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Eine Figurenlehre der Adressierung?

Rhetorik zwischen Text und Kommunikation

  • Andrea Allerkamp: Anruf, Adresse, Appell. Figurationen der Kommunikation in Philosophie und Literatur. Bielefeld: transcript 2005. 386 S. Broschiert. EUR (D) 29,80.
    ISBN: 978-3-89942-331-0.
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Es charakterisiert die Figuren von Anruf, Adresse und Appell, denen sich die Habilitationsschrift von Andrea Allerkamp widmet, dass sie immer nur als »Vorgriffe« 1 aufzufassen sind, als Figurationen von Ereignissen, die erst noch der Aktualisierung bedürfen: Wenn man etwas mit einer Adresse versieht, stehen Zustellung und Rezeption noch aus, die die Adressabilität der Instanz, an die man sich richtet, rückwirkend bestätigen. Dies gilt für jede Rede, immer: Ob sie ein (ihr?) Ziel erreicht, vermag sie nicht selbst zu bestimmen. Die Teleologie der Adressierung ergibt sich immer erst im Nachhinein. Insofern sich aber Adressenordnungen aufgrund kommunikativer Selbstorganisation einstellen, entfalten sie dennoch eine enorme Wirkmächtigkeit. Man muss wissen, wie Adressierung möglich ist, will man überhaupt an Kommunikation teilnehmen. Umgekehrt haben Individuen die eigene Adressabilität sicherzustellen und sich gewissermaßen der Autorität der Adressenordnung zu fügen, wollen sie relevant bleiben. 2

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Die von Allerkamp untersuchten »Figurationen der Kommunikation« arbeiten an diesen Problemen. Sie geraten als Strukturen in den Blick, die eine bestimmte Art und Weise ihrer kommunikativen Aktualisierung nahe zu legen versuchen und daher in einer paradoxieträchtigen Zwischenposition zwischen Strukturen textueller Fixierung und kommunikativen Ereignissen betrachtet werden müssen. Der Begriff der Figuration macht dabei schon deutlich, worin der springende Punkt aller vorgelegten Analysen besteht – bezeichnet er doch zugleich fixierte Strukturen (insofern er mit dem Begriff der Figur kongruent ist) und die Ereignisse, die diese Figuren herstellen, Ereignisse des Figurierens. Figurationen sind, so formuliert Allerkamp, in einer Ambivalenz zwischen »Figur und Sprechakt« (S. 13) befangen.

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Allerkamp legt ihrem Unternehmen ein rhetorisch fundiertes Instrumentarium zugrunde: Sie geht nicht von einer modernen Theorie der Kommunikation aus, sondern liefert dekonstruktiv geschulte Lektüren, die an den jeweils in den Blick genommenen Texten aufzeigen, wie sie Kommunikation textuell figurieren oder derartige Figurationen theoretisch erfassen. Das ist folgerichtig, insofern die Rhetorik immer schon für Figuration zuständig ist 3 und zugleich Fragen der Adressierung seit jeher ins Zentrum ihres Interesses rückt 4 . Die Fruchtbarkeit einer genuin rhetorischen Bearbeitung der Problemstellung haben Arbeiten beispielsweise über die Apostrophe 5 oder die Prosopopöie 6 ja auch längst erwiesen.

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Aufbau

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Die Arbeit behandelt einerseits philosophische bzw. theologische Texte, die Figuren des Anrufs in ihr Zentrum stellen: Heidegger, Althusser, Austin und Derrida werden als Theoretiker der »Performanz des Anrufs« (S. 31) beschrieben; Augustinus, Silesius, Rosenzweig, Benjamin als Poetologen »sakrale[r] Anrufungen« (S. 85). Die Rekonstruktionen der jeweiligen theoretischen Konfiguration gehen dabei immer auch der in und von den Texten selbst figurierten Kommunikation nach. Andererseits wendet sich die Studie literarischen Texten zu und macht in deren Umgang mit Anruf und Adresse ein genuin literarische Moment aus (Hölderlin, Mallarmé, Kafka, Dante). In den Blick geraten mit den literarischen Verfahren auch philosophische Konstellationen (in diesem Zusammenhang wird Kierkegaard behandelt) – ebenso wie sich umgekehrt die Rekonstruktionen des philosophischen Argumente in den vorangegangenen Teilen auch als Ausweis der Literarizität dieser Texte lesen lassen. Den Abschluss des Bandes bildet ein Kapitel über den Appell im Konzentrationslager.

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In ihrem Aufbau orientiert sich die Arbeit nicht an einer historischen Ordnung, sondern an den titelgebenden Figuren: Drei Kapiteln über den Anruf folgen zwei über die Adresse und schließlich eines über den Appell. Die Autorin gibt diesen Aufbau als »Resultat einer Rücksichtnahme auf das diskursive Dispositiv von Texten, auf ihre wiederholbare und doch einzigartige Kommunikationsstruktur« (S. 16) aus. Dahinter steckt einerseits ein Vorbehalt gegenüber ›großen Erzählungen‹, die Texte als feste Adressen behandeln und so den Zugriff auf sie ein für allemal zu regeln versuchen. Andererseits liegt darin der Versuch, das Postulat einer methodisch abgesicherten Allgemeinheit wissenschaftlicher Rede auf seine Brüchigkeit hin transparent zu machen: Mehrfach zitiert die Arbeit Descartes, dessen rationalistische Absicherung der Erkenntnis eine Methode bereitzustellen glaubt, die auf notwendige Weise Zuverlässigkeit herzustellen vermag – und die damit eine Rede ermöglicht, die sich jenseits jeder spezifischen und damit kontingenten Form der Adressierung konstituiert (vgl. auch S. 189 f., 195 f.). Allerkamp möchte das figurative Potential, das die behandelten Texte in ihrer ›Einzigartigkeit‹ jenseits einer solchen methodischen Erschließung haben, gegen »das Dispositiv dieser administrativen und technischen Zwangs-Adressierung« (S. 22) in Stellung bringen. Sie will Anruf, Adresse und Appell »als Figurationen über sich selbst sprechen […] lassen« (S. 9).

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Bei aller Berechtigung dieser Anliegen muss man allerdings fragen, ob es dann sinnvoll ist, die Arbeit anhand der Leitbegriffe Anruf, Adresse und Appell zu strukturieren. Allerkamp unterscheidet nämlich keinesfalls definitorisch klar zwischen diesen Termini. Dies lässt sich anhand der Unterscheidung von Anruf und Adresse verdeutlichen, die sich aus derjenigen zwischen mündlichen und schriftlichen Figurationen der Kommunikation herleitet. Allerkamp behauptet, Adressen stellten zwar, ebenso wie Anrufe, »Beziehungsappelle« (Watzlawick) dar, seien aber »[d]arüberhinaus […] speicherbare Daten«, sie hinterließen »Spuren, die nach dem Akt der Übertragung noch sichtbar sind« (S. 188). Diese Unterscheidung ist zunächst einleuchtend (auch wenn hier irritiert, dass die unterschiedenen Termini ihre Gemeinsamkeit ausgerechnet in der dritten unterschiedenen Figur finden, im Appell): Mündliche Anrufe treten ja in der Tat als Ereignisse in Erscheinung, während schriftliche Adressen zunächst einmal ›nur‹ Texte darstellen. Als solche scheinen sie auf eine andere Weise auf eine ereignishafte Aktualisierung angewiesen zu sein als Anrufe.

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Nun rekonstruiert Allerkamp aber in ihrem Kapitel über die »Performanz des Anrufs« mehrere Positionen, die nahe legen, dass in kommunikativer Hinsicht dieser Unterschied zwischen Anruf und Adressierung von recht geringer Bedeutung ist. So legt es Althussers Beschreibung der polizeilichen interpellation nahe, zwischen dem Ereignis des Anrufs und dem Ereignis seiner Bestätigung zu unterscheiden (vgl. S. 52–58). Die Tatsache, dass sich auf den Anruf des Polizisten hin in der Regel tatsächlich nur derjenige umwendet, der gemeint ist, verweist in Althussers Analyse auf eine vorgängige Bereitschaft, sich anrufen zu lassen, ja sogar auf ein Bedürfnis, angerufen zu werden. Unabhängig von den Konsequenzen, die Althusser aus diesem Beispiel zieht, wird daran klar, dass der Anruf alleine seinen kommunikativen Effekt nicht programmieren kann: Er bedarf der Bestätigung durch eine »Reaktion der Wiedererkennung« (S. 188) – genauso wie die Adresse der Zustellung und der Rezeption bedarf, um kommunikativ relevant zu sein. Auf diese Struktur richtet sich aber das Interesse der Arbeit, nicht auf den medialen Unterschied zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, weshalb es fragwürdig scheint, dennoch diese Unterscheidung zum Ausgangspunkt zu wählen.

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Die Arbeit lässt dem Leser nun allerdings explizit große Freiheiten: »Bereits das Inhaltsverzeichnis löst einen performativen Effekt aus: indem es die Wahl lässt, den hergestellten Verbindungen zu folgen oder nicht, lädt es dazu ein, sich zu adressieren.« (S. 15 f.) Vor diesem Hintergrund mag es statthaft sein, der problematischen Ordnungsvorgabe der Arbeit hier nicht zu folgen, sondern die Rekonstruktion stattdessen in historischer Reihenfolge vorzunehmen und auf vier Autoren zu konzentrieren, die Wendepunkte in der literarischen Entwicklung bezeichnen. Die Rekonstruktion kann das Potential und die Produktivität von Allerkamps Themenstellung vor Augen zu führen. Weitestgehend blende ich dabei zunächst die Probleme aus, mit denen Allerkamps Darstellung behaftet ist; auf sie gehe ich erst anschließend ausführlicher ein.

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Dante, Hölderlin

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Wenn Dantes Komödie in einem der zwei Kapitel über die Adresse behandelt wird, liefert dies ein zusätzliches Indiz für die Vermutung, dass die Unterscheidung von Anruf und Adresse kein tragendes Strukturelement der Arbeit ist. Untersucht werden nämlich die Leseransprachen, die Dantes Text in einer erstaunlichen Regelmäßigkeit durchziehen (es finden sich je sieben Hinwendungen zum Leser in inferno, purgatorio und paradiso). Besonderes Interesse verdienen diese Leseransprachen, weil sie einerseits die Darstellung der Transzendenz mit der diesseitigen Wirklichkeit vermitteln (vgl. S. 267–271), andererseits aber eine Spannung zwischen der spezifisch ästhetischen und der theologischen Dimension der Erzählung sichtbar machen.

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Dantes Leseransprachen versuchen, unterschiedliche Arten und Weisen der rezeptiven Teilhabe an der Wanderung durchs Jenseits zu programmieren. Ist es das Prinzip des inferno, dass sich die Sünden, die der Sünder begangen hat, gegen ihn selbst wenden und ihn buchstäblich (d.h. körperlich) defigurieren (vgl. S. 276, 281), so wollen die Leseransprachen die Darstellung des Unvorstellbaren dennoch bestätigt wissen und die höllischen Defigurationen für die Rezeption vermittelbar machen (vgl. S. 273, 280). Dient das purgatorio der Läuterung, so wird der Leser aufgerufen, den Schleier der Darstellung zu lüften und die heilsgeschichtliche Lehre zu entziffern: Er hat sich von der selbstvergessenen Hingabe an die Oberfläche zu distanzieren und jene Wahrheit des Glaubens zu entdecken (vgl. S. 289–91), die erst den Weg ins paradiso bahnt. Ist dieses schließlich per definitionem dem materiellen Zugriff entzogen, so inszenieren sich hier die Leseradressen zugleich als Aufforderung, der himmlischen Herrlichkeit gewahr zu werden, und als Zurückweisung von Ansprüchen, sie konkret vermittelbar zu machen (vgl. S. 292, 297). In allen drei Fällen macht sich die Darstellung gerade in den Leseransprachen auf ihre ästhetischen Verfahren hin transparent (vgl. S. 280, 288, 302). Darin sieht Allerkamp ein geradezu modernes Verfahren des Adressierung (S. 270).

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Die Poetik des Anrufs, die sich einige hundert Jahre später bei Friedrich Hölderlin entfaltet, vollzieht einen radikalen Einschluss der Adressierungsbewegung in den Text. Besteht Allerkamp zufolge bei Dante eine gewissen Spannung zwischen ästhetischer Reflexivität und theologischer Zielsetzung, so geht Hölderlins Lyrik vom Verlust einer Möglichkeit der Adressierung von Transzendenz aus und leistet – so eine der Metaphern Allerkamps – eine unabschließbare »Trauerarbeit« (S. 147). Bei Hölderlin präsentiere »sich die Anrede des begehrten Objekts im Entzug von Ort, Stimme oder Name« (S. 150). Es zeichne die Adressierungen, die sich bei Hölderlin beobachten lassen, aus, dass sie ihr Ziel zugleich bezeichnen und verstellen. Das gelte sowohl für die Quellen, auf die sich seine Texte beziehen und auf die gleichwohl nie als auf Ursprünge im eigentlichen Sinne zugegriffen werden kann (vgl. S. 158–60), als auch für die Adressen, an die sich die Texte richten und die als verloren und unerreichbar inszeniert werden: Die »komplizierte Struktur Hölderlinscher Trauer […] stellt die Figur des Anrufs als eine verworfene dar und entzieht sich so der ›direkten‹ Annäherung, die sie, als Anrufung, dennoch weiterhin suggeriert« (S. 163).

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Ausführlich deutet Allerkamp Hölderlins handschriftliche Widmung »Wem sonst als Dir« in einem Exemplar des Hyperion, das der Dichter Susette Gontard geschenkt hat. Sie geht ausdrücklich keiner biographischen Thematik nach, sondern fragt, was »eine Widmung über die individuelle Zueignung hinaus auch für andere Leser lesbar« (S. 168) macht. Die Widmung in Frageform sei Artikulation einer »verstellte[n] Nähe«, was auch die zweite »handschriftliche Eintragung« (S. 170) in dem Widmungsexemplar nahe legt, die betont, der »Einfluß edler Na-/turen« sei lediglich in Form »zerstreute[r]/Spuren […] in den mannigfalti-/gen Gestalten und Spie-/len des Künstlers« wiederzufinden (zeichengenaue Wiedergabe des Hölderlin-Zitats von Allerkamp, dort S. 171). Allerkamps Lektüre der unterstrichenen Passagen des Widmungsexemplars (S. 174–182) macht deutlich, dass sie in ihrem Zusammenhang die »Unmöglichkeit des Versuches […], durch den Anruf am ›Leben‹ zu erhalten« (S. 180) erweisen und gleichermaßen die Notwendigkeit und die Vergeblichkeit des Bemühens herausarbeiten, durch den Anruf Gegenwärtigkeit zu erzeugen. Der scheinbar persönlichen Widmung ist der Entzug ihres Ziels somit bereits eingeschrieben.

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Mallarmé, Kafka

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Die Unterscheidung zwischen allgemeiner und privater Adressierung, die sich mit der Durchsetzung von Buchdruck und Post etabliert und auf deren aufklärerische Funktionalisierung bei Descartes schon hingewiesen wurde, lässt sich als Hintergrund von Allerkamps Untersuchungen zu Hölderlin ansehen: Die Inszenierung der persönlichen Adressierung als Entzug findet hier ja zumindest teilweise in öffentlich adressierten Schriften statt. Am Beispiel von Mallarmés Loisirs de la Poste beleuchtet Allerkamp eine weitere Möglichkeit des literarischen Umgangs mit dieser Unterscheidung.

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Mallarmés eigentümliche Form der ›Gelegenheitsdichtung‹ besteht aus Vierzeilern, die jeweils die konkrete Postadresse einer zeitgenössischen Pariser Persönlichkeit umschreiben. Mallarmé hat diese Vierzeiler tatsächlich auf Briefumschläge geschrieben und diese Umschläge (leer) verschickt. Veröffentlich wurden 1894 die Abschriften, die er in einem Notizbuch gemacht hatte. Allerkamp situiert diese Aktion im Kontext des Mallarméschen Projekts eines virtuellen Buchs, von dem einzig Fragmente geschrieben werden können, die aber in einer »spektakulären Ausstellung« (S. 230) auf die Möglichkeit dieses Buchs verweisen sollen. In beiden Fällen handelt es sich um Aktionskunst und um deren Dokumentation. In den Loisirs de la Poste gerät mit den veröffentlichten poetischen Adressen, die zugleich »Mini-Porträts« (S. 239) der Adressaten enthalten, der scheinbar ornamentale Rand jeder schriftlichen Kommunikation, der normalerweise mit dem Briefumschlag gleichsam weggeworfen wird, in den Blick, ja die Kontingenzen der Adressierung und der Zustellung werden selbst Medium und Gegenstand der Gedichte: »Sich dem Zufall überlassen, der durch die Gelegenheit gestiftet wird, erscheint notwendig, um die ›Gabe des Gedichts‹ vor verstaubten Aktenschränken zu bewahren.« (S. 243)

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Wie Mallarmés Loisirs handelt auch das Werk Kafkas nicht nur von Akten, sondern auch von Briefträgern. Allerkamp untersucht vor dem Hintergrund des Kafkaschen Briefwechsels und von Platons Politeia (hier insbesondere die Beschreibung der drei Moiren und der »Spule der Notwendigkeit«) die ›Gestalt‹ Odradek aus Die Sorge des Hausvaters. An Kafkas Briefwechsel wird aufgezeigt, dass gerade die bürokratischen Mechanismen der Übertragung, Aktenbearbeitung und Archivierung in ihrer operativen Immanenz »ideale Voraussetzung für die […] private Adressierung« (S. 250) schaffen: Die Adressierung der Geliebten, die sich in ihrem Büro am »begehrten Ort der Übertragung« (S. 249) aufhält, steht ein für eine Adressierung der Medien, die diese Übertragung leisten, aber selbst keine Adresse besitzen.

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Odradek lenkt das Interesse auf sich, weil er einerseits keinen festen Wohnsitz, also keine Adresse hat, andererseits als »Zwirnspule« mit »aneinander geknotete[n], aber auch ineinander verfitzte[n] [sic] Zwirnstücke[n]« (zit. auf S. 246) ausgestattet ist und damit Metaphern der Textproduktion und die Metapher des Schicksalsfadens aufruft. Die Beschreibung der Zwirnspule, die jeglichem Zweck, jeglicher Teleologie spottet und die sich jedem Bestimmungsversuch entzieht, konterkariert dabei laut Allerkamp die Schicksalsspindel, die bei Platon beschrieben wird: »Bei Kafka […] führen abgerissene Fäden nicht mehr in den Himmel. Ein Riß trennt auch Produktions- und Geschlechterverhältnisse.« (S. 257) Die Adressen »können sich nicht mehr auf ein demiurgisches Prinzip berufen« (S. 263). Die Zwirnspule Odradek steht dafür ein: Er »repräsentiert keine Macht, er dreht sich um sich selbst. Er gibt keine Adressen aus, verbindet nicht mit einem Aktendepot« (S. 260).

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Klarheit und Methode

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Was ich bisher rekonstruiert habe, wird in Allerkamps Text keinesfalls klar und sauber herausgearbeitet. Die Arbeit hat nicht nur unter einer denkbar schlechten Endredaktion gelitten: Typographische Schlampigkeiten treten gehäuft auf; es findet sich eine ärgerliche Menge von Rechtschreib- und sonstigen Fehlern 7 ; die Literaturangaben sind oft fehlerhaft, das Literaturverzeichnis lückenhaft. 8 Jedes Lektorat hätte vielmehr auch den eigentümlichen Satzbau der Autorin, der an einigen Stellen zu völliger Unverständlichkeit führt, intensiv bearbeiten müssen. 9

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Doch sieht man von solchen ›Äußerlichkeiten‹ ab, wird auch bei sprachlich kaum zu beanstandenden Sätzen wenig dafür getan, dass dem Gedankengang gefolgt werden kann. Folgendermaßen fasst die Arbeit etwa die These zu Hölderlin am Anfang des entsprechenden Kapitels zusammen:

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Friedrich Hölderlins Gedichte machen exzessiv Gebrauch von Figuren des Anrufs, der Adresse und des Appells, die jedoch immer wieder fremd oder fehl gehen. Bis zu letzten, persönlichen Widmungen und Briefen schreibt sich eine Tendenz fort, heiligen Quellen und geliebten Namen zu mißtrauen. Die Figuren Anruf, Adresse und Appell zeigen sich im Gewand einer Verwerfung. Poetische Korrespondenzen spinnend werfen sie die Frage nach einem Gesetz im Namen – nom – des Vaters auf. Der Bruch mit diesem negierten Vater-Namen (nomnon) erscheint nicht als Resultat einer heroischen Tat, sondern als Voraussetzung für eine Poetologie, die Toten prosopopoïisch eine Stimme leiht und als Epitaph für den Nachruf dient. Anrufe, seien es der Natur, Gottes oder der Geliebten, sind Ausdruck von Trauer. Das betrauerte Objekt aber läßt sich weder verorten noch benennen. Hölderlins namenlose Trauer weiß um ihre Sekundarität. Sie kennt kein Ideal der Unmittelbarkeit. Der performative, vergegenwärtigende Anruf spricht an, ruft zurück, kann aber nicht über sich selbst sprechen. Eine poetische Arbeit der Introjektion und Inkorporation entsteht. Sie ist kryptisch in verzerrte und umgekehrte Spiegel-Figuren eingelassen. (S. 145 f.)
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Diese nahezu unverständlichen »Thesen« (S. 146) ersetzen im Aufbau des Kapitels dasjenige, was der Leser zunächst einmal als Auskunft erwarten darf: Wovon nämlich, d.h. zumindest: von welchen Texten das folgende Kapitel eigentlich handelt. Hölderlin, das weiß man. Hat man die Einleitung aufmerksam gelesen, kann man sogar die im folgenden Abschnitt gegebenen Andeutungen entziffern. Hier wird verkündet, er werde »um ein persönliches Widmungsexemplar des Hyperion« (S. 146) gehen. Ein Widmungsexemplar? Warum keine konkrete Adresse? Warum erst einige Zeilen später der Hinweis, dieses Exemplar sei als »auratische[s] Buch […] einst durch die Hände von Autor und Geliebter« (S. 146) gewandert? Muss es bei der raunenden Anspielung bleiben, nur weil Hölderlins Texte – wie soeben gehört – in ihren Adressierungen ebenfalls »fremd und fehl gehen«?

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Das zitierte Beispiel ist kein Einzelfall. Die Arbeit macht es dem Leser schwer, denn es mangelt der Studie an Strukturen der Explikation. Ihr teils geradezu esoterischer Stil verweigert sich dem Leser, der sehen möchte, was mehr oder weniger wichtig ist. Pointen werden eher versteckt als hervorgekehrt. Versatzstücke wichtiger poststrukturalistischer Texte verselbständigen sich aus den Kontexten, in denen sie nachzulesen sind, und finden sich als Zitate wie unmittelbare Äußerungen zum jeweils interessierenden Text in den Text der Autorin montiert. Nicht zuletzt konturiert sich so die von diesem Text präferierte Quelle: Derrida. Auch wenn diesem Autor nur ein einzelner Abschnitt gewidmet ist, bilden seine Texte eine Art Subtext der vorgelegten Lektüren – nicht zuletzt deshalb, weil sie die Auswahl dessen, was gelesen wird, stark präfigurieren. Nicht dass die Arbeit damit keiner guten Adresse viel schuldete – ganz im Gegenteil. Die Frage ist aber, an wen sie sich selbst adressiert.

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Wenn die Unklarheit, ja teilweise Unverständlichkeit des vorliegenden Textes darin begründet ist, dass er entscheidende Hintergrundinformationen nicht expliziert, so kann man dem nicht mit der Forderung begegnen, alles auszuführen. Eine Grenze der Explikation ist notwendig, will man überhaupt etwas sagen, und diese Grenze ist immer kontingent. Deshalb stellt der Descartessche Entwurf einer allgemeinen Adressierung eine Utopie dar. Die Kontingenz der Unterscheidung von Vorwissen und expliziertem Wissen lässt sich nicht aufheben. Wissenschaft zeichnet sich aber insbesondere dadurch aus, dass sie auf der Grundlage kontingenter Ausgangsunterscheidungen dennoch konsistente und neue Ergebnisse erzeugen kann. Methode ist, so betrachtet, einerseits ein Mittel dazu, Überraschungen zu produzieren 10 , und bietet andererseits die Möglichkeit, kontingente Ausgangsunterscheidungen im Nachhinein als tragfähig zu erweisen. 11

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Vor diesem Hintergrund ist es kein Problem, dass Allerkamps Arbeit hohe Ansprüche an ihre Leser stellt. Viele innovative Texte haben in der unmittelbaren Rezeption Unverständnis hervorgerufen, berühmte Beispiele sind Kant und nicht zuletzt Derrida. Es gibt aber etwas, worin sich Allerkamps Arbeit radikal von Derridas Texten unterscheidet: Es ist eine unabdingbare Voraussetzung von Derridas Arbeit, dass sie zwar einiges an Vorwissen, niemals aber Einverständnis voraussetzt, ja dieses nicht einmal erzeugen möchte. Nicht umsonst hat Derrida in der berühmten Debatte mit Gadamer dessen Plädoyer für die »Macht des guten Willens« 12 zur Verständigung abgewiesen, indem er der Hermeneutik einen »[g]ute[n] Willen zur Macht« 13 attestierte. Einverständnis aber fordert Allerkamps Arbeit zumindest implizit ein: Wenn sie Aussagen beispielsweise Derridas, die ja immer nur in der Auseinandersetzung mit konkreten Texten gewonnen werden, auf andere Texte schlicht appliziert, so setzt sie eben nicht nur das Vorwissen um Derridas Analyse voraus, sondern auch das unbefragte Einverständnis mit dessen Ergebnissen. Damit entfremdet sie sich nicht nur von den Anliegen der Dekonstruktion, sondern sie torpediert auch diejenigen Verfahren, die die Wissenschaft gefunden hat, um mit ihren grundlegenden Kontingenzen umzugehen: Sie verzichtet darauf, kontingenzbewusste Konsistenz zu erzeugen, sondern setzt auch diese schon voraus. Die esoterische Grundhaltung der Arbeit ist damit doppelt ärgerlich: Sie steht nicht nur einer breiteren Auseinandersetzung mit einem faszinierenden Thema im Wege, das eine lesbare und exoterische Behandlung verdient hätte, sondern nicht zuletzt einer sinnvollen Anknüpfung an das Projekt der Dekonstruktion.

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Coda: Klarheit der Erzählung

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Am Schluss tritt an die Stelle der kunstvoll-esoterischen Perioden eine verständliche Sprache. Das Kapitel über die »Politik des Appells« stellt die Frage, inwiefern der »›entartete‹ Appell« in den Konzentrationslagern »am Ende einer kontinuierlichen Entwicklung steht«, ob also »der Trilogie Anruf, Adresse, Appell« eine »verborgene Teleologie« zugrunde liege (S. 308). Allerkamp geht von der von Agamben übernommenen These aus, »Auschwitz« widerlege »radikal das Prinzip einer obligatorischen Kommunikation« (S. 305). Dies werde, so Allerkamp, nicht zuletzt in den brutalen Prozeduren des Appells sichtbar und führe schließlich zur »Nicht-Adressierbarkeit der Schwächsten« (S. 313). Diese Stillstellung der Kommunikation reproduziere sich in den Schwierigkeiten des Zeugnisses: »Literatur und Zeugnis sehen sich vor die Schwierigkeit gestellt, das Unmögliche bezeugen zu müssen.« (S. 305)

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Warum entsteht ausgerechnet angesichts dieser Ausgangspostulate die am besten verständliche Passage des gesamten Buchs? Die Autorin betont ausdrücklich die Schwierigkeiten der Darstellung:

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Das vorliegende Kapitel, das die Politik des Appells innerhalb des Lagers anhand von Dokumenten untersucht, stand vor dem Dilemma: Wie über den Appell – »die unmenschlichste Programmnummer des KZ« [Zitat Miklós Nyiszli] – sprechen? Aber auch: Was heißt es, das Sprechen darüber zu unterlassen? Welche Dokumente befragen? Wie auswählen? (S. 315)
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Das »Dilemma«, das hier nicht namhaft gemacht wird, löst die Autorin, indem sie erzählt. Dabei vermeidet sie es sorgfältig, die hier gestellten Fragen zu beantworten. Wir erfahren nicht, wie jene »Dokumente« ausgewählt wurden, die sie zitiert. Wir erhalten zwar eine lesbare Geschichte, aber keinesfalls eine analytische Beschreibung des Gegenstandes, über den gesprochen werden soll. Die Erzählung schließt folgendermaßen:

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Was haben die Zitate über den Appell dokumentiert? Läuft eine historische Dokumentation nicht Gefahr, die Gewalt zu reproduzieren, die sie analysieren will? Was sagen Akten, Protokolle, Dokumente und Zeugnisse über den Appell aus? Stellt das Zitieren nicht gerade den narrativen Kontext her, den es doch angesichts der Gefahr einer Legendenbildung zu vermeiden galt? Das Dilemma bleibt bestehen: Wie über den Appell im Lager sprechen? Aber auch: Wie läßt sich nicht darüber sprechen? Wie läßt sich vermeiden, daß der Terror in Sensation umschlägt und den Reiz des Bösen erhält? Hat der Appell nicht längst den Normalzustand geschaffen, in dem Terror und Staatsphilosophie zusammenfallen? (S. 333)
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Der lesbaren Geschichte folgt damit eine Beschwörung, die spätestens mit der wiederholten Formulierung des »Dilemmas« ihren rituellen Charakter zu erkennen gibt. Auch darin liegt eine Gefahr jeder Esoterik: Sie ist auf kultische Selbstvergewisserung angewiesen.

 
 

Anmerkungen

Diese Wendung benutzt die Arbeit in Anlehnung an Bettine Menke (siehe S. 29).   zurück
Allerkamps Arbeit fasst dies mit einem an Foucault angelehnten Begriff der Macht. Theorien der Subjektkonstitution durch Adressierung rekonstruiert sie am Beispiel Heideggers (»Anruf des Gewissens«; S. 41–51) und Althussers (polizeiliche interpellation; S. 52–58).   zurück
Allerkamp betont, es gebe »keine systematische Theorie der Figuration, die eine globale Antwort auf die Frage geben könnte, wie sich das Erscheinen einer Figur im Text erklären läßt. Friedrich Nietzsche kommt das Privileg zu, als erster auf die unzugängliche Vermittlungsinstanz von Sprache und Rhetorik hingewiesen zu haben. Nietzsche zweifelt sowohl am Unterschied zwischen der wörtlichen und der übertragenen Rede als auch an jenem zwischen der Rede und ihren Figuren: ›Eigentlich ist alles Figuration, was man gewöhnliche Rede nennt.‹« (S. 13) – Zu diesem Ergebnis kommt allerdings in gewisser Hinsicht bereits Quintilian, wenn er behauptet, im Sinne eines weiten Figurbegriffs gebe es nichts, »das nicht als Figur gestaltet ist [nihil non figuratum est]« (Marcus Fabius Quintilianus: Institutionis oratoriae libri XII / Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher. Zweiter Teil. Buch VII-XII. Übers. u. hg. v. Helmut Rahn. Darmstadt 1975, S. 255).   zurück
Die Apostrophe erscheint als eine Art ›Metafigur‹, insofern sie sich »genau auf der Schwelle zwischen Rede- und Gedankenfiguren befindet« (S. 14).   zurück
Siehe z.B. den Abschnitt »Apostrophe« in Jonathan Culler: The Pursuit of Signs. Semiotics, Literature, Deconstruction. Ithaca 1981, S. 135–54.   zurück
Siehe z.B. Bettine Menke: Prosopopoiia. Stimme und Text bei Brentano, Hoffmann, Kleist und Kafka. München 2000.   zurück
Folgende Fehler finde ich in einem willkürlich ausgewählten Unterkapitel von 12 Seiten Länge: »›Zwischen […] selber.‹ zitiert in […]« (S. 133, Anm. 176); »›Denn kein Gedicht […] versteht.‹.« (S. 138); »An ein das Ausgesprochene nicht treffende Sprechen« (S. 139); »Benjamin [geht] in einem Dreischritt vor, die dann als ›Dreiheit des Aktes‹ in der Sprache wiederzufinden ist« (S. 140); »Das Un-mittel-bare […] führt zurück zum sprachlichen Rahmen, das seine Voraussetzung war.« (S. 141); »Sie geht ›jeder wahren Neugeburt‹ voraus […].« [Bezug des Pronomens »sie« völlig unklar] (S. 142 f.).   zurück
Grundsätzlich gibt die Verfasserin beim ersten Verweis auf einen Text eine vollständige Literaturangabe. Im folgenden wird dann mit Kurztiteln zitiert. Leider haben nicht-eigenständige Aufsatzpublikationen keinen Platz in der »Bibliographie« gefunden, sondern nur die jeweiligen Sammelbände. Werden dann in der Folge Kurztitel verwendet, hat der Leser keine Möglichkeit, die Angaben zu verfolgen. In demselben Kapitel, für das ich in Anmerkung 8 die Fehler aufgelistet habe, führt das zweimal zu Problemen (S. 133, Anm. 176; S. 139, Anm. 189). Folgende weitere Fehler oder Unklarheiten finden sich: Der Benjamin-Band, auf den in Anmerkung 191 (S. 137) verwiesen wird, findet sich nicht in der Bibliographie; in Anmerkung 207 wird in der Kurztitelnennung der Vorname des Autors ausgeschrieben, während er sonst immer abgekürzt wird; folgende Angabe findet sich in Anmerkung 211 (S. 142): »Walter Benjamin: Berliner Kindheit um neunzehnhundert, (Vorläufige Fassung 1932/33, erweiterte Fassung 1938, in: W. Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. IV,1, Frankfurt a. M. 1991, S. 242.«   zurück
Folgende stilistisch oder sprachlich merkwürdige Sätze finden sich beispielsweise in dem bereits angeführten Benjaminkapitel: »Sprache durchläuft drei Stadien: als schöpferische (göttliche) Sprache, paradiesische (adamitische) Sprache und als ›Abgrund der Mitteilbarkeit aller Mitteilung […].‹« (S. 134 f.) »Die Beschwörung von längst verdrängten sakralen Anrufungen reagiert auf die Krise einer Moderne, die zum Gedenken aufgerufen wird.« (S. 137) »Über die Annahme einer göttlichen Präsenz konsolidiert sich das Subjekt nicht nur linguistisch im Anruf.« (S. 138) »Daß Sprache in den Dingen nicht vollkommen ausgesprochen ist, zeigt die zweite Schöpfungsgeschichte der Genesis, indem die ›Erschaffung des Menschen nicht durch das Wort‹ geschehe.« (S. 138 f.) »Hier aber […] zeigt sich das Problem der losen Verknüpfung von Subjekt und Prädikat ohne Umschweife.« (S. 139) »Der Offenbarungsbegriff koppelt sich von der Erwartungshaltung einer Erfüllung der Realprophetie […] ab und baut auf Interpretation, Kommentar.« (S. 140) »Der ›Überbenennung‹ der Sprache als Resultat des Zusammenbruchs einer ursprünglichen Übereinstimmung von Wort und Ding begegnet der Aufruf mit der Rückkehr zu einer universellen ›Sprache der Menschheit‹ […].« (S. 141) Mit Bezug auf das Telefon ist schließlich von der »geisterhafte[n] Membran des Hörmediums« (S. 143) die Rede.   zurück
10 
»Methoden ermöglichen es der wissenschaftlichen. Forschung, sich selbst zu überraschen.« (Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt/M. 1997, S. 37.   zurück
11 
Luhmann unterscheidet die »kybernetischen Methoden«, die sich derartiger Verfahren der »Retrovalidierung« (Niklas Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt/M. 1998, S. 418 f.) bedienen, von »deduktiven Methoden« (S. 419).   zurück
12 
Hans-Georg Gadamer: »Und dennoch: Macht des Guten Willens«. In: Philippe Forget (Hg.): Text und Interpretation. Deutsch-französische Debatte mit Beiträgen von J. Derrida, Ph. Forget, M. Frank, H.-G. Gadamer, J. Greisch und F. Laruelle. München 1984, S. 59–61.   zurück
13 
Jacques Derrida: »Guter Wille zur Macht (I). Drei Fragen an Hans-Georg Gadamer«. In: Philippe Forget (Hg.): Text und Interpretation. Deutsch-französische Debatte mit Beiträgen von J. Derrida, Ph. Forget, M. Frank, H.-G. Gadamer, J. Greisch und F. Laruelle. München 1984, S. 56–58.   zurück