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Was ist »musikalische Lyrik«?
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Während die Leser des neuen Handbuchs der musikalischen Gattungen vermutlich keine Schwierigkeiten haben, sich unter den Titeln der meisten Bände aus dieser Reihe etwas vorzustellen – Sinfonie, Streichquartett oder Oper sind auch für den Laien Begriffe, mit denen er Phänomene aus der musikalischen Praxis verbinden kann –, dürfte dies bei Band 8 anders sein. Wer hier seinen Assoziationen freien Lauf lässt, wird sich vielleicht überlegen, ob mit »musikalischer Lyrik« eine Lyrik gemeint sein könnte, die besonders klangvoll ist, wie etwa die Gedichte der Nürnberger Pegnitzschäfer, oder sich fragen, was denn das Gegenteil von musikalischer Lyrik sein könnte: nichtmusikalische Lyrik im Sinne von Gedankenlyrik möglicherweise oder, falls man eine Opposition zum Substantiv »Lyrik« bilden möchte, musikalische Prosa?
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Probleme des traditionellen »Lied«-Begriffs
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Des Rätsels Lösung findet sich in Hermann Danusers Einleitung (Bd. I, S. 11–33). »Musikalische Lyrik« wird hier als Gegenbegriff eingeführt, um den Aporien der traditionellen Liedhistoriographie zu entgehen (S. 11). Eindrucksvoll demonstriert Danuser die Missbrauchsmöglichkeiten des Liedbegriffs. Schon im Stadium der Genese wird das Lied, so etwa bei Herder, mit nationalen Aufgaben belastet, es wird geradezu zum Medium deutscher Identität. Entsprechend nationalistisch gerät dann auch die Liedhistoriographie, wie Danuser am Beispiel des Artikels »Lied« in der alten MGG
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zeigt. Weitere Nachteile kommen hinzu: Der Liedbegriff ist durch die Liedvertonungen gerade des 19. Jahrhunderts stark ästhetisiert worden, die so gewonnenen Paradigmen taugen jedoch nicht, um die Lieder früherer Zeiten oder anderer Kulturen zu erfassen. Wenn man hingegen das Kunstlied des 19. Jahrhunderts als eine Spezialform der umfassender gedachten Gattung Lied auffassen möchte, dann steht man vor dem Problem, dass ein und derselbe Terminus einmal eine Untermenge und ein anderes Mal eine Gesamtmenge der in der Gattung vorkommenden Einzelphänomene bezeichnet. Außerdem betone der Terminus »Lied« nicht genügend den doppelten, d.h. sprachlichen und musikalischen Aspekt der Gattung (S. 11–15).
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Da das neue Handbuch das europäische Liedschaffen von der Antike bis zur Gegenwart in den Blick nehmen möchte, kann der Begriff nicht mehr zur Bezeichnung der Supragattung verwendet werden, was eine Verwendung zur Bezeichnung entsprechender Phänomene im deutschsprachigen Raum etwa des 19. Jahrhunderts jedoch nicht ausschließt.
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Probleme der neuen Begrifflichkeit
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All diese Argumente gegen den traditionellen Liedbegriff überzeugen. Es bleibt lediglich zu fragen, ob der neu geschaffene Begriff »musikalische Lyrik« ganz glücklich gewählt ist. Man gerät bei der Kritik hier freilich schnell ins Geschmäcklerische. Ich empfinde die Asymmetrie zwischen Adjektiv und Substantiv als zu stark. Das Adjektiv bleibt dem als Oberbegriff aufzufassenden Substantiv untergeordnet. Hier hätte vielleicht eine Konjunktion wie »Lyrik und Vertonung« neutraler gewirkt.
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Eine andere Frage stellt sich hinsichtlich des Begriffs »Lyrik«. Wird diesem Begriff nicht ähnlich viel zugemutet wie vorher dem Liedbegriff? Wenn man das Lyrische nicht mit Staiger als ontologische Größe auffasst, die sich einem irgendwann einmal als Idee entbirgt,
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sondern wenn man es historisch ableiten möchte, dann bleibt eine solche Vielfalt auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, die den Nenner sehr groß und damit unspezifisch werden lässt. Die Definition des »Lyrischen« aus dem neuen Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft jedenfalls, die Danuser seinen Überlegungen zugrunde legt, scheint mir nicht weit genug gefasst zu sein: »alle Gedichte, also sämtliche Texte in Versen, die kein Rollenspiel vorsehen (d.h. nicht auf szenische Aufführung hin angelegt sind) und keine längeren Erzählungen (z.B. Versepen) sind.«
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Hier fällt der ganze Bereich mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Rollenlyrik weg sowie der Aspekt, dass diese Lyrik (meistens) aufgeführt wurde. Gerade der Aufführungs- und der Rollenaspekt taugen also nicht als Differenzkriterium.
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Erfolgversprechender scheint mir Danuser Versuch, das Verhältnis von Gedicht und Vertonung nicht als Beziehung zweier von einander unabhängiger Größen zu definieren, sondern als das Verhältnis zweier Größen, die sich erst über die Art ihrer Beziehung hinreichend bestimmen lassen: Es lassen sich drei Modi gewinnen (S. 22 ff.): Zunächst eine »archaische« Einheit von Lyrik und Musik, wie sie für mündliche und semiorale Kulturen typisch ist. Sodann den Modus einer Lyrik, die im Hinblick auf die Vertonung geschaffen wurde und mit einer Vertonung rechnet. Dies wäre etwa im Europa der Frühen Neuzeit der Fall. Und schließlich gebe es als dritten Modus eine kontingente Beziehung zwischen Lyrik und Musik. Dichter und Komponist bzw. Autor und Interpret treten nun endgültig auseinander. Im ersten Modus wäre die Vertonung ein notwendiges Merkmal, nur vertonte Lyrik ist Lyrik, im dritten Fall dann nicht. So ergeben sich aufgrund der drei Modi drei unterschiedliche Erscheinungsweisen musikalischer Lyrik.
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Zwischen Literatur- und Musikwissenschaft
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Das Handbuch ist so angelegt, das der doppelte Aspekt der »musikalischen Lyrik« zum Tragen kommt. Dies geschieht zum einen durch den Aufbau: Für jede Epoche wird das Phänomen aus doppelter Perspektive, einer musik- und einer literaturwissenschaftlichen beschrieben. So gibt es je zwei Kapitel zum Mittelalter, zur Renaissance, zum 17. wie zum 18. und 19. Jahrhundert, zur Moderne (1880–1920) und zum 20. Jahrhundert.
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Danuser geht dabei von einem Spannungsverhältnis zwischen Musik und Lyrik aus, das es zu bedenken gelte. Zwar können Text und Musik einander stark angenähert werden, wenn man die musikalischen Aspekte der Sprache betont: Wort-Wiederholungen, Rhythmus und Klang. Doch durch dieses Verfahren bringe man die Sprache um ihren Kern, den semantischen Aspekt (S. 17ff.); und schaffe eine unproduktive, quasi tautologische Nähe.
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Da Danuser die Inhalte der einzelnen Kapitel am Ende der Einleitung kurz referiert (S. 28–33), erübrigt sich eine Wiedergabe im Rahmen einer Rezension. Stattdessen möchte ich an drei Fallbeispielen (Mittelalter, 18. Jahrhundert und Moderne) der Frage nachgehen, wie sich das Verhältnis von (germanistischer) Literaturwissenschaft und Musikwissenschaft im Buch gestaltet. Gibt es hier ein produktives Mit- und Gegeneinander oder doch nur das altbekannte Nebeneinander der Disziplinen?
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Beispiel 1: Das Mittelalter
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Der das Kapitel einleitende umfangreiche Aufsatz von Andreas Haug (Bd. I, S. 59–129) behandelt das Thema aus musikwissenschaftlicher Perspektive. Für Haug bildet das Singen mittelalterlicher Lyrik den Normalfall (S. 65). Dass gerade im deutschen Minnesang so häufig die Melodie fehle, liege an den späten Aufzeichnungskontexten, in die die Melodie-Notationen nicht mehr sinnvoll zu integrieren waren (S. 66).
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Haug geht es in seinem Aufsatz um das Verhältnis von Text und Musik. In einer brillanten Analyse, die sowohl theoretische Texte (Johannes de Grocheo, Dante Alighieri) wie auch erhaltene einstimmige Melodien französischer, italienischer und spanischer Provenienz umfasst, arbeitet Haug zwei grundsätzliche Stilregister mittelalterlicher Liedkunst heraus: das große Lied (cantus) und das kleine Lied (cantilena). Um nur einige Merkmale zu nennen: Das große Lied etwa vermeidet melodische Wiederholungen, vor allem auch Refrains, für das kleine Lied bilden Wiederholungen ein Stilmerkmal, der Melodieverlauf bei jenem ist melodisch komplexer, deklamatorisch, bei diesem einfacher und rhythmisch eher auf Taktvorstellungen bzw. Tänze zu beziehen.
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Haug vermag zu zeigen, dass das Stilregister jeweils im Hinblick auf den Text gewählt wird, dem rhetorischen Prinzip des aptum gemäß. Eine Pastorelle tendiert zur cantilena, ein Tagelied zum cantus. Jedoch kann das Stilregister sogar innerhalb eines Liedes wechseln, wenn es vom Text gefordert wird, oder aber es kann den Text ironisch kontrapungieren.
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Der zweite Teil des Aufsatzes beschäftigt sich mit dem einstimmigen geistlichen Gesang und beschreibt die Differenz zwischen altem Lied (den spätantiken und karolingischen Hymnen) und dem um 1100 entstehenden neuen Lied. Wieder geht es um die Frage der Text-Musik-Relation. Haug ersetzt diese zweiwertige durch eine dreiwertige Relation (S. 117): Es gibt eine sprachliche Bedeutungsschicht, also die semantische Ebene, eine sprachliche Klangschicht, die durch Metrik und Reim entsteht, sowie schließlich die melodische Klangschicht.
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Für das alte Lied kann Haug dann feststellen, dass hier nur die Beziehung zwischen der sprachlichen und der melodischen Klangschicht eine Rolle spielt, die Melodie reagiert gewissermaßen immer nur auf die vorgegebenen metrischen Strukturen. Die metrischen Strukturen bleiben dabei gleich, während Melodie, aber auch Textinhalt wechseln.
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Beim neuen Lied erhöht sich die Vielfalt der metrischen Strukturen, nun reagieren individuelle Melodien auf individuelle sprachliche Klangschichten. Haug zeigt dies am Beispiel der Behandlung von Reimen durch die Melodie (S. 118f.).
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Während im Bereich der cantus-cantilena-Differenz die Text-Musik-Relation auch über die sprachliche Bedeutungsschicht entfaltet wird, geschieht dies beim neuen Lied eher über die sprachliche Klangschicht.
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Ein Aufsatz von Thomas Cramer (Bd. I, S. 130–136) ergänzt Haugs Perspektive aus germanistischer Sicht. Cramer vertritt die These, dass mittelhochdeutsche Lyrik musikalisch vorgetragen, rezitiert oder gelesen worden sei (S. 132), wobei er aus der Tatsache, dass relativ wenige Melodien überliefert sind, schließt, dass der Musik ein sekundärer Staus zukomme. Mithin gebe es also keinen grundlegenden Unterschied zur Rezeption von Lyrik etwa im 19. Jahrhundert.
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Cramers Position innerhalb der germanistischen Mediävistik entspricht nicht dem allgemeinen Konsens, der die mittelhochdeutsche Lyrik weitgehend als Aufführungskunst begreift.
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Im Sinne einer Antithese ist Cramers Aufsatz jedoch geeignet, die Annahmen Haugs noch einmal zu bedenken. Zunächst einmal ist zu konzedieren, dass niemand die Rezitation oder auch die bloße Lektüre von mittelhochdeutscher Lyrik als Rezeptionsmodus ausschließen sollte.
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Die Argumente, die Cramer gegen eine musikalische Aufführung vorbringt, scheinen mir indes nicht überzeugend. Dass die Gedichte ausgesprochen komplex sind, mithin einer schriftlichen Fixierung bedürfen, spricht noch nicht gegen eine musikalische Aufführung (S. 132). Auch komplexe Lyrik mit komplexer Musik kann aufgeführt werden, man denke an die Werke Guillaume de Machauts. Mittelalterliche Aufführungen müssen nicht, wie Cramer unterschwellig annimmt, rein improvisatorischen Charakter tragen.
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Es folgt das Argument, dass viele Strukturen des Textes rein visuell konzipiert sind (S. 133). Sie können beim musikalischen Vortrag, aber auch schon bei einer Rezitation, nicht wahrgenommen werden. Dieses Argument ließe sich allerdings generell gegen die mittelalterliche Musik wenden. Der komplizierte isorhythmische Aufbau einer Mottete Machauts mit allerlei Zahlensymbolik überfordert den Hörer vollständig. Daraus darf man wohl mit aller Vorsicht schließen, dass Durchhörbarkeit kein zentrales mittelalterliches Kompositionsideal gewesen sein kann.
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Es bleibt schließlich die missliche Überlieferungslage. Hier ist zunächst daran zu erinnern, dass dieser Befund nicht typisch für das Mittelalter ist. Von der deutschsprachigen Oper des 17. Jahrhunderts haben sich zwar fast 100% der Texte erhalten, aber höchstens 5% der Musik. Daraus wird man nicht schließen wollen, dass die Opern nur gelesen wurden. Vielmehr ist der Status musikalischer Notation auch im 17. Jahrhundert sehr viel ephemerer als der des Textes. Nicht nur der musikalische Geschmack, sondern die Notationstechniken selbst unterliegen einem starken Wandel, so sehr, dass unter Umständen Notation und Stil nach hundert Jahren bis zur Unverständlichkeit veraltet sind.
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Die zwischen Haugs und Cramers Aufsätzen waltende Antithese ist nicht wirklich produktiv zu machen. Hier wäre ein Aufsatz aus der Literaturwissenschaft, der über den neuesten Stand der Performance-Forschung berichtet, sicherlich für einen Dialog geeigneter gewesen. Der Brillanz der Haugschen Analysen tut dies freilich keinen Abbruch.
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Beispiel 2: Das 18. Jahrhundert
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Der umfangreiche Artikel über die musikalische Lyrik des 18. Jahrhunderts von Heinrich W. Schwab (Bd. I, S. 349–407) wird mit einem Forschungsüberblick eingeleitet, der vor allem auch nach den Lücken in den großen Liedmonographien fragt. Weitgehend unberücksichtigt bleibe das unbegleitete Lied, ferner die durchkomponierten Vertonungen von Sonetten und Balladen, aber auch die geistliche Lyrik werde kaum behandelt (S. 353).
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Schwab dokumentiert zunächst mit reichem Belegmaterial, dass der Liedbegriff im Deutschland des 18. Jahrhunderts in den liedtheoretischen Schriften drei Merkmale umfasst: Sangbarkeit, Strophenform und Einheit der Empfindung (S. 355). Nichtstrophische lyrische Gebilde, aber auch durchkomponierte Vertonungen von Strophenliedern wurden tendenziell als »nicht-liedartig« aufgefasst.
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Im Sinne des erweiterten Liedbegriffs, den das Konzept der musikalischen Lyrik impliziert, richtet Schwab sein Augenmerk vor allem auch auf jene Formen, die vom Strophenschema mit einer einzigen, für alle Strophen verwendeten Melodie abweichen. Dabei stellt er neben der Durchkomposition im strengen Sinn mehrere Zwischenstufen fest: so etwa, wenn die Melodie von der Singstimme beibehalten wird, aber der Klavierpart variiert, oder auch, wenn die Liedmelodie zwar im Grundgerüst beibehalten wird, sich aber mit rhythmischen und melodischen Varianten der jeweiligen Strophe anpasst. Diese Anpassung der Melodie an den Text kann auch durch den Liedvortrag selbst geleistet werden (S. 388ff.).
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Einen weiteren Schwerpunkt des Artikels bildet die Frage nach der Funktion von Liedern. Neben der nach wie vor gegebenen geselligen Funktion kommt im 18. Jahrhundert eine didaktische Funktion hinzu. Die Lieder sollen den Menschen moralisch bessern, und so wird immer wieder der pädagogische Nutzen von Liedsammlungen hervorgehoben (S. 367ff.). Es gibt zunehmend Lieder für einen spezifischen Adressatenkreis: »Kinder«, »kleine Mädchen«, »Junggesellen« (ibid.).
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Das Lied wird dabei in zweifacher Hinsicht von der Arie in den Opern abgegrenzt: Es wird im privaten, häuslichen Raum musiziert und es ist weniger virtuos strukturiert. Diese Opposition, die auch von zeitgenössischen Theoretikern immer wieder betont wird, dürfte in der Praxis jedoch weniger stark ausgeprägt gewesen sein. Denn bei Opernarien gibt es ja nicht ausschließlich virtuose Gesangsstücke, die für Kastraten und Star-Sopranistinnen komponiert wurden, sondern wir haben gerade im deutschsprachigen Musiktheater eine Fülle einfacher Formen. In den deutschsprachigen Opern bis 1740 sind es die Strophenlieder der komischen Figuren, in den deutschen Singspielen ab etwa den 1760er Jahren überwiegen liedhafte Sätze.
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Vor diesem Hintergrund wäre auch die ältere Ansicht von der liedlosen Epoche zwischen 1700 und 1730 endgültig ad acta zu legen. Wenn man einen erweiterten Liedbegriff zugrunde legt, denn fallen zahlreiche Arien der Hamburger, Braunschweiger und Weißenfelser Opern unter diese Kategorie. Ferner sind in diesem Zeitraum die pietistischen Gesangbücher sehr erfolgreich, allen voran das von Freylinghausen (Halle 1704).
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Bei der Frage nach dem gesellschaftlichen Ort von Liedern im 18. Jahrhundert wäre wohl noch das subversive Potential des Liedgesangs zu berücksichtigen. Das Lied als eine halbmündliche Form eignet sich als Medium des Protests besonders gut, da die Zensur hier kaum Zugriffsmöglichkeiten besitzt. Dass solche Lieder kursierten, ist oft nur durch Hinweise in Gerichts- oder Ratsprotokollen belegbar.
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Der Beitrag Norbert Millers (Bd. I, S. 408–434) beleuchtet die Liedproduktion des 18. Jahrhunderts von literaturwissenschaftlicher Seite. Wie Schwab konzentriert sich auch Miller auf den deutschsprachigen Raum und präsentiert eine an der traditionellen Literaturgeschichtsschreibung angelehnte Darstellung von Sperontes über die Anakreontiker, die Berliner Liedschule (Ramler, Krause) zu Klopstock, Goethe und Matthisson. Millers Artikel entspricht dem Genre des Handbuchs, der Preis ist allerdings eine gewisse Kanonlastigkeit. Die von Miller ausgewählten Beispiele sind problemlos unter dem traditionellen Liedbegriff subsumierbar, eine Begriffserweiterung im Sinne der musikalischen Lyrik ist hier nicht notwendig. Die literaturwissenschaftliche Perspektive ergänzt die musikwissenschaftliche Darstellung vor allem hinsichtlich des herderschen Volksliedkonzeptes. Der Konstruktcharakter von Herders Volkspoesiekonzept hätte dabei vielleicht noch deutlicher herausgearbeitet werden können.
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Beispiel 3: Die frühe Moderne (1889–1920)
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Der von Hermann Danuser verfasste Artikel zur musikalischen Lyrik der Moderne (Bd. II, S. 139–210) geht von der These aus, dass sich die Moderne hinsichtlich der Liedkomposition als eine Kreuzung dreier Gattungsbereiche der musikalischen Lyrik beschreiben lässt: Zum traditionellen Klavierlied treten der Orchestergesang und das Ensemblelied
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(S. 141). Aufführungspraktisch entspricht dieser Trias ein in den 1880er Jahren eintretender Wandel im Konzertwesen. Es gibt nun reine (Klavier-)Liederabende, für die Orchesterkonzerte entsteht ein Bedarf an Orchesterliedern, dem die Komponisten durch Instrumentierungen von Klavierliedern und Neukompositionen entsprechen (S. 142). Die zeitgenössische Kontroverse, die um das Orchesterlied geführt wird – inwiefern ändert sich die Sprechsituation des lyrischen Ichs, sodass die Intimität des Klavierlieds verloren geht? – zeichnet Danuser konzis nach (S 145).
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Für die Herausbildung der musikalischen Moderne sind alle drei Gattungen des Liedes relevant. Danuser führt dies an drei Reihen mit paradigmatischen Analysen vor: Für das Klavierlied werden exemplarisch Lieder von Fauré, Debussy, Wolf, Strauss, Pfitzner und Janáček ausgewählt, für das Orchesterlied Werke von Mahler, Berg, Hindemith und Schreker und für das Ensemblelied Kompositionen von Schönberg, Ravel, Stravinskij und Webern. Diese Auswahl ist nationenübergreifend und breit genug, um die verschiedenen Facetten moderner Liedkomposition abdecken zu können. Unter den Interpretationen befindet sich manch brillantes Kabinettstückchen. Verwiesen sei wenigstens auf die Analyse von Pfitzners op. 33,6 Röschen biß den Apfel an, in der Danuser zeigt, dass Pfitzners Vertonung Prinzipien folgt, die ihn zu einem Komponisten genau jener Moderne machen, die er in seinen theoretischen Schriften so vehement ablehnt (S. 162ff.).
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Knappe Exkurse zur Chorlyrik und zum Lied in der Oper runden das Kapitel ab. Die Chorkompositionen tendieren in der Moderne dazu, die Fähigkeiten eines Laienchores zu übersteigen, sind also von vornherein für professionelle Chöre konzipiert. In diesem Zusammenhang wäre vielleicht ein Exkurs zur Jugendbewegung mit dem Wandervogel angebracht gewesen. Auch wenn die hier gesungenen Lieder kompositorisch nicht den Standards der Moderne entsprechen, sind sie doch ein Phänomen der Moderne, da sie mit ihrer Natursehnsucht und romantischen Gemeinschaftsbeschwörung auf die Verstädterung und Industrialisierung sowie deren sozialen Folgen reagieren.
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Danusers Aufsatz zugeordnet ist eine literaturwissenschaftliche Darstellung der Moderne durch Ernst Osterkamp (Bd. II, S. 211–223). Osterkamp kritisiert zunächst das Modell von der Ablösung der Lyrikergeneration der Großväter (Geibel, Dahn, Heyse) durch die der Enkel (Hofmannsthal, George, Rilke) als nicht hinreichend scharf, da die Lyrik der Großvätergeneration ja weiter wirke. Die Zeit vor der Moderne sei im Bereich der Lyrik eher durch einen Funktions- und Ansehensverlust gekennzeichnet (S. 212), dem dann durch die junge Generation ein neues Lyrikverständnis entgegen gesetzt werde.
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Osterkamps Artikel ist ähnlich wie der von Danuser aufgebaut. Zentrale Lyriker der Moderne werden mit Einzelanalysen vorgestellt: Dehmel, George, Hofmannsthal und Rilke. Auf diese Weise entsteht eine Balance zwischen Überblicksdarstellung und Detailanalyse. Beide Artikel konzentrieren sich auf das, was man Höhenkammliteratur zu nennen pflegt. Osterkamps Analyse von Richard Dehmels Der Arbeitsmann (S. 216) dekonstruiert den pseudosozialistischen Anspruch des Liedes. Eine korrespondierende Analyse der Vertonung durch Richard Strauss (op. 39,3) hätte sich hier angeboten. In der 1918 entstandenen Orchesterfassung gewinnt man zunächst den Eindruck, dass die Musik unter Einsatz eines gigantischen Orchesterapparats den sozialen Anspruch dieses Rollengedichtes zu sehr ins Wilhelminisch-Heroische verfremdet. Geht man jedoch von Osterkamps Analyse aus, dann liefert die Orchesterfassung eine Dekonstruktion des Dehmelschen Pathos.
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Hier, wie bei den folgenden Analysen von George-, Rilke- und Hofmannsthal-Gedichten wäre eine engere Zusammenarbeit von Literatur- und Musikwissenschaft auf jeden Fall produktiv gewesen. So aber gewinnt der Leser den Eindruck, dass ein fächerübergreifender Dialog zwischen den einzelnen Disziplinen nur schwer zu realisieren ist.
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Was dessen ungeachtet bleibt, sind die gelungenen Einzeldarstellungen gerade von Seiten der Musikwissenschaft, die den Band sowohl zu einem brauchbaren Nachschlagewerk wie auch zu einer vorzüglichen Einführung in die Welt der musikalischen Lyrik werden lassen.
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