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Kunstnaturen: Geschlecht, Körper, Mensch

  • Gisela Febel / Cerstin Bauer-Funke (Hg.): Menschenkonstruktionen. Künstliche Menschen in Literatur, Film, Theater und Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts. (Querelles. Jahrbuch für Frauen- und Geschlechterforschung 9) Göttingen: Wallstein 2004. 280 S. 28 s/w Abb. Kartoniert. EUR (D) 24,00.
    ISBN: 3-89244-762-4.
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Anthropologische Maschinerie (Prolog)

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Zur Erfahrung der Moderne gehört das Wissen um die problematische Abgrenzung des Menschen von dem, was immer wieder neu als das anthropologische ›Andere‹ gesetzt wird: das Tier, die Maschine, die ›rohe‹ Natur. In diesem Sinn beginnt die Moderne im 18. Jahrhundert: Angesichts naturgeschichtlicher Entdeckungen, die den Menschen in die Ordnung der Tiere verweisen; angesichts technischer Entwicklungen, die den Körper im Modell der Automate zu simulieren, über Reizsteuerung zu regulieren oder gar gleich im Mutterleib künstlich zu reproduzieren und zu formen versprechen; und angesichts philosophischer Neubestimmungen des Menschen als ›leib-haftiges‹ statt nur als rationales Wesen wird die Verwandtschaft mit dem, was das ›Andere‹ sein soll, immer wieder neu hergestellt – und muß umso stärker durch wiederholte Grenzziehungen abgewiesen werden. Diese Dialektik hat Giorgio Agamben als »anthropologische Maschine« bezeichnet. 1 Ihre Dynamik verweist auf die Abwesenheit einer Eigennatur des Menschen und zugleich auf die Anstrengungen, dieselbe mit einem Programm namens ›Humanismus‹, mit Bildung und biopolitischen Maßnahmen (›body building‹), artifiziell hervorzubringen: 2 Der Mensch »konstituieret sich selbst« und »die Natur des Menschen ist Kunst« 3 .

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In den Künsten wird diese ›Neuerfindung der Natur‹ immer wieder an allerlei anthropomorphen Figuren durchgespielt, die sich verselbständigen und nicht selten ihre ›Autoren‹ zerstören: belebte Statuen, Puppen, Automaten, Golems, Monster. Erkundet wird damit zum einen jene Wissensdisposition, vor deren Hintergrund der Mensch erscheint – und eben auch wieder verschwinden kann, 4 weil das Humane und sein ›Anderes‹ ununterscheidbar zu werden drohen. Zum anderen werden die Geschichten von der Menschenbildung in der Regel auf der Folie des Prometheus- und des Pygmalion-Mythos gestaltet. Sie folgen oder unterlaufen daher die Vorgaben von schöpferischem Subjekt und erschaffenem Objekt und verweisen darüber hinaus auf die (heterosexuelle) Begehrensmatrix zwischen (männlichem) Autor und (weiblichem) Werk.

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Menschenkonstruktionen im 19. und 20. Jahrhundert:
zum Konzept des Bandes

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Der vorliegende Band beginnt seine Erkundungen zum Thema ›Menschenkonstruktionen‹ freilich nicht im 18., sondern im 19. Jahrhundert, da er von der These ausgeht, daß die »radikale Annahme der ›Kultürlichkeit‹« nun überhaupt erst auszumachen sei (Einleitung, S. 8). Doch zieht er seine Begründung letztlich aus der kurz gestreiften aufklärerischen und anthropologischen Suche nach der Bestimmung des Humanen. Nachzudenken sei »über das Beste und das Schlimmste im Menschen« (S. 17).

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Hierfür werden die Künste und ihre Deutungswissenschaften als Garanten einer kritischen Reflexionsebene jenseits »des Elfenbeinturms oder des gentechnischen Labors« in den Dienst genommen, welche die Diskussion über ethische und gesellschaftliche Zielvorstellungen befördern sollen (S. 17). Allerdings suggeriert die dabei als (negative) Bezugsgröße vorausgesetzte »klassische Trias des bonum, verum, pulchrum« dann vielleicht doch etwas zu rasch, daß die werttheoretische Füllung der Begriffe klar, vielleicht gar bis heute konstant sei; und daß »das Böse, der Körper, die Frau« (S. 7) ein immer gleichbleibend ›Anderes‹ der Vernunft bzw. eines darüber definierten (männlichen) Menschen gewesen ist.

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In – bei einem Jahrbuch wohl unvermeidlich – recht heterogenen Einzelstudien geht es dem Band darum, den künstlichen Körper im Kontext eines durch die Industrialisierung auf neue Weise erfolgten Modernisierungsschubs als Ort der Debatten um Gender und Humanität sowie als Ort der Kämpfe um gesellschaftliche, kulturelle und wissenschaftliche Paradigmen aus interdisziplinärer Perspektive zu erkunden. Versammelt sind Beiträge zu literarischen Texten, Theater- und Operninszenierungen (hier dominiert die romanistische Perspektive), zu bildender Kunst, Fotografie und Film, einem Computerspiel sowie zwei Auseinandersetzungen mit Konzepten der Hybriditätsdiskussion. Unterteilt ist der Band – vermutlich dem Format des Jahrbuchs geschuldet, aber in diesem Zusammenhang nicht ohne weiteres nachvollziehbar – in ›Aufsätze‹, ›Fundstücke‹ und ›Forum‹. Abgerundet wird das Ganze durch eine ausführliche Forschungsliteratur zum Thema des Bandes.

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Belebende Statuen:
der Eros der toten Leiber und Weiber

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Im ersten Beitrag, Der ›blinde Fleck‹ im Auge des Archäologen: Prosper Mérimées La Vénus d’Ille (1837), arbeitet Irmgard Scharold zunächst die »fetischistische Erotomanie« (Freud) heraus, welche die neu entstehenden Wissenschaften Archäologie und Kunstgeschichte sowie die bürgerliche Gelehrten- und Sammlerkultur im Historismus entwickelt haben, wobei Scharold insbesondere die Reaktionen angesichts der 1820 gefundenen Venus von Milo hervorhebt. Nicht zuletzt der von Krafft-Ebing referierte Versuch eines Gärtners, die Plastik zu vergewaltigen, offenbart eine aus »Sexualität, Tod und Wahnsinn« gezeugte, kollektive ›erotische Paranoia‹ des Bürgertums, aus der sich auch Mérimées Erzählung speist.

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Des weiteren führt Scharold vor, daß und wie der Text das Deutungsbegehren anstachelt und ins Leere laufen läßt – dies gilt ebenso für den Leser der Erzählung (Scharold verwendet nur die männliche Form) wie für die Protagonisten, welche die Inschrift auf der Venusfigur zu entziffern trachten. Metonymische Verschiebungen, ein Furor sprachlicher Assoziationen und schließlich (oder vor allem) ein signifikantes ›Loch‹ in der Statue, das die Lektüre unterbricht, markieren die Vergeblichkeit der Sinnzuschreibungen und produzieren doch recht eigentlich erst die Lust, gar die Wollust am Text. Mit Roland Barthes ließe sich daraus folgern, daß der Text ein Anagramm des erotischen Körpers des Lesers sei. 5 Scharold argumentiert ähnlich mit Freud: In der Venus-Statue sieht sie das Grundmuster der Erzählung selbst materialisiert (S. 38), und das Spiel der Sprache ermöglicht dem Leser ebenso wie dem Dichter, die eigenen Fantasien ohne Scham auszuleben (S. 40). So überzeugend Scharolds Darlegungen sind, sie gehen doch nicht weit genug: Eine Reflexion darauf, daß dieses Text-Begehren offenkundig männlich (und heterosexuell) codiert ist, findet nicht statt. Bleibt daher die Frage, ob und wie die Lektüre einer Leserin sich dazu zu positionieren vermag.

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Narrative wie der bei Prosper-Mérimée aufgerufene Pygmalionmythos weisen dem Schöpfer und dem Geschöpf, dem Autor / Leser und dem Werk bestimmte geschlechtliche Positionen zu, mit denen jeweils ein nicht nur erotisches, sondern auch mimetisches, auf Aneignung gerichtetes Begehren 6 verbunden ist: die Erschaffung nach dem eigenen Bild. Dies zeigt sich auch in dem Beitrag von Anke Wortmann: Die künstliche Frau als Glücksversprechen. Die zweifelhafte Machbarkeit des Ideals in Villiers de l’Isel-Adams L’Eve future (1886). Wortmann arbeitet u.a. heraus, daß die Frau, mag sie auch noch so sehr die Venus von Milo verkörpern, dennoch erst dann dem (männlichen) Schönheitsideal entspricht, wenn sie eine Lacanianische Spiegelfunktion erfüllt (S. 55).

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Entsprechend reproduziert der fiktive Erfinder und Technophile Edison die Geliebte seines Freundes Lord Ewalds als Andreida, um in der künstlichen Frau das Doppelbild der eigenen Seele anzulegen. Lord Ewalds erotisches und Edisons mimetisches Begehren vermischen sich auf diese Weise miteinander, wobei Wortmann die fetischistischen, auto- wie homoerotischen Komponenten dieses ›Frauentauschs‹ nicht vertieft. 7 Sie konzentriert sich vielmehr auf die Pointe, daß der vermeintliche Triumph von Kunst und Wissenschaft über die Natur zuletzt doch von einem weiblichen Geist namens Sowana durchkreuzt wird, der seinen bisherigen organischen Körper verläßt, ihn mit dem neuen, Alterslosigkeit versprechenden Kunstleib vertauscht und so – statt Edison – die eigentliche ›Belebung‹ der Andreida vornimmt (S. 57 f).

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Während hier die Frage ungestellt bleibt, welchen Ort zwischen Schöpfung und Geschöpf, Subjekt und Objekt der Kunst diese postbiologisch-palingenetische Eva der Zukunft dann wohl einnimmt, führt Cerstin Bauer-Funke das Wechselspiel zwischen beiden Positionen anhand der blutrünstigen Dekonstruktion des Pygmalionmythos durch den anti-franquistischen Autor Augustín Gómez-Arcos vor. In dem Theaterstück Interview de Mrs. Muerta Smith por sus fantasmas (1972) avanciert eine Leiche zur Protagonistin, die ihrem Hund Pígmalion dezidierte Anweisungen gibt, wie er ihren von Würmern zerfressenen Körper auszuweiden hat, um sich anschließend durch Organaustausch, Hautersetzung und Prothesen in eine goldene Puppe zu verwandeln. Als belebter Tod zelebriert Mrs. Muerta Smith »die Künstlichkeit der Frau als Figur in der Fiktion« (S. 67 f.).

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Zugleich wird die Degradierung des Künstlers zum dienenden Hund inszeniert, der noch dazu von einer anderen Figur auf der Bühne während des Schöpfungsprozesses vergewaltigt wird: eine Absage an das erotische Begehren, das der pygmalionische Künstler traditionellerweise auf sein Werk richtet – nun ist es der Künstler, der zum sexuellen Objekt wird. Dabei wird die Gewalttätigkeit des vorgeführten ›perversen‹ Schöpfungsaktes betont und das Credo von der Originalität und Freiheit des Künstlers ad absurdum geführt. Schließlich verweist auch das permanente Rollen- und Maskenspiel der Protagonisten auf eine wiederholte Durchquerung derjenigen Dichotomien (Geist / Materie, Natur / Kunst, Subjekt / Objekt), die das »Beziehungsgeflecht von Schöpfer und Geschöpf« (S. 70) strukturieren.

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Mediale (Ver-)Führung der Sinne:
Simulationen und Animationen

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Gisela Febel widmet sich in ihrem Beitrag Stimme und anamorphotischer Blick oder wie man sich in Romanen und Opern in virtuelle Wesen verliebt der Beobachtung, daß der Rezipient bzw. der Protagonist einer gezielten Wahrnehmungslenkung unterliegt, die dann zur Illusion des Lebendigen führt. Zur Illustration der damit verknüpften rezeptionstheoretischen und epistemologischen Probleme zieht sie drei literarische Texte (E.T.A. Hoffmann: Der Sandmann; Jules Verne: Le Château des Carpathes; Adolfo Bio Casare: La invenciòn de Morel) sowie deren musiktheatralische Adaptionen heran. Im Vordergrund steht die szenische und kompositorische Schwierigkeit, wie auf der Bühne, an realen Körpern und Stimmen, die darzustellende Vermischung von Kunst und Leben sichtbar bzw. hörbar und begehrenswert gemacht werden kann. Febel betont vor allem drei akustische Strategien: 1) Die semantische Entleerung des gesungenen Textes erhöht die phatische Qualität der Stimme. 2) Todesthematik und Melancholie betonen das Faszinosum der Nekrophilie, das ohnehin mit den künstlichen Figuren verbunden ist, und bilden ein auratisierendes Moment der Stimme. 3) Rhythmische Markierung der Künstlichkeit und Diskontinuität bewirken die Unterbrechung der Illusion des Natürlichen (und die Herstellung der Illusion des Künstlichen).

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Versucht Febel außerdem, die spekuläre Inszenierung der paradoxen Verbindung von Subjekt und Objekt unter knappem Rückgriff auf Slavoj Žižeks Konzept des anamorphotischen Blicks zu bestimmen, so arbeitet Sigrid Adorf in ihrem Beitrag über die Blickinszenierungen in Claude Cahuns fotografischen Selbstinszenierungen sehr überzeugend mit der von Barthes eingeführten Differenz von Sehen und Ansehen, 8 um das Changieren zwischen den Subjekt- und Objektpositionen vorzuführen, die dem Betrachter der analysierten Bilder zugewiesen werden. Adorf zeigt, daß und wie im Sinne von Barthes eine Verrücktheit des fotografischen Blicks entsteht, durch die wiederum die Paradoxie zwischen Verlebendigung und Mortifikation hergestellt und zugleich der prekäre Status vom ›Bild der Frau‹ unterlaufen wird.

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Ebenso widmet sich Birgit Käufer in ihren Überlegungen zu Hans Bellmers Arbeiten den Wahrnehmungsverunsicherungen, die durch die Inszenierung der fragmentierten und grotesken Puppenkörper im Medium der Fotografie entstehen: Sowohl die Puppe als auch die Fotografie spielt mit der Illusion, die körperliche Wirklichkeit zu verdoppeln. Aus der Verschränkung der medialen mit der ikonographischen Ebene entsteht bei Bellmer eine doppelte Verschiebung kultureller Codierungen, welche die Dialektik von Kunst und Natur, Imitation und Authentizität vorführt und den Konstruktionscharakter sowie die performative Praxis von Geschlecht, Körper und Begehren ausstellt.

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Während diese Analysen das diffizile Wechselspiel zwischen Medialität, Rezeptionssteuerung, (geschlechtlicher) Subjekthaftigkeit und Körperwahrnehmung vorführen und damit jeweils einen Beitrag zur Erforschung der ›imaginierten Weiblichkeit‹ liefern, 9 feiert Alexander Glück in seinem Forums-Beitrag zum zehn Jahre alten Computerspiel Tomb Raider und dessen animierter Protagonistin Lara Croft gerade ein vermeintlich ›neues‹ Frauenbild: »die erste Gestalt […], in der sich Intellekt, Kraft und ausgesprochene Pin up-Qualitäten vereinen« (S. 238) – sie ist die »Kultivierung der Sehnsucht« (S. 241). Angesichts solcher – im übrigen völlig anmerkungsfreier – Beobachtungen kommt man beinahe ins Zweifeln, ob es so etwas wie Klaus Theweleits Buch über Männerphantasien oder Kate Millets Sexus und Herrschaft, ob es Arbeiten zur Frauenbildforschung oder auch nur Sekundärliteratur zum Phänomen Lara Croft jemals gegeben hat. 10

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Will the real body please stand up?
Kunst / Körper

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Unter der Rubrik »Fundstücke« stellt Cornelia Lund die Arbeiten der zeitgenössischen Künstlerin Hilde Winkler vor, die – inspiriert von Hans Bellmer, Herbert List und Cindy Sherman – mit den Repräsentationen des nackten Frauenkörpers spielt. urlaubsostesee. mit rosanne (1996) präsentiert runde Formen, gebildet aus nassem Sand, zusammengehalten von Nylonstrümpfen und fotografisch in Szene gesetzt, die an dekontextualisierte weibliche Rundungen erinnern und ein Spiel mit dem sexualisierten Blick des Betrachters eröffnen. Zugleich wird die Auseinandersetzung zwischen Körper (Sand) und Raum (Strand), Gestalt und Ungeformtem, Kunst und Natur hergestellt.

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Gleichsam als Pendant dazu widmet sich Claudia Peppel in ihrem Beitrag Warenkörper und Kunstfigur. Der Manichino als ästhetisches Phänomen der Gliederpuppe und ihrer Bedeutung für die Malerei des frühen 20. Jahrhunderts. Als Sinnbild des entfremdeten Menschen, für den Warencharakter, die Technisierung des Körpers und die Überwindung des Physischen, steht sie Pate für die Deformation, Fragmentierung und Montage als ästhetische Prinzipien, die insbesondere am menschlichen Körper, seiner Zerlegung und seinen künstlichen Ersetzungen ins Bild gesetzt werden. In der hier vor allem zu nennenden ›Pittura metafisica‹ geht es, so Peppel, nicht zuletzt darum, ein neues Sehen zu erproben, die gewohnte Raumordnung aufzuheben und den Menschen selbst als technisches Konstrukt vorzuführen.

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Als ein solches Konstrukt wird der Körper auch in den Plakaten des Künstlers Antal Lakner (INERS – The Power, 1998/99) ausgestellt, der die Körper-Apparat-Koppelung anhand von Arbeits- und Sportgeräten demonstriert. Erweist sich der Mensch bei Peppel als alter ego des Manichino, wird er in dem Beitrag von Insa Härtel (Zur Evolution von Trainingsgeräten […]) zum Teil und Motor einer Maschinerie des Muskelaufbaus. In beiden Fällen jedoch offenbart sich eine tiefgreifende Dialektik zwischen der Verdinglichung des Belebten und der Belebung der Dinge.

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Anhand der anthropomorphen Objekte und der Performances der Künstlerin Rebecca Horn wird diese Dialektik durch Claudia Bahmer erneut in den Mittelpunkt gestellt. Und auch sie fokussiert die Frage nach dem Wechselspiel und der gegenseitigen Formierung von Körper und Raum, der Grenzverwischung zwischen Subjekt und Objekt, Innen und Außen. Darüber hinaus aber geht es um die ästhetischen Manipulationen, die durch prothetische Ersetzungen und durch bestimmte Raumerfahrungen und Einschränkungen der Kinetik erzielt werden können. Hierfür nutzt Horn insbesondere den Film als Mittel zur Erschaffung künstlicher Umwelten: als »wandelndes Fenster mit Blick auf die Welt der Körper« (158 f.), mit dem neue Wahrnehmungen generiert werden können.

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Spike Jonzes Film Being John Malkovich dagegen kreist gewissermaßen um den Fensterblick aus einem anderen Körper: Er inszeniert einen Geschlechtertausch und Identitätskampf zwischen einem Puppenspieler und einer Tierpflegerin, die wechselweise in den Körper von John Malkovich schlüpfen. Julika Griem weist in ihrer Analyse darauf hin, daß der Körper des Schauspielers gleichsam die pygmalionische Marionette des Mannes und die phallische Prothese der Frau bildet – eine Körpererweiterung, die am Ende zur weiblichen und lesbischen Zeugung eines Kindes führt. Auf diese Weise diskutiert der Film organische und mechanische Paradigmen der Körperdeutung und -formung sowie der Reproduktion. Griem macht anhand eines historischen Rekurses zudem deutlich, daß der Film nicht zufällig die Deutungsebenen von Puppen und Technik, von Affe und Tier einspielt: Beide Ebenen halten ein mimetisches und phantasmatisches Potential bereit, welches die Abgrenzung des Menschlichen vom bloß Anthropomorphen seit Descartes als problematisch erscheinen läßt.

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Cyborgs sind wir alle – theoretisch

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Seit einiger Zeit feiern die sogenannten feministischen techno sciences die Überwindung des geschlechtlichen (Fest-)Körpers 11 und die emanzipatorischen Potentiale hybrider Verbindungen zwischen bios und techné, Mensch und Tier. Derartige Ansätze weisen, wiewohl sie vor allem die technologies of sex and gender zu decouvrieren und zu subvertieren trachten, 12 eine gewisse Nähe auf zu Theorien des Posthumanismus und deren emphatisch begrüßter Möglichkeit der Körperoptimierung – oder gar ‑eliminierung. 13 Überraschenderweise findet sich nur wenig von diesen Überlegungen in den genannten Beiträgen rezipiert oder integriert. Statt dessen widmen sich zwei Aufsätze gesondert der Rekonstruktion des Hybriditäts-Diskurses, der insbesondere seit Donna Haraways A Cyborg Manifesto im Zeichen des Cyborgs (bzw.: der Cyborg) geführt wird.

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Margot Brink (Von Cyborgs, Monstern und der Hochkultur des Hybriden in der Theorie) zeichnet neben Haraways Neubestimmung eines transgressiven Körperkonzepts und der damit verbundenen (geschlechtlichen) Subjektposition zwei weitere Ansätze nach: Bruno Latours Theorem von den »Quasi-Objekten«, welche die Moderne mit ihrer forcierten Trennung von Kultur und Natur, Mensch und Ding negieren, sowie Katherine Hayles Versuch, ein posthumanes Subjekt aus dem Geist der Kybernetik und der Chaostheorie als Verhältnis von Information und Materialität neu zu bestimmen. Diese recht unterschiedlichen Ansätze werden mit den Arbeiten des performance-Künstlers Stelarc verknüpft und auf ihr Kritik- bzw. Utopiepotential hin befragt.

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Um utopische Konzepte geht es auch Anja Bandau (Lieber Mestiza als Cyborg? […]), die den Cyborg als Figur für ethnokulturelle Grenzüberschreitungen am Beispiel des Chicana/-o-Diskurses fruchtbar macht. Dabei verknüft sie in kritischer Absicht zwei theoretische Richtungen, die cultural studies und die techno sciences: Gegenüber den kulturellen Hybriditätstheorien (etwa von Homi K. Bhabha, Gayatari Chakravorty Spivak, Trinh T. Minh-ha) geht es der Verfasserin darum, die technische Realität der Postmoderne, die medial vermittelte Aushandlung von Identitätspositionen sowie performance und drag als Strategien derartiger Verhandlungen zu betonen. Umgekehrt beharrt sie mit Blick auf die cultural studies zu Recht darauf, das Konzept der Cyborg im kulturellen Kampf um Repräsentationen auf die Bedeutungsgenerierung hin zu untersuchen.

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Fazit

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Ohne Zweifel zeigt der Band eine breite Palette an Kreuzungspunkten zwischen Körper, Geschlecht und Artifizialität auf und verweist mit dem gewählten Thema auf einen zentralen kulturgeschichtlichen Aspekt, der gerade im Kontext derzeitiger Diskurse zur ›zweiten Schöpfung‹ (Technologien künstlicher Reproduktion, genetic engineering, KI etc.) an epistemologischer und ethischer Relevanz gewinnen dürfte. Man könnte die im Vorwort anklingende Ausgangsthese hinterfragen, daß es allein Aufgabe der »Interpretationswissenschaften« (S. 17) sei, hierüber nachzudenken, und nicht auch philosophischer, anthropologischer, naturwissenschaftlicher und wissenschaftsgeschichtlicher Beiträge bedürfte. Aber freilich hätte eine solche Erweiterung den Rahmen und die Anlage des Bandes gesprengt. Zwei Dinge sollen abschließend noch angemerkt sein:

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1. ›Menschenkonstruktionen‹ wird in diesem Band vielfach in ›Körper‹- oder ›Frauenkonstruktionen‹ übersetzt, ohne daß dieser Schritt im einzelnen wissensgeschichtlich oder gender-theoretisch hinlänglich begründet oder hinterfragt würde. Implizit droht dadurch eine Identifikation fortgeschrieben zu werden (Konstruktion=Frau=Körper), die doch eigentlich zu analysieren wäre.

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2. Mittlerweile herrscht ein gewisser Konsens, daß die kaleidoskopartige Versammlung zuweilen sehr verschiedener Aspekte unter einem Gesamtthema bei Sammelbänden und Zeitschriften ein beinahe unerläßliches Manko ist. Trotzdem wäre zu bedenken, daß gewisse Rahmenvorgaben im Hinblick auf die systematisch-historische Verortung der jeweiligen Beiträge für einer tiefergehende Problemorientierung hilfreich wären – im Idealfall womöglich ergänzt nicht nur durch eine breite Bibliographie, sondern auch durch einen flankierenden und situierenden Forschungsüberblick. So aber muß sich jede/r Leser/in herauspicken, was dem eigenen, möglicherweise recht fokussierten Interesse gerade entgegenspringt – und manches vom Potential des Rahmenthemas wird dadurch leider verschenkt.

 
 

Anmerkungen

Giorgio Agamben: Das Offene. Der Mensch und das Tier. Frankfurt/M. 2003, S. 39 und passim.   zurück
Vgl. hierzu Peter Sloterdijk: Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus. Frankfurt/M. 1999 sowie die Schriften Michel Foucaults, hier insbesondere: Überwachen und Strafen. Frankfurt/M. 1994, S. 174 f. Vgl. in diesem Zusammenhang auch: Marcel Mauss: Die Techniken des Körpers. In: M. M.: Soziologie und Anthropologie. Bd. 2: Gabentausch, Todesvorstellung, Körpertechniken. Hg. von Wolf Lepenies und Henning Ritter. Frankfurt/M., Berlin, Wien 1978, S. 199–220.   zurück
Johann Gottfried Herder: Briefe zur Beförderung der Humanität. In: J. G. H.: Werke in zehn Bänden. Hg. von Martin Bollacher u.a. Bd. 7. Hg. von Dietrich Irmscher. Frankfurt/M. 1991, S. 153 und S. 126.   zurück
Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Frankfurt/M. 1999, S. 462.   zurück
Roland Barthes: Die Lust am Text. Frankfurt/M. 1974, S. 26.    zurück
Zum Begriff des mimetischen Begehrens siehe René Girard: Mensonge romantique et vérité romanesque. Paris 1961 sowie R. G.: Mythos und Gegenmythos. Zu Kleists ›Erdbeben in Chili‹. In: David E. Wellbery (Hg.): Positionen der Literaturwissenschaft. Acht Modellanalysen am Beispiel von Kleists ›Das Erdbeben in Chili‹. München 2001, S. 130–148, S. 130–135.   zurück
Siehe dazu Eve Kosofsky Sedgwick: Between Men. English Literature and Male Homosocial Desire. New York 1985.   zurück
Roland Barthes: Die Helle Kammer. Bemerkung zur Photographie. Frankfurt/M. 1989.   zurück
So lautet – man müßte sagen können: bekanntlich, aber das trifft offenbar nicht zu – der Titel eines Klassikers der feministischen Literaturforschung: Silvia Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Repräsentationsformen des Weiblichen. Frankfurt/M. 1979.   zurück
10 
Zu Lara Croft sei nur stellvertretend hingewiesen auf Astrid Deuber-Mankowsky: Lara Croft. Modell, Medium, Cyberheldin. Das virtuelle Geschlecht und seine metaphysischen Tücken. Frankfurt/M. 2001.   zurück
11 
Vgl. hierzu folgenden Band: Jutta Weber / Corinna Barth (Hg.): Turbulente Körper, soziale Maschinen. Feministische Studien zur Technowissenschaftskultur. Opladen 2003.   zurück
12 
Siehe etwa Anne Balsamo: Technologies of the Gendered Body: Reading Cyborg Women. Durham/NC 1996. Yvonne Bauer: Sexualität – Körper – Geschlecht. Befreiungsdiskurse und neue Technologien. Opladen 2003. Die englische Phrase (technologies of sex and gender) ist bewußt gewählt, denn sie eröffnet weitere Implikationen und Traditionslinien – und soll sowohl auf Foucaults ›Technologien des Selbst‹ verweisen als auch (und vor allem) auf Teresa de Lauretis: Technologies of Gender. Essays on Theory, Film, and Fiction. Bloomington/Indianapolis 1987.    zurück
13 
Vgl. etwa Max More: On Becoming Posthuman (Copyright 1994). URL: http://www.maxmore.com/becoming.htm (Zugriffsdatum: 31.08.06); Ray Kurzweil: Reinventing Humanity. The Future of Human-Machine Intelligence (03.02.06). URL: http://www.kurzweilai.net/meme/frame.html?main=/articles/art0635.html (Zugriffsdatum: 31.08.06); Hans Moravec: Mind Children. The future of robot and human intelligence. Cambridge, Mass. 1988; H. M.: Die Evolution postbiologischen Lebens. Szenarien der Entwicklung von intelligenten Robotern und Agenten. Übers. von Florian Rötzer. URL: http://www.heise.de/tp/r4/artikel/6/6055/1.html (Zugriffsdatum: 31.08.06). Kritisch dazu die Beiträge in: Judith Halberstam / Ira Livingston: Posthuman Bodies. Bloomington 1995.   zurück