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Foucault revisited

  • Philipp Sarasin: Michel Foucault zur Einführung. (Zur Einführung 306) Hamburg: Junius 2005. 221 S. Paperback. EUR (D) 13,90.
    ISBN: 3-88506-606-8.
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Die Studie des Schweizer Historikers und Kulturwissenschaftler Philipp Sarasin, die letzten Herbst in der bewährten Reihe ...zur Einführung des Hamburger Junius-Verlags erschien, tritt die Nachfolge des älteren Einführungsbandes von Hinrich Fink-Eitel 1 an, und obwohl sie in manchen Aspekten an dessen Lektüre anschließt (u.a. gehen beide programmatisch von der konzeptionellen Unabgeschlossenheit des Denkens Foucaults aus und betonen dessen Verweigerung eines systematischen Anspruchs), überwiegen die Unterschiede. Nicht nur ist Sarasins Einführung, berücksichtigt man das wesentlich enger gesetzte Druckbild, fast doppelt so umfangreich, sie folgt zudem einer Systematik, in der sich ein in den letzten Jahren grundlegend gewandelter Zugriff auf Foucaults Denken niederschlägt.

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Wie die meisten Darstellungen des Gesamtwerks Foucaults aus den frühen 1990er Jahren 2 systematisierte auch Fink-Eitel Foucaults Denken mit Hilfe dreier Brüche und unterschied unter Absehung des Frühwerks die Archäologie (die ›Achse der Wahrheit‹) von der Genealogie (die ›Achse der Macht‹) und der Ethik (die ›Achse der Subjektivität‹). 3 Auch wenn Sarasin die Trias von Macht, Wissen und Subjektivität nur geringfügig modifiziert (bei ihm wird die Subjektivität zum Selbstverhältnis; vgl. S. 12), so weicht die Betonung der Brüche im Denken Foucaults einem Blick, der die »mäandrierende« (S. 11) Denkbewegung in ihrer historischen Entfaltung verfolgen will und der – ähnlich wie jüngst Ulrich Johannes Schneider in seiner Werkbiografie 4 – davon ausgeht, dass Foucault »die die Moderne prägenden Macht-, Diskurs-, und Subjektverhältnisse in verschiedenen Varianten und Formen immer wieder neu [...] zu fassen versucht, so dass seine Bücher erkennbar um ähnliche Fragen kreisen, ohne dabei deckungsgleiche Antworten zu liefern« (S. 13).

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Werkstatt Foucault

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Um die Themen und Motive – allen voran die Verschränkung von Macht, Wissen und Subjekt – transparent zu machen, folgt die Einführung im Wesentlichen der Chronologie von Foucaults Werken. Im Mittelpunkt der sieben Kapitel (das achte ist der Kritik an Foucaults genealogischem Konzept vorbehalten) steht jeweils ein Werk bzw. ein Korpus eng aufeinanderbezogener Schriften 5 , stellenweise ergänzt um biografische Bezüge wie Foucaults Aktivität in der Groupe d’Information sur les Prisons (S. 124–128) oder seine Zeugenschaft der Revolution gegen den Schah in Persien (S. 182–186). Neben den auch in Deutschland schon früh edierten Haupttexten nimmt Sarasin zusätzlich Bezug auf erst jüngst erschlossene Schriften, auf die seit 2005 auch auf Deutsch vorliegenden Dits et Écrits 6 und insbesondere auf die Vorlesungen, die Foucault ab 1974 allwinterlich am Collège de France hielt. 7

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Sarasin präsentiert Foucault gleich zu Beginn als einen »genealogisch denkenden Philosophen« (S. 31), dessen Originalität von den ersten Schriften an darin gelegen hätte, die »bodenlose Historizität aller Formen des Wissens« (S. 73) durch eine radikale Historisierung des eigenen Blicks zu erfassen. Bereits in Wahnsinn und Gesellschaft habe Foucault die Grenzziehungen einer Kultur (der Wahnsinn, der Traum, der Orient, das sexuelle Verbot; vgl. S. 25) als »wahre Geschichte« und die Errichtung des Menschen »als Subjekt und Objekt von Erkenntnis« als die Themen bestimmt, die »fortan [sein] Werk begleiten werden« (S. 36). Er setzte sich damit schon früh von seinen Zeitgenossen ab, von denen die meisten wie er Absolventen der École normale und geeint in ihrer Ablehnung der Phänomenologie und des Existentialismus waren. Foucault hingegen suchte seine Allianzen woanders, und er fand sie weniger in seiner eigenen Generation als in der Geschichte, im surrealistischen Philosophen und Schriftsteller Stéphane Mallarmé, in Ernst Cassirer und natürlich in Friedrich Nietzsche.

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Während Sarasin der Auseinandersetzung Foucaults mit »den Deutschen (Kant, Husserl, Cassirer)« ein eigenes, wenn auch knappes Unterkapitel widmet (S. 100–103), wird Foucaults »Schwanken« (S. 89) zwischen Mallarmé und Nietzsche zunächst in mehreren Fäden ausgelegt, um dann als Übergang von der Analyse des Wahnsinns zu einer Analytik der Macht gebündelt zu werden, die Sarasin als Entscheidung gegen Mallarmés »zerbrechliche Vibration des Wortes« (S. 103) und als Hinwendung zu einer auf Nietzsches Machtbegriff referierenden Analyse der »Ordnungen und Bewegungen eines anonymen Sprechens bzw. Denkens sowohl jenseits der Ebene des Bewusstseins als auch des Zeichens« (ebd.) liest (vgl. auch S. 89–91). In dieser Auseinandersetzung und gleichsam hinter der geschmeidigen Oberfläche von Sarasins ausgesprochen eingängiger Darstellung verbergen sich mehrere Thesen, die eine nähere Betrachtung fordern.

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Die Diskursanalyse – ein Kind der Anatomie

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Genealogische Darstellungen von der Entstehung der Diskursanalyse setzen in der Regel mit Wahnsinn und Gesellschaft (frz. 1961) ein, indem sie die Konstruktion des Wahns als das Andere der Vernunft zum Ausgangspunkt eines strukturellen Denkens erklären, welches das Subjekt entmächtige und an seine Stelle eine anonyme sprachliche Ordnung treten lassen, die Foucault in Die Ordnung der Dinge (frz. 1966) zunächst als Epistemata historisiert habe, um sie in Die Archäologie des Wissens (frz. 1969) und Die Ordnung des Diskurses (frz. 1970/71) einer methodischen Revision resp. Präzisierung zu unterziehen. Anders Sarasin: Er lässt seine Genesis der Diskursanalyse mit der auf den Tag genau zeitgleichen Publikation von Raymond Roussel und Die Geburt der Klinik (beide im April 1963) beginnen und doppelt die »Geburt der Kritik« (Philippe Sollers über Raymond Roussel) aus der Sprache Roussels mit der der Diskursanalyse aus der Gewebelehre des französischen Anatoms Xavier Bichat.

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So ungewöhnlich diese Überlegung zunächst anmutet, immerhin zählen beide Schriften weder zu den materialreichen noch zu den terminologisch besonders reflektierten, noch zu den viel rezipierten Schriften Foucaults, sie wird insbesondere durch die textuelle Doppelung plausibel. Der gemeinsame Nenner der Geburt der Kritik und der Diskursanalyse ist die Erhellung des Lebens und der Sprache vom Tod her (vgl. S. 51). Während sich bei Roussel und seinem dem Surrealismus nahestehenden Schreiben die Sprache das unhintergehbare und damit nur dem Tod analoge »Gesetz der Existenz« (S. 49) zeige, erfasse Bichats »Flächenblick« (S. 59) auf das tote Körpergewebe die »räumliche Teilbarkeit der Dinge« (S. 59) und bringe damit »in der Tiefe der Dinge die Ordnung der Schichten an den Tag« (S. 68). Sarasin zufolge hat Foucault von Roussel die Unhintergehbarkeit der Sprache und von Bichat die topologische Analyse 8 , die Untersuchung der Dinge nach räumlichen Regeln der Verteilung, Grenze und des Übergangs, entlehnt und zu einer Analyseform zusammengeführt, die, in der Archäologie des Wissens dann vergleichsweise methodisch ausgeführt, Aussageformationen als Schichtungen begreift, ihre funktionalen Ähnlichkeiten isoliert und so ihre Ordnungen erhellt (vgl. S. 68): »Im dunklen Kern der foucaultschen Diskursanalyse«, so Sarasins Fazit, »erkennen wir daher nicht Saussure, sondern Bichat« (S. 69).

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Situierung I: Strukturalismus / Dekonstruktion

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Damit ist die erste wichtige Gegnerschaft, die Sarasin für Foucault ausmacht, auf den Punkt gebracht: Es sind die von de Saussure ausgehende und auf dem Boden des Strukturalismus stehenden Annahmen, Sprache gehorche überzeitlichen, formal-linguistischen Regeln sowie die hieraus insbesondere bei Jacques Derrida und Jacques Lacan erwachsende Entkoppelung von Signifikant und Signifikat, deren nunmehr nie an ein Ende kommendes Spiel metaphorischer und metonymischer Verweise (das Gleiten des Signifikats unter den Signifikanten analog zum bereits erwähnten ›Vibrieren der Wörter‹ bei Mallarmé) Bedeutung allererst stifte (vgl. S. 63). Foucault hingegen, und dies macht Sarasin in aller Deutlichkeit klar, war weder an formal-linguistischen Regeln noch an einer Entkoppelung des (saussureschen) Zeichens interessiert.

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Die diskursanalytische Frage nach der Ordnung der Dinge, die Frage, warum dieses und nicht jenes gesagt wird, warum diese und nicht eine andere Ordnung errichtet worden sei, ist nicht nur »antihegelianisch und antihermeneutisch« (S. 105), sie ist in einem Sinne post-strukturalistisch, dass sie an den oben skizzierten formal-linguistischen Regeln desinteressiert ist 9 . Sie ist darüber hinaus aber auch anti-dekonstruktivistisch, auch wenn Sarasin diesen Terminus selber nicht verwendet, denn sie beharrt darauf, Zeichen und Bezeichnetes, Signifikant und Signifikat in ihrer ursprünglichen Entsprechung zu belassen, »als [eine] Aussage, an der es nichts zu rütteln gibt« (S. 65). In diesem Sinne, so könnte man Sarasins Darstellung pointieren, war Foucault vielleicht kein glücklicher, aber sicherlich ein semiotischer Positivist, der dem Strukturalismus ›tiefe Schnitte‹ zufügte, wenn er darauf bestand, dass der Sinn einer Aussage »einzig durch die Differenz zu anderen Signifikaten – i.e. ›das Gemeinte‹ – entsteht [und] es daher für ihn nicht die Signifikanten [sind], die ein Netz von Differenzen bilden, sondern – auf einer nicht mehr linguistisch beschreibbaren Ebene – die Aussagen selbst in ihren inhaltlichen Differenzen« (S. 67; Hervorhebung dort).

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Foucault sollte dieses radikale Festigungskonzept, dass erstmalig in Die Ordnung der Dinge aufscheint, in Die Archäologie des Wissens zusätzlich festigen, denn auch ihm war, laut Sarasin, bewusst, dass sich die Zeichen auch im »Raster diskursiver Regeln« (S. 116) niemals vollständig still stellen und sich jedes ›Vibrieren‹, jedes Gleiten der Bedeutung, jede Polysemie unterbinden lassen würden. Gerade deswegen jedoch bestünde die wichtigste Funktion eines Diskurses eben darin, als »intermediäre Schicht zwischen den Wörtern einerseits und den Dingen andererseits« (S. 98) die Referentialität der Sprache machtvoll sicherzustellen. Damit ist der Fokus gegenüber Strukturalismus / Dekonstruktion ein weiteres Mal verschoben, denn statt nach dem Zeichen und seiner ›Vibration‹ fragt die Diskursanalyse vor dem Hintergrund einer von Nietzsche her gedachten Verkoppelung von Macht, Diskurs und Wissen nach der jeder Zeichenbildung inhärenten interpretatorischen Gewalt und mithin nicht nach einem durch unter der Textoberfläche verborgenen Bedeutungsüberschuss, sondern nach der machtvollen Ordnung, welche die Setzung eines bestimmten und keines anderen Zeichens vorschreibe (vgl. S. 114–121).

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Situierung II: Psychoanalyse

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An der Frage, ob Foucault ein Strukturalist war oder nicht, hängt nach Sarasin nicht nur einiges, »an ihr hängt alles, wie wir sehen werden« (S. 71). Allerdings nicht nur an dieser: Mindestens ebenso tief verankert im Denken Foucaults wie die Gegnerschaft zum Zeichenbegriff von Strukturalismus / Dekonstruktion war dessen Opposition zur Psychoanalyse, zur freudianischen und mehr noch zu der von Jacques Lacan (vgl. gebündelt S. 156–157). Dabei teilten sie, wie Sarasin einleitend ausführt, einige nicht unwesentliche Annahme, insbesondere die bereits erwähnte Überzeugung von der Unhintergehbarkeit der Sprache, die nach Foucault das alleinige, machtvolle Gesetz der Existenz war (vgl. S. 49) und die bzw. deren erste Manifestation, das nom/non-du-père, auch nach Lacan den Menschen bis in die tiefsten Verästelungen seines Unbewussten strukturiere, so dass es für beide »[j]enseits des Signifikanten [...], in einer außersprachlichen Wirklichkeit, [...] keine Bedeutung und keinen Sinn geben [kann]« (S. 45).

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Während Foucault und Lacan also gleichermaßen von einer die menschliche Existenz machtvoll bestimmenden Sprache ausgehen, liegt in eben diesem Punkt zugleich ihre fundamentale Differenz. Denn im Gegensatz zu Lacan, der, wie Sarasin schreibt, »sich nicht für diese Geschichte [der historischen Bedingtheit komplexer kultureller Systeme, H.S.], sondern für das Verhältnis des Subjekts zur Wahrheit [interessiere]« (S. 23), stand für Foucault (zumindest bis in die 1970er Jahre) die Überlegung im Vordergrund, wie »über Subjekte ein ›wahrer‹ Diskurs gehalten wird« (ebd.; Hervorhebung dort). Die Differenz lag nicht primär im Subjektbegriff, sie lag im Verständnis der Wirkungsweisen von Macht. Für Lacan war Macht einzig als repressive Struktur denkbar, die das Subjekt und dessen Begehren über das Verbot regulierte. Für Foucault hingegen war die Macht »noch hinterhältig« (S. 157), denn sie war repressiv und produktiv zugleich, sie brachte hervor, was sie regulierte und – mehr noch – sie ging eine »intrinsische Verbindung« (S. 159) mit dem Begehren ein, so dass selbst der intimste Bereich, der der eigenen Sexualität, der eigenen Lust und des eigenen Begehrens, ein von Macht geformter ist. In der dreibändigen Histoire de la sexualité (dt. Sexualität und Wahrheit) sollte Foucault in den 1970er diese für die Moderne kennzeichnende Verschmelzung von Sexualität und Macht als eine »Diskursivierung des Sexes« (S. 159) analysieren, in der der Sex selber zu einem von Macht durchformten Dispositiv und damit zum Gesetz geworden sei, so dass er das Verbot des nom/non-du-père, das die symbolische Ordnung begründet, nicht mehr brauche. In dieser endgültigen und unhintergehbaren Ablehnung der symbolischen Ordnung bestand, wie Sarasin betont, Foucaults »endgültige Abrechnung« (S. 166) mit der Psychoanalyse.

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Der Mensch ist tot, es lebe das Subjekt!

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Wenn selbst das Innerste des Subjekts sich als nichts anderes, denn als ein Produkt und Teil von Macht zeigt, einer Macht, zu der es kein Außen gibt, da sie selbst den Widerstand gegen sie noch bestimmt, wenn aber diesem Subjekt gleichzeitig ein Widerstandspotential attestiert werden soll, dann gibt es ein Problem, und vor genau diesem Problem stand Foucault, laut Sarasin, mit Abschluss seiner Arbeit an Wahrheit und Sexualität. Auf der einen Seite hatte er gezeigt, dass »es kein lebbares Außen der Macht geben kann [nur das unlebbare des Wahnsinns oder des Todes, H.S.], sondern dass jede politische Bewegung immer Teil des Machtnetzes bleibt und nichts anderes zu sein vermag« (S. 173); auf der anderen »träumte Foucault seit langem und konsequent den Traum des ›Außen‹« (S. 172).

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Wie Sarasin im siebten Kapitel seiner Einleitung dargelegt, versuchte Foucault über das Konzept der Gouvernementalität eine neue Form der Kritik zu entwickeln, die den Ambivalenzen seines Machtbegriffs entginge. Indem er das Problem der Macht auf den Staat übertrug, konnte er eine Form der Machtkritik formulieren, die auf einem veränderten Subjektverständnis aufruhte. Kritik ist nunmehr nicht mehr gegen Macht schlechthin gerichtet, sondern gegen bestimmte (Regierungs-)Formen innerhalb eines Staates, der nicht den Einzelnen, sondern die Bevölkerung regulierte. Ihr wichtigster Effekt ist, dass sie dem Subjekt zu einer Freiheit verhelfe, die »zwar nicht an sich gegeben [sei], sondern ein Produkt, ja ein Kalkül der liberalen Macht, aber dennoch unterhintergehbar und eine Grenze der Macht [ist]« (S. 179). Der neue Fokus seiner Untersuchungen zielte mithin auf die Frage, wie sich das Subjekt mit Hilfe ethischer Selbsttechniken auf direkte Weise zu einer Identität verhelfen könne, die Widerstand ermögliche (vgl. S. 175–181).

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Der Clou an Foucaults Gouvernementalitätskonzept ist nicht nur die Wiedererrichtung eines (längst totgesagten) Subjekts, das sich in einem Selbstgesetzgebungsverfahren eine Existenz jenseits der Macht geben kann, der Clou – und zugleich Sarasins im achten Kapitel formulierte Hauptkritik an Foucault (S. 197–206) – liegt in der Annahme, diese Subjektkonstitution könne im Rückgriff auf antike Praktiken der Selbstbewusstwerdung unter Verzicht auf eine symbolische Ordnung, d.h. unter Verzicht auf ein übergeordnetes Drittes (das Gesetz, das nom/non-du-pére, Gott etc.) zustande kommen (vgl. S. 187–196). Dieses Subjekt, das am Ende von Foucaults Schaffen erscheint, wäre somit ein wahrhaft freies, eines, das »jenseits des Gesetzes, jenseits der Macht, aber auch jenseits des Wahnsinns« (S. 196) sich selber reguliere.

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Schlussbetrachtung

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Sarasin ist eine überaus konzise und nicht nur für ›Anfänger‹ lohnenswerte, durch ihre besondere Konzentration auf Foucault gleichwohl aber ganz und gar undiskursanalytische Einführung in das Denken Foucaults gelungen, der man nur wenige Momente kritisch entgegen halten kann. Sicherlich ist der ein oder andere Sachverhalt für eine Einführung zu kompliziert geraten (meines Erachtens insbesondere die Darlegung zum Gouvernementalitätskonzept), auch zeichnet sich die Darstellung nicht durch einen Verzicht auf Fachtermini aus und sie setzt zudem eine gewisse Bekanntheit voraus, was in der Psychoanalyse unter der symbolischen Ordnung, im Strukturalismus unter den formal-linguistischen Regeln oder in der Dekonstruktion unter dem Zeichen verstanden wird. Neben dem, wohl aber der generellen Konzeption der Reihe geschuldeten Verzicht auf eine Darlegung der Rezeption Foucaults, die nach Meinung der Rezensentin jedoch gerade bei einer Einführung zentral ist, ist das teilweise Fehlen einschlägiger Forschungsliteratur am stärksten zu kritisieren. So wird für Foucaults Beschäftigung mit Literatur einzig auf die ältere Studie von Achim Geisenhanslücke verwiesen, neuere Untersuchungen, wie Arne Klawitters Studie zum Literaturbegriff Foucaults oder Wolfgang Ernsts Untersuchungen zur Medienarchäologie bleiben hingegen unerwähnt. 10 Gerade, weil die Einführung auf die Rezeption Foucaults verzichtet, täte sie gut daran, die einschlägigen Titel zumindest im Literaturverzeichnis zu erwähnen. Insgesamt jedoch bereitet Sarasin die komplizierten Denkbewegungen Foucaults kundig, präzise und wohltuend komprimiert auf und entwickelt darüber hinaus mehrere Lektüreansätze, die eines weiteren Nachdenkens wert sind. Hierzu zählen nicht nur die genannten Thesen, sondern insbesondere die oben nur kurz angedeutete Kritik Sarasins an Foucaults Konzept einer im Mundanen verankerten Selbstsorge, die sich trotz ihrer Kürze wie der Aufriss eines eigenständigen Forschungskonzepts liest.



Anmerkungen

Hinrich Fink-Eitel: Michel Foucault zur Einführung. 1. Aufl. Hamburg: Junius 1989 (2. Aufl. 1992; 3. durchges. Aufl. 1997).   zurück
Stärker noch als Fink-Eitel orientiert sich Hans Herbert Kögler in seiner 1994 erschienenen Einführung am Phasenmodell, indem er es zum Gliederungsprinzip seiner Darstellung erhebt. Vgl. Hans Herbert Kögler: Michel Foucault. (Sammlung Metzler. Realien zur Philosophie, Bd. 281) 1. Aufl. Stuttgart / Weimar: Metzler 1994.   zurück
Fink-Eitel (Anm. 1), S. 15 und 17.   zurück
Ulrich Johannes Schneider: Michel Foucault. Darmstadt: Primus 2004. Vgl. Hania Siebenpfeiffer: Einklammerung und Transformation. Eine intellektuelle Biografie über Michel Foucault (Rezension). In: IASLonline [02.08.2005] URL: http://iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/Siebenpfeiffer3896785176_1296.html.   zurück
Im ersten Kapitel die thèse principale, Grundlage von Wahnsinn und Gesellschaft (S. 15–39); im zweiten Raymond Roussel und Die Geburt der Klinik (S. 40–69); im dritten Die Ordnung der Dinge und Die Archäologie des Wissens (S. 70–91); im vierten Die Ordnung des Diskurses (S. 92–121); im fünften Überwachen und Strafen und die Studien zu den Infamen Menschen (S. 122–146); im sechsten Der Wille zum Wissen (S. 147–171)und im siebten schließlich Was ist Kritik?, Der Gebrauch der Lüste und Die Sorge um sich (S. 172–196).   zurück
Michel Foucault: Dits et Écrits. Schriften. 4 Bde. Hg. von Daniel Defert und Francois Ewald. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001–2005.   zurück
Namentlich Die Anormalen (1974/75), In Verteidigung der Gesellschaft (1975/76), Die Geschichte der Gouvernementalität (1977/78) und Die Hermeneutik des Subjekts (1981/82).   zurück
Das Denken in Räumen und Raumanordnungen ist eine der Figuren, die einen Zusammenhalt im Werk Foucaults stiften. Es konkretisiert sich im durchgängigen Gebrauch von Raummetaphern, die Macht, Wissen und Diskurs topologisch strukturieren. Zu erwähnen ist allerdings, dass Foucault diese Metaphorik dem Strukturalismus entlehnt hat. Sie ist einer der Gründe, warum sein Denken ebenso wie das seiner strukturalistischen und post-strukturalistischen Zeitgenossen so attraktiv für die Architekturtheorie geworden ist, wie der von Joachim Huber edierte Band Urbane Topologie. Architektur der randlosen Stadt (Weimar: Universitätsverlag der Bauhaus-Universität 2002) zeigt.   zurück
Hierin sind sich – soweit ich die Forschungsentwicklung überschaue – von Anfang an alle ›Exegeten‹ der Schriften Foucaults einig gewesen, angefangen bei der immer noch sehr lesenswerten Darstellung von Hubert L. Dreyfus / Paul Rabinow, die den programmatischen Titel Jenseits von Hermeneutik und Strukturalismus trägt (Chicago: UCP 1982), bis hin zu allerjüngsten Publikationen wie der bereits erwähnten Werkstudie von Ulrich Johannes Schneider (vgl. Anm. 4).   zurück
10 
Arne Klawitter: Die fiebernde Bibliothek. Foucaults Sprachontologie und seine diskursanalytische Konzeption moderner Literatur. (Diskursivitäten, Bd. 8) Heidelberg: Synchron-Verlag der Autoren 2003; Wolfgang Ernst: Das Rumoren der Archive. Ordnung aus Unordnung. Berlin: Merve 2002; W. E.: Im Namen von Geschichte. Sammeln – Speichern – (Er)Zählen. Infrastrukturelle Konfigurationen des deutschen Gedächtnisses. München: Fink 2003.   zurück