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Von 'actant' bis 'writerly text'

Erzähltheorie von A bis Z

  • David Herman / Manfred Jahn / Marie-Laure Ryan (Hg.): The Routledge Encyclopedia of Narrative Theory. London: Routledge 2004. XXIX, 720 S. Hardcover. GBP 125,00.
    ISBN: 0415282594.
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Kommunikative Kardinalsünden

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Als eine der drei »Kardinalsünden« der Forschung bezeichnet Franz K. Stanzel in seinem Buch Unterwegs. Erzähltheorie für Leser (2002) die »terminologische Eitelkeit« 1 der Narratologen: »Fast jeder Akteur auf dem Feld der Erzählforschung bringt zur Diskussion seiner Thesen auch sein eigenes terminologisches Rüstzeug mit. Auch ich habe einiges aus meiner verbalen Requistenkammer beigesteuert.« 2 Und bei aller theoretischen Gegnerschaft betonen auch Matias Martinez und Michael Scheffel in ihrer Einführung in die Erzähltheorie (1999), dass die Narratologie »bis heute weder eine einheitliche Begrifflichkeit noch eine überzeugende Systematik hervorgebracht« 3 habe. Vor allem die aus dem Strukturalismus der 1960er und 1970er Jahre stammende Terminologie wirkt gerade auf Studenten abschreckend und hermetisch. Deshalb ist es nur konsequent, wenn Martinez / Scheffel ihr Buch mit einem äußerst nützlichen terminologischen Glossar ausstatten, 4 das sich mittlerweile in leicht veränderter Form auch hier und da im Internet findet. Ganz ähnliche Verzeichnisse der narratologischen Begrifflichkeit finden sich auch in den Einführungswerken von H. Porter Abbott (2002) und Monika Fludernik (2006). 5 Gerald Prince hat 1987 ein wichtiges Dictionary of Narratology herausgebracht, das 2003 in einer erweiterten Auflage erschienen ist. Es erfasst vor allem die Begrifflichkeit der ›klassisch‹-strukturalistischen Theorien und geht an vielen Stellen auch auf die spezifisch deutsche Tradition der Erzählforschung ein, die im angelsächsischen Bereich meist nur wenig rezipiert wurde. 6

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David Herman, Manfred Jahn und Marie-Laure Ryan haben nun ein grundlegendes Nachschlagewerk zur Narratologie vorgelegt, das sich in die skizzierte Tradition der terminologischen Klärung einordnet, zugleich aber auch auf die neuere Theorieentwicklung angemessen reagiert. 7 Nach der »explosion of interest in narrative« der letzten Jahrzehnte, so die Herausgeber in der knappen Einleitung, sei die Narratologie zu einer kultur- und humanwissenschaftlichen Basisdisziplin geworden, die sich angemessen nicht länger nur als literaturwissenschaftliches Analyse-tool verstehen lasse. ›Erzählen‹ sei heute eine »basic human strategy for coming to terms with time, process, and change – a strategy that contrasts with, but is in no way inferior to, ›scientific‹ modes of explanation that characterise phenomena as instances of general covering laws.« (Introduction, S. IX)

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Narratologische Entgrenzungen

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Auf eindrucksvolle Weise dokumentiert diese Enzyklopädie damit zugleich die Entgrenzung des narratologischen Feldes in den letzten ein oder zwei Dekaden, jene »produktiven Grenzüberschreitungen« 8 , die auch Ansgar und Vera Nünning in der Einleitung ihres Bandes Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär (2002) hervorheben. Das Erzählen als eine anthropologische Konstante wird heute in ganz unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen untersucht:

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narrative now falls within the purview of many social scientific, humanistic, and other disciplines, ranging from sociolinguistics, discourse analysis, communication studies, literary theory, and philosophy, to cognitive and social psychology, ethnography, sociology, media studies, Artificial Intelligence, and the study of organisations, medicine, jurisprudence, and history. (Introduction, S. IX)
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Fast ein wenig stolz verweisen die Herausgeber auf die verschiedenen internationalen Zeitschriften und Buchreihen (die deutsche Forschung ist mit der im Kontext der Hamburger Forschergruppe ›Narratologie‹ entstandenen Reihe Narratologia im Verlag Walter de Gruyter mit dabei), die in den letzten Jahren gegründet wurden. Sie dokumentieren den Stand einer Disziplin, die ihre im engeren Sinne literaturwissenschaftliche Herkunft längst hinter sich gelassen hat. Das wird besonders deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Prince für sein Dictionary of Narratology etwas mehr als 100 Seiten für eine terminologische Bestandsaufnahme im wesentlichen der ›klassisch‹-strukturalistischen Theorien benötigt, während die neue Encyclopedia den interdisziplinären Stand der Forschung auf über 700 Seiten ausbreitet. Beabsichtigt ist von den Herausgebern – alle drei wichtige Erzähltheoretiker, die für das Nachschlagewerk selbst eine Vielzahl substantieller Beiträge geliefert haben – ein »universal reference tool«, das gerade die aktuelle Entwicklung der Disziplin weg von der Fixierung auf Literatur und Text dokumentiert:

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Thus, while providing ample coverage of structuralist models and of the frameworks developed for the study of literary narratives, beyond this the Encyclopedia seeks to give a broad overview of paradigms for analysing stories across a variety of media and genres – from film, television, opera, and digital environments, to gossip, sports broadcasts, comics and graphic novels, and obituaries, to mention only a few. (Introduction, S. X)
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Zum Aufbau und den Artikeln

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Gemäß der Intention, Sachinformationen über die erzähltheoretische Forschung zu liefern, enthält die Enzyklopädie keine Personenartikel; diese sind jedoch durch ein umfangreiches Register zugänglich. Die einzelnen Lemmata sind in drei Umfangsklassen eingeteilt: kürzere Definitionsartikel (z.B. »reflector«, »extradiegetic narrator«, »narrative speed«), etwas längere Sachartikel über narratologische Zentralkonzepte (z.B. »letters as narrative«, »mise en abyme«, »metahistory«, »thriller«) und schließlich essayartige Dachartikel wie »drama and narrative«, »visual narrative«, »evolution of narrative forms«, »irony«. Letztere bieten auf mehreren Seiten jeweils einen umfassenden Forschungsüberblick und eröffnen nicht selten neue Perspektiven. Ausgewählte Literaturhinweise ergänzen die Artikel, auch wenn eine gewisse Beschränkung auf englischsprachige Titel bisweilen verzerrend ist. Aufsätze und Bücher französischer und deutscher Autoren werden zwar hin und wieder genannt, doch oft nicht in dem Maße, der dem tatsächlichen Erkenntnisstand entspricht. Doch das ist wohl der Logik des angelsächsischen Buchmarktes geschuldet und einem akademischen Umfeld, das Texte in anderen Sprachen nicht gerne rezipiert. Die Artikel selbst folgen keinem strengen Schema, sind aber stets informativ geschrieben und stellen häufig einen eigenständigen Beitrag zur Forschung dar (vgl. nur Artikel wie »Computer Games and Narrative« oder »Focalization«). Ein System von Querverweisen vernetzt die einzelnen Artikel untereinander. Nützlich ist auch ein »Reader’s guide«, ein systematisch geordnetes Verzeichnis der einzelnen Artikel, das in die Rubriken »Key terms and concepts«, »Approaches and disciplinary orientations« und »Genres, media, and regional forms« gegliedert ist. Es ermöglicht einen Einstieg in narratologische Basiskonzepte und leitet den Leser didaktisch geschickt durchs terminologische Dickicht der Erzähltheorie.

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Unter den Verfassern finden sich mit Mieke Bal, Wayne C. Booth, Jonathan Culler, Gerald Prince und Hayden White auch einige prominente ›Altmeister‹ der Forschung. Durch die Mitherausgeberschaft von Manfred Jahn sind insbesondere deutsche Erzähltheoretiker recht gut vertreten, etwa aus dem Umfeld von Ansgar Nünning, der selbst zu den Autoren gehört, der Freiburger Schule von Monika Fludernik oder der Hamburger Forschergruppe ›Narratologie‹. Das ist nicht zuletzt aus forschungspolitischen Gründen sehr zu begrüßen.

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Fazit

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Die Encyclopedia of Narrative Theory schließt eine Lücke auf dem Buchmarkt. Sie weist ein überzeugendes Konzept auf, das den neueren Forschungstrends durchgängig Rechnung trägt. Die Artikel sind gut geschrieben, dabei neuere Diskussionen immer kritisch evaluierend. Wer Einblick gewinnen will in das expandierende Feld der Erzähltheorie nach dem cognitive bzw. cultural turn, der wird künftig fast automatisch zuerst zu diesem Buch greifen, das die Forschung nicht nur klug zusammenfasst, sondern zugleich eine Bestandsaufnahme neuerer Tendenzen in ganz unterschiedlichen Disziplinen darstellt, die ihrerseits ihre Wirkungen zeitigen wird. Das jedenfalls ist sehr zu hoffen.

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Fast zeitgleich ist übrigens bei Blackwell ein Companion to Narrative Theory erschienen, der ein ähnlich gelagertes Anliegen verfolgt. In 35 Einzelaufsätzen wird in dem Buch ein Bild von Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Narratologie gezeichnet. 9 Das Werk empfiehlt sich als Ergänzung zu dem hier vorgestellten Band. 2008 schließlich wird bei de Gruyter ein im Kontext der Hamburger Gruppe entstandenes Handbook of Narratology (hg. von Peter Hühn, John Pier, Wolf Schmid und Jörg Schönert) erscheinen, das 34 Aufsätze größeren Umfangs enthalten wird. 10 Das alles sind gewichtige Zeugnisse für die eminente Bedeutung, welche die Erzähltheorie innerhalb der Kulturwissenschaften in den letzten zwei Dekaden gewonnen hat.

 
 

Anmerkungen

Franz K. Stanzel: Unterwegs. Erzähltheorie für Leser. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002, S. 21.   zurück
Matias Martinez / Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. München: Beck 22000, S. 7.   zurück
Ebd., S. 186–192.   zurück
H. Porter Abbott: The Cambridge Introduction to Narrative. Cambridge [u.a.]: Cambridge University Press 2002, S. 187–197; Monika Fludernik: Einführung in die Erzähltheorie (Einführung Literaturwissenschaft) Darmstadt: WBG 2006, S. 168–179.   zurück
Gerald Prince: Dictionary of Narratology. Revised Edition. Lincoln / London: University of Nebraska Press 2003.   zurück
Nähere Angaben zu den Herausgebern und eine Fülle weiterer Literaturhinweise geben ihre Websites: David Herman: http://people.cohums.ohio-state.edu/herman145/home.html (1.11.2006); Manfred Jahn: http://www.uni-koeln.de/~ame02 (1.11.2006); Marie-Laure Ryan: http://lamar.colostate.edu/~pwryan (1.11.2006).   zurück
Ansgar Nünning / Vera Nünning: Vorwort In: Dies. (Hgg.): Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär (WVT-Handbücher zum literaturwissenschaftlichen Studium 5) Trier 2002, S. I; einen guten Überblick über neuere Ansätze liefert der Einleitungsaufsatz der beiden Herausgeber: A. N. / V. N.: Produktive Grenzüberschreitung: Transgenerische, intermediale und interdisziplinäre Ansätze in der Erzähltheorie. In: Ebd., 1–22.   zurück
James Phelan / Peter Rabinowitz (Hgg.): A Companion to Narrative Theory. Malden, MA [u.a.]: Blackwell 2005. Eine Übersicht über die einzelnen Aufsätze findet sich auf der Verlagshomepage: http://www.blackwellpublishing.com/book.asp?ref=9781405114769 (1.11.2006).   zurück
10 
Vgl. den Musterartikel ›Event and Eventfulness‹ von Peter Hühn auf der Homepage der Forschergruppe: http://www.icn.uni-hamburg.de/index.php?option=com_content&task=view&id=133&Itemid=73 (1.11.2006).   zurück