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Neun Monate Öffentlichkeit und Kommunikation unter der Lupe

  • Werner Daum: Oszillationen des Gemeingeistes. Öffentlichkeit, Buchhandel und Kommunikation in der Revolution des Königreichs beider Sizilien 1820/21. (Italien in der Moderne 12) Köln: SH-Verlag 2005. 569 S. Gebunden. EUR (D) 68,00.
    ISBN: 3-89498-146-6.
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Die liberale Verfassungsrevolution im Königreich beider Sizilien von 1820/21 war Teil einer umfassenden konstitutionellen Bewegung in Südeuropa. Von der Geschichtsschreibung zur Nations- und Nationalstaatsbildung Italiens im 19. Jahrhundert (Risorgimento) ist dieses Ereignis bisher mit wenig Aufmerksamkeit bedacht worden. Die Versäumnisse resultieren aus einem lange Zeit zugrunde gelegtem Konzept, das sich den Widersprüchen und föderativen Aspekten im Prozess der Nationalstaatsbildung weitgehend verschloss. Obwohl sich infolge der nationalen Identitätskrisen seit den 1990er Jahren die Forschung zunehmend von der unterlegten Risorgimento-Ideologie distanzierte, haben die revidierten Entwürfe nach Werner Daum speziell »auf die Geschichte der süditalienischen Revolution von 1820/21 kein neues Licht geworfen«. (S. 19)

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Werner Daum analysiert für die knapp neun Monate währende Revolution die Entstehung unterschiedlicher Öffentlichkeiten und deren kommunikative Ausgestaltung. Angesichts erwähnter Defizite wird seine Erkenntnisperspektive sowohl für die Öffentlichkeitsforschung und Publizistikgeschichte als auch für die vergleichende Nationenforschung und die Debatten über Föderalismus und Unitarismus von großem Interesse sein. Die Untersuchung wurde im Wintersemester 2001/2002 am Fachbereich für Erziehungs-, Sozial- und Geisteswissenschaften der FernUniversität Gesamthochschule Hagen als Dissertation angenommen.

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Zu Anlage, Methodik und
Quellenbasis der Untersuchung

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Seine Problemsicht entwickelt der Autor ausgehend vom Verweis auf das in den zeitgenössischen Schriften gezeichnete Bild vom harmonischen Revolutionsalltag. Obwohl Widersprüchlichkeit und Fiktionalität solcher Schilderungen den Publizisten und dem Publikum bekannt sein mussten, erschienen diese offenbar plausibel. Nach einem begriffsgeschichtlichen Exkurs, der wesentliche Etappen in der wissenschaftlichen Diskussion zur Öffentlichkeitsforschung zusammenfasst, entwickelt Daum eine klare, theoretisch fundierte Konzeption, die ein geeignetes Fundament für die effektive Recherche und Auswertung bildet. Mit einer knappen ereignisgeschichtlichen Darlegung wird der historische Rahmen der Untersuchung gezeichnet.

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Zur Erfassung des heterogenen Bedeutungszusammenhanges der Gesellschaft legt Daum einen kulturgeschichtlich erweiterten Öffentlichkeitsbegriff zugrunde. Die Untersuchung zielt auf eine integrale Erfassung von Öffentlichkeit, welche sozioökonomische und politisch-verfassungsrechtliche Bedingungen ebenso berücksichtigt wie ihre inhaltliche Ausgestaltung im Prozess der Wahrnehmung, Deutung und Kommunikation. Sein Erkenntnisinteresse ist gerichtet auf die soziokulturelle Fragmentierung von Öffentlichkeit und die medienspezifische Ausdrucksfähigkeit unterschiedlicher Teilöffentlichkeiten. Gegenstand der Analyse sind die konkurrierenden Identitäts- und Deutungsangebote in der Gesellschaft. In Abgrenzung vom Propagandabegriff spricht Daum von der diskursiven Kommunikation im Sinne einer intendierten und gesteuerten Sprachregelung zur Durchsetzung politischer Herrschaft. Diese Identitätsangebote betrachtet der Autor im dialektischen Verhältnis zu aufkommenden, ungefestigten Gerüchten in den niederen Volksschichten.

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Für die Auswertung des publizistischen Quellenmaterials aus Neapel, Messina und Palermo entwickelt Daum ein breit gefächertes Analyseraster. Erfasst werden soziokulturelle und wirtschaftliche Rahmenbedingungen sowie Merkmale der inhaltlichen und sprachlichen Gestaltung. Damit entstehen Voraussetzungen für die Rekonstruktion des Zusammenhangs von Produktion und Rezeption unter Berücksichtigung seiner Komplexität. Die Auswertung des Materials erfolgt mit Hilfe eines geeigneten elektronischen Datenbanksystems.

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Die unterschiedlichen politischen Rahmenbedingungen und das Konfliktpotential zwischen Neapel und (West-)Sizilien fordern den Autor zu einer vergleichenden Betrachtung heraus, die auch den inhaltlichen Aspekt einschließt. Allerdings gestattet die Quellensituation diesen Ansatz nur partiell.

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Den Schwerpunkt des Quellenkorpus bildet die zeitgenössische Publizistik, die in Gestalt von Flugblättern, Zeitungen, Zeitschriften und Broschüren in den Städten Neapel, Messina und Palermo erschien. Einbezogen in die Auswertung waren auch Archivalien, Memoiren, Reiseberichte und ein breites Spektrum an Forschungsliteratur. Als problematisch stellte sich teilweise die Überlieferungslage dar. Im Verlauf des Zweiten Weltkrieges gingen wichtige Bestände der Staatsarchive von Neapel und Messina verloren. Besonders zu beklagen sind dabei die Verluste im Bereich der Zensurakten. Nicht mehr vorhandene Regierungsakten machten die Auswertung amtlicher Publizistik von Zentralverwaltung und Provinzbehörden erforderlich. Rückgriffe auf ältere Forschungsliteratur lieferten wichtige Angaben zu Schriften und Redakteuren. Lohnend war dieses Vorgehen auch bei Abhandlungen mit einem lokalen Horizont, wenn diese auf inzwischen verlorene Dokumente Bezug nahmen.

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Die Arbeit ist in die übergeordneten Hauptabschnitte A bis C gegliedert, wobei der Abschnitt B als eigentliche Untersuchung entsprechend den Hauptaspekten der Fragestellung zwei Kapitel aufweist.

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A. Geschichte, Öffentlichkeit und Revolution: Eine theoretische und ereignisgeschichtliche Einführung

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I. Einleitung (S. 15–63)

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B. Öffentlichkeit und Kommunikation

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II. Strukturen von Öffentlichkeit: Publizistik und Institutionen zwischen Kontinuität und Wandel (S. 67–265)

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III. Praktiken der Kommunikation: Gedächtnis und Identität zwischen Sinnstiftung und Kontestation (S. 267–479)

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C. Schluss

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IV. Öffentlichkeit als integrales System: Zum Zusammenhang von Öffentlichkeitsstrukturen und Kommunikationspraktiken (S. 483–488)

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V. Anhang (S. 489–560)

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Register (S. 561–569)

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Ein völlig neues
publizistisches Spektrum

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Das Kapitel B (II) behandelt die materiellen Erscheinungsformen von Öffentlichkeit, indem die sozioökonomischen und politischen Aspekte thematisiert werden. Zunächst rückt die freie Publizistik ins Blickfeld. Mit dieser Kategorie werden periodische und nichtperiodische Schriften erfasst, die durch individuelles unternehmerisches Engagement in Unabhängigkeit zum königlich-bourbonischen Staatsapparat beziehungsweise zu den Revolutionsorganen herausgegeben wurden. Daum spricht von einer »explosionsartigen Belebung der publizistischen Landschaft« (S. 67) infolge der Revolution. Das Zentrum war unbestritten Neapel, das auch die größte Konzentration an konstitutionellen Institutionen aufwies. Insgesamt 32 für Neapel ermittelten Periodika standen sechs in Messina und acht in Palermo gegenüber. Unter Berücksichtigung der Überlieferungssituation konnten 22 in Neapel, sechs in Messina und fünf in Palermo erschienene Schriften systematisch erfasst werden. Einige Periodika wiesen eine hohe journalistische Leistungsfähigkeit aus, wodurch sie zu Leitpublikationen avancierten. Darüber hinaus bezieht sich Daum auf 100 nachweisbare Flugblätter, die mehrheitlich in Neapel veröffentlicht wurden.

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Verbreitet war die Einheit von Produktion und Vertrieb, wodurch der Typ des Drucker-Buchhändlers eine zentrale Gestalt darstellte. Acht von zwölf derartigen Unternehmen in Neapel wird bei der Einheit von Produktion und Vertrieb unternehmerische Kontinuität bescheinigt. Neben Firmen mit einem eindeutig liberalen Bekenntnis existierten Betriebe, deren wirtschaftlich motiviertes Herangehen eine breite Programmatik im Schriftenangebot zuließ. Hinzu kamen in Neapel 16 einfache Druckereien, die zum Teil eine lange Tradition besaßen. Vergleichsweise gering erscheint die Präsenz der Drucker-Buchhändler in Palermo und Messina, wo jeweils nur ein Unternehmen neben fünf beziehungsweise drei einfachen Druckereien arbeitete.

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Werner Daum benennt weiterhin »die ausschließlich auf den Buchhandel spezialisierten Unternehmen« (S. 80) und meint damit bloße Distributionsstellen. Bedeutende Vertreter dieser Gruppe – einige waren ausländischer, meist französischer Herkunft – fungierten auch als Transferstellen im inneritalienischen wie italienisch-französischen Handel. Nach Meinung des Autors geriet gegenüber diesen Firmen »die Distributionsleistung auch der großen Drucker-Buchhändler deutlich in den Hintergrund.« (S. 81)

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Leider unterlässt der Autor hinsichtlich dieser Gruppe eine vergleichbare knappe Charakterisierung und quantitative Erfassung. Es verbleiben interessante Fragen. Betätigten sich diese Buchhändler auch als Verleger, wenn auch nicht von Publizistik? 1 Welche Erkenntnisse gibt es über ihre Geschäftsbeziehungen zu den Drucker-Buchhändlern? Erwähnung finden zum Beispiel die verbreitete Plagiatspraxis bei nichtperiodischen Schriften und die kleingewerbliche Strategie mancher Drucker, die teils längerfristige Investitionen scheuten. Kollidierten solche Haltungen mit der Interessenlage der Buchhändler, weil diese an einer langfristigen Stimulierung der Inlandsnachfrage interessiert sein mussten? Im Verlauf seiner Untersuchung berührt Werner Daum weitere interessante Aspekte. So wird nur am Rande der neapolitanische Buchhändler Michele Stasi erwähnt, der ein Lesekabinett mit 15 periodischen Schriften in französischer Sprache unterhielt. Wie waren diese Kabinette organisiert? Welches unternehmerische Konzept lag dieser Buchhandlung zugrunde beziehungsweise welche Stellung nahm eine solche Firma in Neapels Buchhandel ein?

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Gegenstand der Betrachtung Daums ist die Publizistik und der politische Journalismus. Es ist sein Verdienst, dass er diese bisher meist nur zur Illustration von politischen Sachverhalten herangezogenen und marginal behandelten Quellen erstmals systematisch auswertet. Mit Blick auf den Umfang der Erfassung von Publizistik verweist er auf die Notwendigkeit der Beschränkung und der Herausgabe einer gesonderten Veröffentlichung. 2 Angesichts der kommunikationsgeschichtlichen Fragestellung erscheint seine Vorgehensweise durchaus legitim. Erst recht kann der Autor aber die vielschichtigen Fragen zum gesamten Buchhandel nicht verfolgen und es ist bekannt, dass sich Neapel als einziges großes Buchhandels- und Produktionszentrum des Südens schon im 17. und 18. Jahrhundert »von beachtlicher Lebendigkeit« zeigte. 3 Diese Tatsache gibt zu bedenken, ob der Buchhandel explizite im Haupttitel der Untersuchung ausgewiesen werden sollte.

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Interessant sind Aussagen zur Rezeption der Publizistik. Die hohe Analphabetenrate von etwa 75 Prozent und unterschiedliche Stadien eines Halb-Analphabetismus schufen Teilöffentlichkeiten mit unterschiedlichen Zugangsschwellen. Angesichts der Preisgestaltung bildete Armut ein weiteres Hindernis. Dem gegenüber standen kollektive Rezeptionspraktiken, die analphabetische Schichten integrierten. Während Bild- und Sprachzitate in Periodika als Rezeptionsschalter wirkten, wandte sich insbesondere die nichtperiodische Publizistik gelegentlich mit Lehrdialogen oder Mundarttexten gezielt an ungebildete Schichten.

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Institutionalisierte Öffentlichkeiten:
Das Umfeld von Carboneria, Revolutionsausschüssen, Legislative und Exekutive

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Im Folgenden untersucht Daum Öffentlichkeitsformen im Umfeld von politischen Organisationen, von Verfassungsorganen und Institutionen. Hinsichtlich der Geheimgesellschaft Carboneria, die Anfang Juli 1820 die Revolution auslöste, betont der Autor einen provinziellen Charakter. Sie rekrutierte vor allem kleine Beamte, Gutsbesitzer, Kaufleute, die niederen Vertreter von Militär und Klerus. In der Nationalversammlung blieb sie unterrepräsentiert. Das Streben nach Mitwirkung im innenpolitischen Geschehen führte zu einer Öffnung gegenüber der Gesellschaft. Ihre programmatischen Entwürfe waren nun auch im Buchhandel zu finden. Hervortretende konkurrierende politische Richtungen untergruben jedoch die Handlungsfähigkeit der Organisation. Dennoch blieb sie ein ernst zu nehmender Faktor.

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Die aus Staatsdienern Joachim Murats gebildete Provisorische Regierungsjunta sollte bis zur Parlamentseröffnung den König und die konstitutionelle Regierung auf die Grundsätze der Revolution verpflichten. Das legislative Machtvakuum ausfüllend, geriet die Junta bald in Kompetenzstreitigkeiten mit der Regierung. Misstrauen fand eine aus ordnungspolitischer Sorge durch doppelte Protokollführung betriebene Geheimpolitik. Ihr Pressedekret vom 26. Juli 1820 erklärte Pressefreiheit und behielt zugleich partiell die Präventivzensur bei. Das Verbot des Glücksspiels, dessen Einnahmen die Finanzierung der verpachteten Theater sicherte, machte den Erlass eines Reglements für Neapels Theater notwendig. Daum weist die erweiterte Aufsichtsfunktion der Theaterbehörde nach. Den Abschlussbericht der Junta wertet er als Schlüsseltext »für das Verständnis des politischen Umbruchs«. (S. 140)

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Für Palermo und Westsizilien konstatiert der Autor während der separatistischen Revolution und der nachfolgenden neapolitanischen Militärregierung eine »geringe Umsetzung und Wahrnehmung der konstitutionellen Pressefreiheit«. (S. 151) Die Regierungsjunta, die exekutive und legislative Gewalt verkörperte, schuf sich eine Wochenzeitung, die den Separatismus propagierte.

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Das Nationalparlament zu Neapel konstituierte sich insbesondere aus Vertretern »der ehemaligen Provinzelite Murats«. (S. 190) Der Autor analysiert das Sozialprofil unter anderem nach Herkunft, Beruf und Alter. Das Gremium tagte in einer Kirche, die Öffentlichkeit wurde durch die spanische Konstitution verfügt. Häufige Beratungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit und die selektive Informationspolitik der Kriegskommission gegenüber dem Parlament sorgten jedoch für Verstimmungen.

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Ausführlich thematisiert wird die Informationspolitik des Parlaments. Feststellbar waren häufige Rückgriffe auf die Regierungszeitung, die allerdings nie ein offizielles Parlamentsorgan wurde. Zur Publikation der Sitzungsprotokolle erschien der Diario del Parlamento Nazionale delle Due Sicilie, dessen Herstellung mit großem Zeitverzug in einer parlamentseigenen Druckerei in Verantwortung des Druckers der Regierungszeitung erfolgte. Daum beleuchtet eingehend Produktion, Distribution und Zuständigkeiten. Er widmet sich weiterhin der Edition des Verfassungstextes und der Herausgabe situationsbezogener Sonderpublikationen, denen er teils »eine Schlüsselfunktion im diskursiven Prozess« zuweist. (S. 178) Gegenstand der Betrachtung sind auch private Nachdruck-Initiativen und die Zensurpolitik. Das Parlament verzichtete auf die von der Provisorischen Regierungsjunta eingeführte restriktive Interpretation der Pressefreiheit, setzte aber gegen Intentionen der Minister das Glücksspielverbot durch.

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Die konstitutionelle Regierung Neapels bildete sich aus Vertretern der ehemaligen Muratschen Zentraladministration und Militärführung. Daum untersucht die ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten der Nachrichtenübermittlung: Die in der napoleonischen Zeit geschaffene Zivilverwaltung mit der zentralen Figur des Provinzintendanten, Straßenverhältnisse und Postwesen, die Schifffahrt und das interessante, in seiner Funktion schon etwas weitgreifend geschilderte System der optischen Telegrafie. Zur effektiven Infrastruktur gehörten privilegierte Königliche Druckereien, wobei Daum die auffallenden Verflechtungen mit dem privatwirtschaftlichen Gewerbe aufdeckt.

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Retrospektiv wird die Entwicklung der periodischen Druckmedien von Regierung und Verwaltung seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts in Neapel und Sizilien aufgezeigt. Die Dezentralisierung der regierungsamtlichen Publizistik basierte auf der Herausgabe von Intendanturzeitschriften, die durch Infrastrukturdefizite erschwert wurde. Auf zentraler Ebene erschien die Konstitutionelle Zeitung des Königreichs beider Sizilien. Herstellung und Vertrieb wurde an den privaten Unternehmer Giuseppe del Re verpachtet. Daum untersucht die ökonomische Grundlage der Zeitung, kann dabei an der Entwicklung des Pachtvertrages den faktischen Rückzug des Staates aus der wirtschaftlichen Verantwortung nachweisen. Überzeugend schildert er die Karriere und das journalistische Verständnis des leitenden Redakteurs Emanuele Taddei, dessen Anpassung und professionelle Wandelbarkeit ihm über politische Wechsel hinweghilft.

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Publizistisch-institutionelle Öffentlichkeiten
und der Gemeingeist:
Berührungspunkte und Einflussnahme

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Das Kapitel B (III) thematisiert mit der Untersuchung sprachlicher und aktionaler Elemente den inhaltlichen Aspekt der öffentlichen Kommunikation. Differenziert wird nach einem vorwiegend (schrift-)sprachlich gekennzeichneten, publizistischen und institutionellen Bereich sowie nach einer nicht institutionalisierten Sphäre, die situationsbedingt durch die kollektive Aktion geprägt wurde. Ausgehend vom Öffentlichkeitsverständnis der politischen Eliten Neapels seit der französisch-napoleonischen Epoche, dem die Vorstellung eines formbaren spirito pubblico zugrunde lag, erläutert der Autor den aufklärerisch-pädagogischen Anspruch der Revolutionsträger. Die Beobachtung der Volksstimmung und die Einflussnahme auf die öffentliche Kommunikation zielten auf die Hebung der Konsensbereitschaft in der Bevölkerung gegenüber den Herrschaftsträgern und ihren Institutionen. Daums Frage nach der inhaltlichen Ausdifferenzierung von Öffentlichkeit rückt zwei Säulen der diskursiven Kommunikation ins Blickfeld – die gedächtnispolitische Vergewisserung über die Vergangenheit sowie die innere und äußere Standortbestimmung in Gegenwart und Zukunft.

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Gegenstand der Analyse sind die unterschiedlichen historischen Erfahrungen in Neapel und Palermo, die aus der Erinnerungsarbeit entstandenen kommunikativen Gedächtnisse. Wesentlich ist dem Autor die Offenlegung der gegenseitigen Bezugnahme und Abgrenzung bei der Ausprägung des Selbstverständnisses und der Formulierung gegenwartsbezogener Deutungskonzepte. Während in Neapel Erfahrungswerte aus dem Revolutionstrauma von 1799 und die gegen den sizilianischen Separatismus gerichtete Adelskritik zur Fundamentierung der Einheitsidee beitrugen, bahnte in Westsizilien das Schlüsselerlebnis der Zwangseinigung dem Separatismus den Weg.

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Ein weiterer Abschnitt widmet sich insbesondere der Fest- und Gratifikationspolitik als Instrumentarium politischer Meinungsbildung. Die zeremonielle Inszenierung der neuen Machtverhältnisse bot mit volksnahen Choreographien für Festakte und Umzüge im öffentlichen Raum kollektiv erlebbare Deutungsangebote. Die moderat-konstitutionellen Revolutionsträger in Neapel nutzten dabei auch traditionelle Vermittlungspraktiken von Kirche und Hof. Die Eröffnung des Parlaments in Neapel am 1. Oktober 1820 wird als zentrales Ereignis konstitutioneller Festkultur ausführlich geschildert. Für Palermo konstatiert der Autor das Fehlen ausgereifter Praktiken, wofür er konstitutionelle Defizite, die Kürze der separatistischen Revolution sowie die Entfremdung zwischen den unteren Volksschichten und der adligen Elite verantwortlich macht. Gegenstand der Betrachtung ist weiterhin der durch zunehmende äußere Bedrohung intensivierte patriotische Heldendiskurs. Meldungen über freiwilligen Kriegsdienst, eingehende Spenden und die Erörterung künftiger Monumente des Erinnerns bildeten wichtige Bestandteile.

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Ausführlich thematisiert der Autor die Standortbestimmung in Auseinandersetzung mit der sich zuspitzenden außenpolitischen Situation. Beleuchtet wird die publizistische Gegenkampagne, die sich nicht in erster Linie dem von Österreich beeinflussten europäischen Regierungsjournalismus entgegenstellte, sondern vielmehr eine innere Funktion erfüllte. Bei der Beschaffung von Nachrichten stützte sich die Regierung angesichts diplomatischer Kommunikationsdefizite auch auf Agenten und außerordentliche Missionen. Daum erklärt die Gründe für die Abgrenzung von konstitutionellen Alternativen in Europa und zeigt das Scheitern der ersten konstitutionellen Regierung bei dem Versuch, einer Verfassungsänderung den Boden zu bereiten. Daum versteht es, die Instrumentalisierung der Kriegsgefahr durch die Regierung und in diesem Kontext Ursachen wie Motive für die Verharmlosung der Gefahr und das lange Festhalten an der Fiktion vom verfassungstreuen König aufzuzeigen.

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Mit seiner Untersuchung aktionaler Ausdrucksformen des Sozialprotestes in großer Bandbreite betritt der Autor ein von der Öffentlichkeitsforschung bisher noch wenig bearbeitetes Feld. Das zeitgenössische Öffentlichkeitsverständnis unterschied nach der qualifizierten, von Publizistik und Institutionen geformten pubblica opinione und dem schnell veränderlichen spirito pubblico. Daum interessieren die Berührungspunkte. Er registriert die Wahrnehmung des innenpolitischen Barometers, dessen Wirkungspotential und kennzeichnet die Regungen des Gemeingeistes als »ernstzunehmende Teilöffentlichkeit« (S. 483). Die Darstellung bezieht das Petitionswesen im Parlament, die Öffentlichkeitswirksamkeit von Informationsdefiziten, die Agitationen und Praktiken radikaler Carbonari, verfassungsfeindliche Umtriebe des Klerus, die Verweigerung des Kriegsdienstes, Desertionen und schließlich kriminelle Widersetzlichkeit ein.

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Fazit

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Werner Daum leistet mit seiner methodisch innovativen Analyse einen wichtigen Beitrag zur Öffentlichkeitsforschung und Publizistikgeschichte. Die komplexe Sicht auf materielle und normative Bedingungen, die diskursive Ausgestaltung von Teilöffentlichkeiten und die Ausdifferenzierung der Kommunikation infolge konkurrierender Deutungsangebote ist auf die Freilegung von Zusammenhängen orientiert, wovon der Erkenntniszuwachs profitiert. Ermöglicht wird dieses Resultat auch durch den Charakter einer Momentaufnahme, welche einen überschaubaren, aber kommunikationsintensiven Zeitabschnitt unter die Lupe nimmt.

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Die Untersuchung zeichnet sich durch profunde Quellenarbeit aus. Der Autor erschließt mit der dezentralisiert auffindbaren zeitgenössischen Publizistik erstmals umfassend ein bedeutendes Quellenkorpus, wovon die Forschung künftig Nutzen ziehen kann. Bemerkenswert ist auch die auf 38 Seiten ausgewiesene Literatur. Daums Ausführungen sind deshalb in allen Abschnitten mit reichlich Material unterfüttert, wobei er retrospektiv insbesondere den Zeitraum bis 1799 einbezieht. Dadurch werden Entwicklungen über die französisch-napoleonische Periode und die bourbonische Restauration bis zur Revolution aufgezeigt. Die von den detaillierten Darlegungen beanspruchte Aufmerksamkeit des Lesers wird durch Daums Zusammenfassungen nach jedem Abschnitt und durch das abschließende Resümee auf das Wesentliche konzentriert, wofür ihm ein ausgezeichnetes Gespür zu bescheinigen ist. Darüber hinaus sind neben einer klaren Gliederung akribisch redigierte Texte und Anmerkungen hervorzuheben.

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Zu selten werden dagegen Abbildungen eingesetzt. Der Autor arbeitet zwar in Abhandlung und Anhang mit einigen tabellarischen Darstellungen. Neben einer Karte zur ereignisgeschichtlichen Darstellung weist der insgesamt 569 Seiten umfassende Band jedoch nur zwei Abbildungen aus. Sicherlich lässt die Überlieferungslage viele Wünsche offen. Zumindest könnte die Publizistik ins Bild gerückt werden, die Abbildung eines Zeitungstitels oder eines Flugblattes. Vorstellbar sind Buchhändler-Anzeigen, etwa zu den Angeboten der Lesekabinette. Vielleicht existieren Geschäftspapiere der Drucker-Verleger, die als Faksimile beigefügt werden könnten, vielleicht finden sich von einigen Protagonisten auch Porträts. Die Illustration sollte nicht als Beiwerk gering geschätzt werden, befördert sie doch die Erkenntnisvermittlung durch Anschauung.

 
 

Anmerkungen

Immerhin entwickelte sich nach Angabe des Autors das Unternehmen von Giuseppe Girard, nachdem der Komponist Guillaume-Louis Cottrau 1824 zum Geschäftspartner gewonnen wurde, zu einem bedeutenden italienischen Musikverlag. Vgl. S. 80, Anm. 29.   zurück
Vgl. S. 67, Anm. 1, den Hinweis auf die separate Veröffentlichung: Werner Daum. Zeit der Drucker und Buchhändler. Die Produktion und Rezeption von Publizistik in der Verfassungsrevolution Neapel- Siziliens 1820/21. (Italien in Geschichte und Gegenwart, Bd. 21) Frankfurt/M. u.a: Peter Lang 2005.   zurück
Vgl. Marco Santoro: Geschichte des Buchhandels in Italien. (Geschichte des Buchhandels, Bd. VIII) Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2003, S. 123.   zurück