naturforscher

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Niekerks Untersuchung reiht sich in jene begrüßenswerten Arbeiten der Lichtenberg-Forschung ein, denen die naive Sicherheit einer älteren Wissenschaftlergeneration abhanden gekommen ist, die Beschäftigung des Experimentalphysikers Lichtenbergs mit Fragestellungen der Mathematik, Geodäsie und Astronomie, Elektrizitätslehre und Theorie der Gase als zu vernachlässigende Größen betrachten zu können. Man ist heute angesichts der kulturwissenschaftlich inspirierten Forschungsrichtung zum Fragenkomplex »Literatur und Wissen« geneigt, in einer solchen Sicherheit vor allem Abwehrstrategien zu erblicken, die im Sinne einer restriktiven Gegenstandsbestimmung den Naturforscher Lichtenberg schlichtweg zu ignorieren bzw. auf seine bekannten wissenschaftlichen Publikationen einzugrenzen beabsichtigten. Welche reichhaltigen, auch für Lichtenbergs aphoristisches, essayistisches und belletristisches Werk relevanten Wissensgebiete damit zu Tabuzonen erklärt wurden, zeigen einige seit den 1980er Jahren vorgelegte Arbeiten. Beispielhaft genannt seien hier die Beiträge von Gertrud Fischer, Smail Rapic und Dieter Kliche, 1 die sich mit den eben nicht auf die Experimentalphysik beschränkten Denkfiguren Lichtenbergs, mit dessen Auseinandersetzung mit dem englischen Empirismus und mit dessen Stellung in der Naturforschung der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts beschäftigen. Bereits Ulrich Joosts Zusammenstellung der Vorlesungsankündigungen gewährt erste Einblicke in die Bandbreite und Schwerpunkte von Lichtenbergs universitärer Lehre. 2 Und schließlich signalisieren die Editionen von Vorlesungsmitschriften über Experimentalphysik oder über Astronomie, physische Geographie, Meteorologie und Geologie nicht zuletzt angesichts der dabei aufgetretenen Kommentierungsfragen 3 , dass nicht nur Literaturwissenschaftler, sondern auch Historiker der Naturwissenschaften Nachholbedarf bei der Einordnung von Lichtenbergs Position in die Ideen- und Wissenschaftsgeschichte der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts haben und dass die Schließung dieser Lücken für beide Seiten aufschlussreiche Ergebnisse zu erbringen vermag.

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Die wechselseitige Erhellung von literatur- bzw. geisteswissenschaftlicher und naturwissenschaftshistorischer Forschung kann im Fall von Lichtenberg von dem Umstand profitieren, dass sich die Ausdifferenzierung einzelner wissenschaftlicher Fächer im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts erst ansatzweise vollzogen hatte. Die Austauschbeziehungen zwischen den verschiedenen Wissensgebieten waren noch wesentlich stärker als seit der Etablierung professionalisierter Disziplinen während des 19. Jahrhunderts. Einen sinnfälligen Ausdruck finden diese vergleichsweise großen Affinitäten zwischen Naturgeschichte, Ethnographie, Medizin, Forensik, Philosophie, Psychologie und Pädagogik zur Zeit Lichtenbergs eben in dem aufklärerischen Anthropologiediskurs, der seit den 1980er Jahren wegen seines damaligen Status als Synthesemodell das verstärkte Interesse der Forschung gefunden hat. Lichtenbergs Beitrag zu diesem Diskurs ist bislang nicht systematisch untersucht worden, obwohl die Bücher von Horst Gravenkamp und Friederike Kleisner 4 hierfür zumindest partiell einschlägig sind. Dennoch ist es das Verdienst von Niekerk, sich dem Werk Lichtenbergs im Gegensatz zu diesen auf dessen Krankheitsgeschichte bzw. Beschäftigung mit der Leib-Seele-Problematik fokussierten Untersuchungen aus einem übergreifenden epochenspezifischen Blickwinkel genähert und eine Vielzahl relevanter Untersuchungsergebnisse bezüglich gegenstandsspezifischer, erkenntnistheoretischer und epistemologischer Aspekte des Anthropologiediskurses präsentiert zu haben. Nur nebenbei sei bemerkt, dass er auch auf einige bislang kaum beachtete, in Promies’ Ausgabe nicht aufgenommene Aufsätze Lichtenbergs aus dem Goettinger Taschen-Calender zurückgreift und hiermit im Gegensatz zur heutigen Rezeption des vor allem als Aphoristiker bzw. Verfasser der Sudelbücher wahrgenommenen Autors »daran [...] erinnern« möchte, »dass Lichtenberg unter seinen Zeitgenossen zunächst vor allem als Verfasser von populärwissenschaftlichen Essays bekannt war« und dass diese Essays als »integraler Teil seines Denkens und seiner Schreibarbeit« zu würdigen seien (S. 8).

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Literarische Anthropologie, Methodenfragen
und das Problem der disziplinären Ausdifferenzierung

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Es ist evident, dass Niekerk mit seiner auf epochenspezifische Koordinaten ausgerichteten Betrachtungsweise nicht nur einen Beitrag zur Lichtenberg-Forschung, sondern eine instruktive Arbeit zur Wissenschafts- und Ideengeschichte der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vorgelegt hat. Durch seine Beschäftigung mit einem der vielseitigsten Naturforscher und Schriftsteller der Spätaufklärung kann er unser Wissen über die zeitgenössischen Aspekte des Anthropologiediskurses beträchtlich erweitern. Nachdrücklich und überzeugend konzentriert er sich auf den Nachweis des von der Forschungsrichtung der Literarischen Anthropologie in Deutschland bislang kaum zur Kenntnis genommenen (S. 3 f. u. 164 f.) Umstands, welche große Bedeutung die hauptsächlich mit dem Namen Buffons verbundene Naturgeschichte für die Entstehung des Anthropologiediskurses im Verlauf des 18. Jahrhunderts hatte. Hier liegt der Ansatz für seine bereits erwähnte Kritik an Marquards schematischer Gegenüberstellung von Geschichtsphilosophie und Anthropologie. Unter Bezug auf Studien von Wolf Lepenies und Frank Dougherty 5 betont Niekerk, dass die Diskussionen über die Naturgeschichte entscheidende Impulse zur Verzeitlichung des Denkens, zur Gewöhnung an kausal-genetische Betrachtungsweisen und zur Durchsetzung der Milieutheorie freigesetzt hätten. Sie hätten einen wichtigen Beitrag zur allgemeinen Akzeptanz der Einsichten erbracht, dass die Natur nicht als statische, seit der Schöpfung unwandelbar festgelegte und mittels klassifikatorischer Kategorien adäquat zu erfassende Ordnung begriffen werden könne und dass alle Lebewesen sowohl in geographischer und klimatischer Hinsicht als auch bezüglich der diversen Organisationsformen des Zusammenlebens an die Bedingungen ihrer konkreten Lebenswelt angepasst seien.

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Damit stellt Niekerk auch zu Recht die von der Literarischen Anthropologie demonstrativ vollzogene Verabschiedung sozialgeschichtlicher Erkenntnisinteressen (S. 311) in Frage. Da der naturgeschichtlich inspirierte Anthropologiediskurs den Menschen als geschichtliches und in politische sowie gesellschaftliche Organisationsformen eingebundenes Gattungswesen zu erkennen begann, macht es – wie Niekerk anhand seiner Lichtenberg-Lektüren zu demonstrieren vermag – wenig Sinn, sich solchen Erkenntnisinteressen zu verschließen. Niekerks Untersuchung erweitert also nicht nur unsere Kenntnisse über die Ideen- und Wissenschaftsgeschichte des 18. Jahrhunderts, sondern macht darüber hinaus auf Defizite einer einflussreichen Richtung der Aufklärungs-Forschung aufmerksam. Insofern belebt sie auch die methodologischen Diskussionen über die geeignete Herangehensweise an den Anthropologiediskurs: Allein mittels der Evidenz der von ihr vorgelegten Untersuchungsergebnisse macht sie deutlich, dass die dezidierte Abwendung von sozialgeschichtlichen Fragestellungen zwangsläufig zu Wissenseinbußen führen muss, und stimmt darin mit gleichlautenden Diagnosen Walter Erharts überein. 6 Das gilt unabhängig von der unbestrittenen, auch von Erhart betonten Tatsache, dass niemand auf mittlerweile erreichte qualifiziertere Theorieoptionen verzichten und zur zweifellos defizitären Sozialgeschichte der 1970er und frühen 1980er Jahre zurückkehren möchte. Das von Niekerk überzeugend ins Spiel gebrachte Vetorecht der Quellen sollte aber insbesondere für die bisweilen geradezu neohistoristische Literarische Anthropologie einen höheren Stellenwert besitzen als programmatische Verlautbarungen, die auf abstrakten Distinktionsgewinn ausgerichtet, ihrem Untersuchungsobjekt aber nicht angemessen sind.

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In einem weiteren, ebenfalls den Neohistorismus der Literarischen Anthropologie betreffenden Punkt ist Niekerks Studie lehrreich. Sie zeigt, dass es trotz der bereits erwähnten, erst rudimentären Ausdifferenzierung einzelner wissenschaftlicher Fächer im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts problematisch ist, sich unter Berufung auf die vermeintliche Selbstexplikationskraft der Quellen mit der nicht hinreichend zwischen Wissensfeldern, Textgattungen und Kommunikationssituationen unterscheidenden Rekonstruktion eines übergreifenden, auf ein gemeinsames Erkenntnisziel ausgerichteten Textkorpus zum aufklärerischen Anthropologiediskurs zu begnügen. Das Denken und Publizieren im Problemhorizont der Naturgeschichte, Medizin oder Pädagogik folgte bereits zur Zeit Lichtenbergs durchaus unterschiedlichen fachspezifischen Konturen, die von der Literarischen Anthropologie nicht adäquat reflektiert werden. So sah sich die Naturgeschichte aus bereits dargestellten Gründen der verstärkten Nachfrage seitens einer Öffentlichkeit gebildeter Laien ausgesetzt. So ermöglichte die Medizin eine physiologisch-materialistische Betrachtung des Menschen, die auf der Basis eines orthodoxen Wolffschen Rationalismus im wahrsten Sinne des Wortes undenkbar gewesen wäre. Und so hing die Existenzberechtigung der Pädagogik trotz des anthropologischen Pessimismus der Spätaufklärung von der unhintergehbaren Basisannahme der prinzipiellen Erziehbarkeit des (jungen) Menschen ab. Jene und weitere, bisweilen schwer miteinander vereinbare fachspezifische Konturen sowohl der von Niekerk behandelten als auch der anderen, am Anthropologiediskurs beteiligten Fächer mussten in diesem als Synthesedisziplin gefeierten Diskurs vermittelt und aufeinander abgestimmt werden. Es spricht Einiges dafür, dass sich viele seiner Zeitgenossen im Gegensatz zu dem scharfsinnigen und vielleicht gerade deshalb über eine Anthropologie in Bruchstücken nicht hinausgelangenden Lichtenberg der Problematik solcher, der Integration des oftmals Disparaten verpflichteten Vermittlungsoperationen kaum bewusst waren. Dies sollte die quellengläubige Literarische Anthropologie allerdings nicht dazu verleiten, sich wegen ihrer durchaus sympathischen Entdeckerfreude über einen für die Aufklärung zentralen, früher nicht gebührend gewürdigten Diskurs mit dessen bloßer Rekonstruktion zu begnügen und dessen unzureichendes Problembewusstsein unkritisch zu übernehmen.

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Anthropologiediskurs und Epochenproblematik

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Andererseits vermögen die jüngsten Forschungen zum Anthropologiediskurs der deutschen Aufklärung Niekerks Studie in einem wichtigen Punkt zurechtzurücken. Mit dem grundsätzlich begrüßenswerten Versuch, sich nicht allein bei Lichtenberg aufhalten, sondern die anhand seines Werks gewonnenen Untersuchungsergebnisse im Kontext der Epochenproblematik des 18. Jahrhunderts diskutieren zu wollen, geht Niekerk das Risiko ein, dass der Geltungsanspruch seiner Forschungen aus epochenspezifischer Perspektive problematisiert werden kann. Zwar wird niemand ernsthaft Niekerks Darlegungen über Lichtenberg als typischen Vertreter der sich selbst zum Problem werdenden Spätaufklärung in Abrede stellen wollen. Anders sieht es allerdings aus, wenn man sich vom Anthropologiediskurs ausgehend der Epochenproblematik nähert. In diesem Fall zeigen beispielsweise die von Niekerk nicht wahrgenommenen Arbeiten Carsten Zelles, dass der in der anzuzeigenden Arbeit unternommene Versuch, drei Phasen des Anthropologiebegriffs im 18. Jahrhundert zu unterscheiden (S. 167–169), unter Umständen revisionsbedürftig ist, weil die Hinwendung zu anthropologischen Fragestellungen kein Spezifikum der Spätaufklärung, sondern ein schon seit den 1740er Jahren im Umkreis der Halleschen Psychomediziner zu beobachtendes Phänomen war. 7 Man hätte gern gewusst, wie Niekerk auf Zelles Forschungen reagiert, zumal er eine eindeutige Relation zwischen dem anthropologischen Wissen vom keineswegs nur vernünftig, sondern häufig nach irrationalen Motiven handelnden Menschen und dem zunehmenden Pessimismus der Spätaufklärung hinsichtlich ihrer Überzeugung von der Durchsetzbarkeit der Vernunftherrschaft herstellt.

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Davon unberührt bleibt freilich der Umstand, dass die von Niekerk vorgelegten Untersuchungsergebnisse ansonsten größtenteils überzeugen. Was an seiner Untersuchung zu monieren ist, betrifft weniger die inhaltliche Ebene als den Zuschnitt und Argumentationsduktus. Die Arbeit leidet unter einigen Wiederholungen und einer bisweilen allzu ausladenden Beweisführung. Dies hat zwar den unleugbaren Vorteil, dass man alle fünf Kapitel als eigenständige Abhandlungen lesen kann. Dieser Vorteil fällt aber nicht sehr ins Gewicht, da die aufeinander aufbauenden Kapitel die weiterführende Lektüre zur Pflicht machen und da eine Straffung des Textes mindestens ebenso leser(innen)freundlich gewesen wäre. Keineswegs alles, was Niekerk anführt und ausbreitet, hätte unbedingt angesprochen werden müssen. Diese Kritikpunkte schmälern jedoch die Substanz des Buches keineswegs, das sowohl wertvolle Beiträge zur Lichtenberg- und Anthropologie-Forschung beisteuert als auch als ergiebige Studie zur Epochenproblematik der deutschen Literatur-, Ideen- und Wissenschaftsgeschichte im 18. Jahrhundert gelesen zu werden verdient.

 
 

Anmerkungen

 Gertrud Fischer: Lichtenbergische Denkfiguren. Aspekte des Experimentellen. Heidelberg: Winter 1982; Smail Rapic: Erkenntnis und Sprachgebrauch. Lichtenberg und der Englische Empirismus. Göttingen: Wallstein 1999; Dieter Kliche: Litterärgeschichte der Naturlehre und Experimentalphysik. Zum Verhältnis von Lehrbuch und Experiment in Georg Christoph Lichtenbergs Physik-Vorlesungen. In: Marie-Theres Federhofer (Hg.): Experiment und Experimentieren im 18. Jahrhundert. Heidelberg: Palatina 2006 (Cardanus. Jahrbuch für Wissenschaftsgeschichte, 5), S. 39–62. Eine gute, angesichts der neueren Forschungen allerdings bereits ergänzungsbedürftige Übersicht über Lichtenbergs Tätigkeiten als Naturforscher bietet Rainer Baasner: Lichtenberg als Wissenschaftler. In: Ders.: Georg Christoph Lichtenberg. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1992, S. 130–168.   zurück
 Ulrich Joost: Vorlesungsmanuskript und Vorlesungsnachschrift als editorisches Problem, und etwas von Lichtenbergs Vorlesungen. In: Robert Seidel (Hg.): Wissen und Wissensvermittlung im 18. Jahrhundert. Beiträge zur Sozialgeschichte der Naturwissenschaften zur Zeit der Aufklärung. Heidelberg: Palatina 2001 (Cardanus. Jahrbuch für Wissenschaftsgeschichte, 1), S. 33–70; hier: S. 58–66.   zurück
 Vgl. Simone De Angelis: [Rez.] Gideon Herman de Rogier: Verstreute Aufzeichnungen aus Georg Christoph Lichtenbergs Vorlesung zur Experimental-Physik 1781. Hg. und kommentiert von Olle Bergquist, übersetzt aus dem Schwedischen von Anne-Bitt Gerecke. Göttingen: Wallstein 2004 (Lichtenberg-Studien, 12); Johann Friedrich Benzenberg: Die Astronomie, Physische Geographie, Meteorologie und Geologie. Georg Christoph Lichtenbergs Vorlesung 1797/1798. Hg. und kommentiert von Hartmut Grosser. Göttingen: Wallstein 2004 (Lichtenberg-Studien, 13). In: Federhofer: Experiment (Anm. 1), S. 113–119.   zurück
 Horst Gravenkamp: Geschichte eines elenden Körpers. Lichtenberg als Patient. 2., durchges. Auflage. Göttingen: Wallstein 1992; Friederike Kleisner: Körper und Seele bei Georg Christoph Lichtenberg. Würzburg: Königshausen & Neumann 1998.   zurück
 Wolf Lepenies: Naturgeschichte und Anthropologie im 18. Jahrhundert. In: Bernhard Fabian / Wilhelm Schmidt-Biggemann / Rudolf Vierhaus (Hg.): Deutschlands kulturelle Entfaltung. Die Neubestimmung des Menschen. München: Kraus 1980, S. 211–226; Frank William Peter Dougherty: Buffons Bedeutung für die Entwicklung des anthropologischen Denkens im Deutschland der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze zu Themen der klassischen Periode der Naturgeschichte. Collected Essays on Themes from the Classical Period of Natural History. Göttingen: Norbert Klatt 1996, S. 70–88 u. 323–351 (Anm.).   zurück
 Walter Erhart: Nach der Aufklärungsforschung? In: Holger Dainat / Wilhelm Voßkamp (Hg.): Aufklärungsforschung in Deutschland. Heidelberg: Winter 1999, S. 99–128; hier: S. 127 f.   zurück
 Carsten Zelle (Hg.): »Vernünftige Ärzte«: Hallesche Psychomediziner und die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Frühaufklärung. Tübingen: Niemeyer 2001; ders.: »Vernünftige Ärzte«. Hallesche Psychomediziner und Ästhetiker in der anthropologischen Wende der Frühaufklärung. In: Walter Schmitz / Carsten Zelle (Hg.): Innovation und Transfer. Naturwissenschaften, Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. Dresden: Thelem 2004, S. 47–62.   zurück