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Ein Denkmal für eine Baustelle

Migration hat viele Gesichter, umfasst viele Geschichten und kennt nur ein Ziel: das individuelle Glück

  • Kölnischer Kunstverein (Hg.): Projekt Migration. Katalog zur Ausstellung im Kölner Kunstverein 2005 / 2006. Köln: DuMont 2005. 888 S. 15 s/w, 71 farb. u. 170 zweifarb. Abb. Kartoniert. EUR (D) 98,00.
    ISBN: 978-3-8321-7660-0.
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Offensichtlich stellt Migration einen ähnlich umfassenden, vielgestaltigen und in seinen Ursachen und Erscheinungsformen komplexen Prozess dar wie Urbanisierung, Industrialisierung oder auch Modernisierung. Denn auch hier waren (und sind mitunter) die Wahrnehmungen vielfältig, die Erwartungen hoch, die Zahlen und Erscheinungen dramatisch, nicht zuletzt die Irritationen groß. Zumindest seit dem 18. Jahrhundert galten die Lichter der Großstadt ebenso als Verheißungen des Glücks wie als Warnleuchten der Gefährdung, Grenzmarkierungen zwischen Sphären des Vertrauten und des Fremden, Signaturen einer Welt in Bewegung – zwischen Ständen und Regionen, Lebensformen und Nationen, individuellen Entwürfen und kollektiven Mustern.

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Immer wieder auch im Laufe der Zeiten setzten sich Menschen in Bewegung, kamen aus »Zwischenwelten« und gelangten in solche, suchten nach Haltepunkten und besseren Chancen, gerieten auf die Verliererseite oder unter die Gewinner und ebenso wie beim Blick auf die »große Stadt« oder auch die Moderne im Ganzen erscheinen in den Zusammenhängen der Migration mitunter die Ambivalenzen und Übergänge, nicht nur bei Baudelaire, am attraktivsten, zumindest am bemerkenswertesten. Dass diese Prozesse freilich nicht nur »irgendwo« in der Welt stattfinden, sondern zu den vertrautesten Erfahrungen aller Menschen und Gesellschaften dieser Erde gehören und damit auch nicht vor den Grenzen der Bundesrepublik Halt machen bzw. ausgerechnet nur »hier« einen »Sonderfall« bzw. eine gefahrvolle »Überbeanspruchung« der Bevölkerung darstellen, ist das Thema des hier angezeigten Bandes, der eine Ausstellung dokumentiert und einer weiteren Öffentlichkeit zugänglich machen will, die im Dezember 2005 in Köln stattgefunden hat. Dass Projekt und Buch darüber auf weitergehende Zusammenhänge zielen, insbesondere dazu beitragen möchten, dass sich auch in Deutschland eine Entsprechung zu dem im Herbst 2007 in Paris eröffneten staatlichen Einwanderermuseum, der Cité nationale de l’histoire de l’immigration konstituieren könnte, steht auf einem anderen Blatt, gehört aber auch in den Rahmenzusammenhang der vorliegenden Publikation; immerhin hat das diesbezüglich arbeitende in Köln ansässige Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland (Domid) maßgeblich mitgewirkt.

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Kategoriale und historische Zwiespälte

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Offensichtlich stellen die durch Migration, durch »Völkerwanderungen«, geschaffenen Übergänge und Zwischenwelten zunächst auch jede Art normativer Kategorienbildung in Frage, zumal jene, die wie Staat, Nation, Gesellschaft, Kultur und Volk, Tradition oder Identität seit dem 19. Jahrhundert v. a. darauf angelegt waren, mehr oder weniger homogen gedachte Gesellschaften und ein ihnen jeweils entsprechend »ganz« zugehöriges Individuum zu postulieren bzw. zu modellieren. Im 20. Jahrhundert führten diese an einer wie immer begründeten »Reinheit« des Volkes und seiner Repräsentationen orientierten Vorstellungen nicht nur in die Völkerschlachten des Ersten Weltkriegs und die an diesen anschließende Verschiebung ganzer Bevölkerungsgruppen – vom Bevölkerungsaustausch bis zur Vertreibung –, sondern schufen damit zugleich den Boden, auf dem sich dann in den 1940er Jahren Rassenwahn und grenzenlose Aggression bis hin zum Völkermord steigern konnten. 1 Zentral zielten diese geschichtsphilosophisch unterfütterten, quasi-religiös angelegten Kampfprogramme dabei auf die Auslöschung jeder Art und Repräsentation des Dazwischen, namentlich auch der Juden, die in dieser Sichtweise, zumal als »ewig Wandernde«, als »Heimat- und Charakterlose« und zugleich offenbar grenzenlos Assimilationsfähige, zugleich als Urbilder der von Fremden und Mobilen, von Nicht-Dazugehörigen ausgehenden Gefahren angesehen, in jeder Weise unter Verdacht gesetzt und dann entsprechend der Vernichtung überantwortet werden konnten.

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Gestützt auf die ebenfalls als Rationalisierungsfortschritte der Moderne anzusehenden neuen Formen der Massenlenkung, der Logistik und der bereits im Ersten Weltkrieg erprobten Gewalt-Technologien sowie legitimiert durch eine ebenso wirre wie effektive Mischung aus mythopoetisch erzeugten Abstammungslegenden und biologistisch unterfüttertem Rassen-Wahn wurden in diesen Zusammenhängen, zumal im Blick auf die deutsche Gesellschaft, jene Konzepte und Einstellungen der »deutschen Volksseele« formuliert und ausgeprägt, die auch heute offensichtlich noch immer einem gelasseneren und pragmatischen Umgang der deutschen Gesellschaft mit Mobilität und Migration als Erfahrungen und Handlungsmustern von Individuen und Gruppen unter den Bedingungen der Moderne im Wege stehen.

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Vor dem Menetekel der Vernichtung der europäischen Juden durch die im Nationalsozialismus propagierte »Volksgemeinschaft« der Deutschen wurden nach 1945 zwar Rassismus und völkische Vorstellungen (Blutreinheit und Ariertum, Volkstum und Heimat) zunächst einmal gründlich desavouiert. Die Vorstellung einer durch Abstammung zustande kommenden Volksnation, die zugleich aber noch immer die unverzichtbare Voraussetzung für Staatsbürgerschaft und Zugehörigkeit, ja für zwischenmenschliche Anerkennung sein sollte, die Abwehr von Fremdem (und Fremden), sowie die damit verbundene Angst bzw. Unruhe, die jeder Kontakt mit, jedes Auftreten von Fremden erzeugte, aber blieben und bestimm(t)en nicht nur den Gefühlshaushalt, sondern auch die politischen Vorstellungen – weniger inzwischen das soziale Handeln – der Deutschen noch bis ins 21. Jahrhundert hinein. Noch immer können Stichwörter wie »Kriminelle Ausländer«, »Kopftuch«, »Ehrenmord« und »Parallelgesellschaften«, ja auch durchaus wohlmeinend geprägte Redeweisen wie die vom »Migrationshintergrund« dazu genutzt werden, eine in weiten Bevölkerungsteilen immer noch abrufbare, abwehrende bis beunruhigte Stimmungslage zu erzeugen bzw. zu verstärken. Erkennbar wird dabei eine Disposition im Umgang mit Migranten und anderen »Fremden«, die nicht allein nur von politischen Projekten der extremen Rechten genutzt, verstärkt und instrumentalisiert worden ist (und wird), sondern etwa im Zusammenhang eines allzu hohen Anteils von Schülern migrantischer Herkunft oder geplanter Moscheebauten bis weit in die »aufgeklärten« Mittelschichten Unruhe und Besorgnis erzeugen kann.

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Auch wenn sich die Vorstellung einer einigermaßen einheitlichen, homogenen »deutschen« Bevölkerung allenfalls auf das knappe Jahrzehnt zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Beginn der Anwerbung von »Gastarbeitern« Mitte der 1950er Jahre beziehen lassen kann und dabei v. a. als Folge (Erfolg?) der NS-Verbrechen gesehen werden muss, stellt(e) die Orientierung an dieser ebenso fragwürdigen wie illusorischen Vorstellung eines durch gemeinsame Abstammung geprägten Volkskörpers doch auch noch bis zum Ende der 1990er Jahre eine handlungsleitende Maxime der deutschen Gesellschaft und Politik dar, die u. a. in der lange Zeit von allen Regierungen vertretenen trotzigen Parole »Wir sind doch kein Einwanderungsland« ihren Ausdruck fand. De facto hatte diese Vorstellung zu keinem Zeitpunkt gestimmt, nicht einmal für die oben angesprochenen zehn Jahre zwischen 1945 und 1955, in denen ebenfalls unterschiedliche »nicht-deutsche« Bevölkerungsgruppen in Deutschland lebten, u. a. die sogenannten »displaced persons«, also jene Angehörige anderer Nationen, die ihre Verschleppung nach Deutschland, in Arbeits- oder Vernichtungslager überlebt hatten, freilich kaum wahrgenommen wurden bzw. sich selbst auch nicht in den Vordergrund drängten; von den zahlreichen unterschiedlichen alliierten Soldaten, die bspw. in Südwestdeutschland und Nordrhein-Westfalen und ebenso in der DDR durchaus auch zu einer Pluralisierung der deutschen Gesellschaft beitrugen, einmal ganz zu schweigen.

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Bemerkenswerter Weise fand (und findet) sich eine solche mehr oder weniger bewusste Abwehr »fremder« Menschen als Mitbürger systemübergreifend sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland 2 , wo sie als öffentlich vertretbare Position seit der zweiten Hälfte der 1960er Jahre freilich auch zunehmend in Kritik geriet, wodurch ein Öffnungs- und Normalisierungsprozess hinsichtlich des Umgangs mit Migranten eingeleitet wurde, der sich im geeinten Deutschland nach 1990 auf der politischen Ebene zwar ebenfalls abzeichnete, in gewissen Punkten (Zuwanderungskommission, Änderung des Staatsbürgerschaftsrechts; Zuwanderungsgesetz, Freizügigkeit für EU-Bürger) sogar verstärkte, sich allerdings im Alltagsfühlen und -handeln der Bürger und Institutionen, namentlich in Ostdeutschland, nur lückenhaft wiederfindet.

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Zum Ansatzpunkt des vorliegenden Buches/Projektes

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Gerade weil der Umgang mit Mobilität und Migration unterschiedliche Akteure anspricht, Einstellungen und Erfahrungen ebenso mobilisiert wie er rationale Handlungsmuster und gesellschaftliche Aufklärung erfordert, kann es nicht damit getan sein, lediglich Fakten und Argumente zusammenzustellen, die – im Sinne einer Dosis verabreicht – zu einem ebenso rationalen wie menschenfreundlichen Miteinander von Einheimischen und Migranten beitragen bzw. dieses bewirken könnten, wenngleich die Notwendigkeit und Aussagekraft historischer Rekonstruktionen, programmatischer Aufklärung und empirischer Daten nicht geleugnet werden soll. Gleichwohl geht es aber immer und vor allem um Individuen in ihren jeweils konkreten Erfahrungszusammenhängen und Lebensumständen 3 : diejenigen, die sich aufmachen, über Landesgrenzen hinweg für längere Zeit oder auf Dauer nach einer neuen Lebensperspektive zu suchen, und diejenigen, die sich damit konfrontiert sehen, neue, bislang unbekannte Nachbarn und Kollegen, auch Konkurrenten und Herausforderer zu haben und mit ihnen die Möglichkeiten, es miteinander aushalten zu können, ebenso auszuprobieren haben wie beide Gruppen sich damit beschäftigen müssen, die damit verbundenen Erfahrungen, auch Konflikte, zu bearbeiten und ggf. auch weiterzuführen.

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Denn auch die ab Mitte der 1950er Jahre in die (alte) Bundesrepublik reisenden Arbeitsmigranten, zunächst aus Italien, dann aus Spanien, dem ehemaligen Jugoslawien, Portugal und Griechenland, schließlich aus der Türkei und aus Nordafrika, hatten zunächst weder vor, länger als einige Jahre dort zu bleiben, noch zu Mitgliedern dieser Gesellschaft selbst zu werden. Für die seit Anfang der 1960er Jahre in die DDR eingereisten Vertragsarbeiter aus sozialistisch geführten Entwicklungsländern wie Angola oder Mozambique, später dann aus dem kommunistischen Vietnam, galten solche Beschränkungen und Begrenzungen erst recht. Diesem Prozess aber, wie aus Fremden Nachbarn 4 geworden sind bzw. werden können, einem auch aus der Perspektive der Akteure zunächst ebenso wenig intendierten Vorgang wie die Gesellschaft darauf vorbereitet war, neue, fremde, vor allem also in ihren Erscheinungsbildern, ihren Sprachen, religiösen und anderen kulturellen Orientierungen sowie sozialen Handlungsmustern offensichtlich nicht den »normaldeutschen« Vorstellungen entsprechende Menschen, wenn nicht als zugehörig, so zumindest doch als »da seiend« wahrzunehmen, ist der vorliegende voluminöse Band gewidmet. Er dokumentiert zugleich eine Ausstellung, die im Dezember 2005 zunächst in Köln gezeigt wurde. Anlass hierfür war u. a. der 50. Jahrestag der Unterzeichnung eines ersten Anwerbevertrags der damals noch jungen Bundesrepublik mit Italien, der am 20. Dezember 1955 unterzeichnet wurde und so etwas wie den formellen Beginn einer nach dem Zweiten Weltkrieg erneut einsetzenden Geschichte der Migrationsgesellschaft in Deutschland darstellt. 5

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Dem repräsentativen Anlass werden nicht nur Umfang (869 Seiten) und Gewicht (3231 Gramm wurden in der der Zeit gewogen) gerecht, sondern auch das Konsortium der Veranstalter, das neben dem die Ausstellung betreuenden Kölnischen Kunstverein verschiedene Forschungsinstitute und künstlerische Träger sowie die Kulturstiftung des Bundes umfasst. Auch die Internationalität der Beiträger, zu denen neben Ulrich Beck, Klaus J. Bade und Werner Schiffauer weltweit bekannte Gelehrte wie Homi Bhabha, Stuart Hall und Arjun Appaduraj gehören, nicht zuletzt auch eine ganze Gruppe bundesdeutscher Wissenschaftler und Publizisten, die selbst aus Migrantenfamilien stammen, sowie die Beteiligung verschiedener Disziplinen, vom Städtebau bis zur Filmwissenschaft, von Alltagstheorien über Kulturtheorie bis zur Volkswirtschaftslehre, und schließlich die teils diskursiv, teils auf künstlerische Vergegenwärtigung hin angelegten Beiträge des Bandes machen das Buch zu einem Ereignis, durchaus in dem repräsentativen und dokumentarischen Sinn, in dem auch sonst von einem Denkmal oder einem Meilenstein gesprochen werden kann.

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Nun dienen Denkmäler der Stiftung bzw. Repräsentation von Sinn bzw. Identität, und zwar in der Regel in einer doppelten Hinsicht, dem u. a. Thomas Nipperdey anhand diverser Denkmalsprojekte seit dem 19. Jahrhundert, namentlich hinsichtlich der Fertigstellung des Kölner Doms im Zweiten Kaiserreich, nachgegangen ist. 6 Zum einen geht es dabei um die Herstellung eines Sinnzentrums im Blick auf die Gesellschaft im Inneren, zum anderen um deren Repräsentation nach außen, wobei natürlich Stilbildung und Moden der diversen Standbilder, man denke nur an die vielen Pferde, durchaus staatenübergreifend zu beobachten sind und sich die für das Nationaldenkmal im Deutschland des 19. Jahrhunderts feststellbare Tendenz zur Schaffung einer durch Symbolpolitik »geschlossenen« Gesellschaft in dieser Zeit auch in anderen Ländern, zumal unter dem Einfluss nationalistischer Strömungen und Aufbruchsbegehren, finden lässt.

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Demgegenüber stellt das hier vorgestellte Projekt auch als »Denkmal« eine Art von Gegenbewegung zu diesen nationalpolitischen Repräsentationsprojekten dar. Einmal abgesehen von Aufwand und Gewicht, und sicherlich in dieser Hinsicht dann doch auch mit dem Ziel der Repräsentativität verbunden, geht es hier v. a. darum, sich der Bundesrepublik als einer offenen, sich durch Migration bestimmenden und in ihren Zusammenhängen und Wechselbezügen auch erkennenden Gesellschaft zu versichern. In diesem Sinne stellen das Buch und das zugehörige Projekt, zumal in seinen weitergehenden Zielsetzungen, dann auch das Fundament zu einer Art von Gegendiskurs bereit: Migration als gesellschaftliche Normalität und die Bundesrepublik Deutschland, ja die deutsche Gesellschaft im Ganzen auch als eine Migrationsgesellschaft zu zeigen. Zum mindesten geht es darum, die deutsche Gesellschaft nach 1945 – und bis 1990 in unterschiedlichen politischen Ordnungen gefasst – einmal abseits von medial erhitzten »Fall«‑Meldungen und Gruppenzuschreibungen als eine auch von Migration bestimmte, plurale Gesellschaft in ihren vielen Facetten zu zeigen und dies im Sinne einer am Individuum und seinen Lebenszusammenhängen orientierten Vorstellung von Gesellschaftsgeschichte in einer Vielzahl einzelner Gesichter und anhand entsprechend individueller Lebenserfahrungen und Zielvorstellungen auszuführen.

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Diese Offenheit und Multiperspektivität brauchen (und gewinnen) im Zusammenhang des vorliegenden Buches/Projektes, das in dieser Hinsicht sowohl an den Stand aktueller Kulturwissenschaften als auch postkolonialer Theoriebildung und nicht zuletzt den »Iconic turn« der letzten Jahre anknüpft, ihre eigene Form, die sich zentral in der Anlage, in gewissem Sinn auch in der Unübersichtlichkeit des Buches wiederfindet. Diese eigenständige Form – auch der Ausarbeitung der Themenstellung – zeigt sich zum einen in dem überaus beeindruckenden Anteil künstlerischer Impulse und Medien am Darstellungsbereich des Buches, wozu nicht nur die fotographische Dokumentation der Migrationsgeschichte der Bundesrepublik (und ebenso auch der DDR) gehört, sondern eben auch die künstlerische Bearbeitung dieser Bilder und die graphische Gestaltung von Bildern und Texten innerhalb des durchaus auch als Bildband und Album nutzbaren und wirksamen Buches. Es sind v. a. eben viele einzelne Gesichter und sie sind – so auch schon das Umschlagbild einer ebenso selbstbewusst wie selbstverständlich rauchenden jüngeren Frau, in den 1960er Jahren aus anderen Gründen als heutigen gesundheitspolitischen Erwägungen heraus eine v. a. die Geschlechterrollen provozierende Aufnahme – weit davon entfernt, Migration nur als Leidensweg oder Bedrohungsszenario zu zeigen. Vielmehr zeigen viele Bilder nichts anderes als die Sozialgeschichte der Bundesrepublik bzw. auch der DDR in den vergangenen Jahrzehnten, zu der eben auch Migranten gehörten: Arbeitswelt und Freizeit, das erste Auto oder Radio, Sport und Tanzen, selbstverständlich auch mitunter Einsamkeit und eine gewisse Unsicherheit bzw. Verlorenheit, wie sie Menschen eignen kann, wenn sie an einem Ort noch nicht heimisch fühlen (können).

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Zum anderen zeigt sich die besondere Form des Buches in unterschiedlichsten Texten und Textsorten, die teils, wie gewohnt und diskursiv nützlich, in Form wissenschaftlicher Abhandlungen, ebenso aber auch in der Form von Interviews, Essays, Tagebuchnotizen und einzelnen Notaten dargeboten werden, die an Aphorismen und Denkbilder, ebenso aber auch an die imaginativ aufgeladenen impulsiven Notizen der Surrealisten erinnern.

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Überhaupt sind es neben grundlegend informativen, auf ein Allgemeines hin ausgerichteten Beiträgen (u. a. zur deutschen und europäischen Migrationsgeschichte, zu ökonomischen und juristischen Aspekten, nicht zuletzt zu Fragen des Kultur- und Wissenstransfers) vor allem die vielen einzelnen Stimmen, die teils in Bild und Wort, teils einander ergänzend, teils auch in Kontrasten zueinander, zu Wort kommen und so die grundlegende Botschaft des Bandes deutlich werden lassen: Es mag sich bei Migration um ein ebenso sozialhistorisch wie soziologisch, kulturtheoretisch wie politisch abhebbares Muster handeln, im Kern aber geht es um die Erfahrungen, Bestrebungen und Möglichkeiten einzelner Menschen, von denen jeder – im Guten wie im Schlechten – sein eigenes Gesicht, auch seine eigenen Intentionen hat, und in diesem Verständnis von Multikulturalismus 7 damit zunächst auch den Anspruch stellen darf, im Hinblick auf seine unveräußerliche Würde beachtet (und betrachtet) zu werden. Wenn also von einem Denkmal die Rede sein kann, dann handelt es sich hier um ein Denkmal für Offenheit, Pluralismus und Individualität und es zeigt sich eine Gesellschaft im Übergang, genau genommen: eine Baustelle.

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Migration als Baustelle

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Tatsächlich stehen sich in kaum einem anderen Feld sozialer Entwicklungen und politischer Interventionsansprüche in der Moderne individuelle Bestrebungen nach Freiheit und Glück, Ansprüche auf gesellschaftliche Integration und politische Gestaltung, auf Teilhabe und Selbstbestimmung, zugleich aber auch das Bestreben nach Kontrolle und Ausschluss, so eng und zugleich so ineinander verwickelt gegenüber wie im Bereich der eben durch die Grenzbefestigungen des 19. und 20. Jahrhunderts zustande gekommenen bzw. in diesen Mustern dann in Erscheinung getretenen, Grenzen durch Kooperation und Konfrontation überschreitenden Bewegungen von Menschen über Grenzen, für deren Gesamtheit sich seit den 1970er Jahren der Begriff »Migration« eingebürgert hat. Natürlich waren Migration und Mobilität als soziale und individuelle Erfahrungen und Verhaltensmuster schon immer vorhanden und so auch schon seit den frühen Hochkulturen weltweit Gegenstand gesellschaftlicher Gestaltung, kultureller Codierungen und rechtlicher Regelungen, von denen die in der hebräischen Bibel ebenso wie in den griechischen Poleis vorhandenen Bestimmungen zum Gastrecht lediglich als Beispiele genannt werden können.

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Dass sich nun aber die Bürgergesellschaften Europas und die an sie angelehnten und auch auf sie zurückwirkenden Gesellschaftsmodelle auf anderen Kontinenten, bspw. also Kanada, die USA oder Australien, nicht nur über einen einmaligen Aus- und Einschluss der jeweiligen Bürger bestimmen, sondern Zugehörigkeit auch als variable Größe verstehen, sich in diesem Sinne als »Assoziationen der Freiheit« 8 gerade auch über die Möglichkeiten definieren, Zugehörigkeiten zu verändern, Neuaufnahmen zuzulassen und für Selbstbestimmung Möglichkeiten zu bieten, mag gerade die Baustelle beschreiben, über die innerhalb des vorliegenden Bandes/Projekts Auskunft gegeben und Reflexionsanstöße vermittelt werden sollen. Es handelt sich dabei freilich nicht nur um eine Dokumentation des Lebens der Migranten in der alten Bundesrepublik bzw. auch in der DDR. Vielmehr bietet das Buch eine Fülle von weitergehenden Perspektiven, die von der ausgesprochen lesenswerten Studie des in Frankfurt/O. lehrenden Kulturanthropologen Werner Schiffauer zum »Exodus«‑Motiv, das sich in allen Weltreligionen findet und also weder im Guten noch im Schlechten eine Erfahrung nur von »uns« oder nur der »anderen« beschreibt (S. 562 ff.), über die Beschreibung konkreter historischer Ereignisse (diverse Streiks im Westdeutschland der 1970er Jahre) und sozialer Prozesse (Arbeitsmigration, Familiennachzug, politisch motivierte Flucht, illegale Einwanderung) bis hin zu verschiedenen theoretischen Ansätzen zur Beschreibung und Interpretation von Migration und interkulturellen Beziehungsmustern und soziologischen bzw. auch kulturtheoretischen Reflexionen reichen.

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Dies macht im übrigen die Haupteigenschaft des vorliegenden Bandes aus: Es handelt sich um ein Mosaik, das neben wichtigen Texten aus zahlreichen teils künstlerischen, teils alltagsbezogenen Bildern besteht und außerdem auf diese Weise auch weitere, zumal sozialhistorisch aufschlussreiche Dokumente – Bilder und Texte – umfasst. Unbedingt lesenswert ein sicherlich »gut gemeintes«, »Europa-Knigge« überschriebenes Papier aus dem Archiv des Deutschen Caritasverbandes von 1962, das »Goldene Regeln für den Umgang mit Gastarbeitern« enthält: »Der Südländer will als Persönlichkeit behandelt werden. Er ist von Natur liebenswürdig und schätzt eine liebenswürdige Umgangsart. Eine kleine Gefälligkeit, zum Beispiel eine angebotene Zigarette, gewinnt sein Herz im Nu. […] Bei Unruhen … ist eine harte und konsequente, jedoch gerechte Klarheit der einzige Ausweg.« (S. 369) Der hier in Erscheinung tretende ebenso wohlmeinende wie patriarchalische und diskriminierende Diskurs bietet freilich nicht nur einen Einblick in die Lage und die Wahrnehmung der Arbeitsmigranten auf dem Höhepunkt des Wirtschaftswunders zu Beginn der 1960er Jahre, sondern stellt zugleich auch ein Dokument aus der Kultur- und Sozialgeschichte der Bundesrepublik dar, die sich in den hier vorliegenden Beschreibungen der »Anderen« natürlich immer auch selbst beschreibt: »Der Südländer hat angeblich Erfolg bei den Frauen; wenn er einer Frau Komplimente macht, meint er es jedoch selten ernst.«

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Gerade wegen dieser vielfältigen Beiträge und Blickrichtungen, zumal aber wegen der reichen Ausstattung mit künstlerischen und anderen, teils Familienalben, teils künstlerischen und sozial deskriptiven Projekten entnommenen Bildern, handelt es sich hier um eine Art Kulturgeschichte der beiden deutschen Staaten im Spiegel der Erfahrungen und Wahrnehmungen derjenigen, die in diesen Jahren zwischen 1955 und 2005 die deutsche Gesellschaft »von außen« wahrnahmen und zugleich in ihr lebten. Das Buch zeigt und reflektiert das Material, die Komponenten und die Wahrnehmungsmuster, v. a. aber die Individuen, aus denen sich die deutsche Gesellschaft, Einheimische und Dazugekommene, in ihren vielen Facetten und Gesichtern zusammensetzt und gleichzeitig immer wieder auch ausdifferenziert. In dieser Hinsicht ist es ein Buch, das unbedingt für jede Art von Unterricht: Deutschland bezogen, Europa bezogen, Welt bezogen, zu empfehlen ist. Freilich setzten Umfang und Gewicht hier auch deutliche Grenzen, auch wird nicht jeder Kopierer es aushalten und auf eine Reise lässt es sich schon gar nicht mitnehmen; andere Denkmäler in der Regel freilich auch nicht.

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Eine Panorama und viele Geschichten

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Es ist eine doppelte Bewegung, der sich eine Beschäftigung mit der »Normalität« und Wirklichkeit von Migration unterziehen muss, wenn sie ihrer Komplexität und Pluralität gerecht werden will. Zum einen gilt es die Geschichte und die Erscheinungsformen von Migration gegen jene Ideologien und Regelsysteme nationaler Homogenität zu entfalten, in deren Perspektive Migration vor allem als Ausnahme und Gefahr, wenn nicht gar als sich abzeichnende und eben so dringlich abzuwehrende Katastrophe erscheinen soll. Zum anderen muss es darum gehen, die Kategorien selbst, also insbesondere jene festen Zuordnungen in Frage zu stellen, mit denen im Fortschritt der Neuzeit, zumal von Europa aus, die einzelnen Weltteile und ihre Bevölkerungen, eben auch die vielen Gruppen und jeweils einzelnen in größere Schemata gepresst und festgelegt wurden.

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Beispiele und Reflexion müssen also Hand in Hand gegen Pauschalisierungen und gegen monokausale Herleitungen und Folgerungen aufgeboten werden; dies bezieht sich nicht zuletzt auch auf die historisch spezifisch deutschen, spezifisch auch europäischen Implikationen und Kategorien, wie sie derzeit – ausgehend von einem Ansatz der Globalgeschichte unter dem Stichwort der »globalen Interaktion« 9 vorgesellt und eben dann auch für die Analyse der deutschen und europäischen Geschichte genutzt werden können. 10 In diesem Sinne spricht der indisch-amerikanische Kulturtheoretiker Homi Bhabha im vorliegenden Buch davon:

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Was wir feststellen, wenn wir so doppelsinnig fragen, ist, dass manichäische Aufteilungen zwischen dem ›Westen‹ und dem ›Rest‹ überhaupt nicht sinnvoll sind. […] Was wir tun müssen, ist die Geschichte(n) der Nationen, Regionen und Kulturen aus der Perspektive dieser umkämpften Souveränität neu schreiben, diese Vielschichtigkeit, die es ablehnt, eins zu werden (e pluribus unum), sondern stattdessen einen Kern kultureller Differenz produziert, durch den neue Geschichten von kultureller Gleichwertigkeit-mit-Differenz geschrieben werden müssen. (S. 812)
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Nicht zuletzt bietet das Buch neben vielen Gesichtern eben auch diese vielen Geschichten, u. a. der Migranten aus Italien, Kroatien, Nordafrika und Vietnam, zunächst in den jeweiligen Originalsprachen (und dann im Anhang auch in Übersetzungen), so dass Unterschiede ebenso bewahrt werden wie Verständigung möglich wird. Wie auf jeder größeren Baustelle, und im Falle der Migration wie auch anderer Prozesse der Moderne ist die Baustelle wohl das Denkmal, finden sich die unterschiedlichsten Materialien, viele Werkzeuge, ältere und neuere brauchbare, und auch manches Überzogene bzw. recht Wohlfeile (etwa im Gespräch mit der Frauenforscherin Rosi Braidotti).

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Ausgesprochen aktuell und weiter zu führen sind schließlich die verschiedenen Überlegungen und Befunde (u. a. in den Beiträgen von Tom Holert und Mark Terkessidis, William Walters, Etienne Balibar und der Forschungsgruppe TRANSIT MIGRATION), die darauf hinweisen, dass es bei den derzeitigen Versuchen, europaweit (weltweit?) einheitliche Flüchtlingsregelungen zu entwickeln bzw. umzusetzen, offensichtlich weniger darum geht, Menschen dazu zu verhelfen, ihre eigenen Wege (und Glücksentwürfe) verfolgen zu lassen als darum, Steuerungsmodelle und Planungsutopien vom Muster der »Kontrollgesellschaft« Wirklichkeit werden zu lassen. Auch in dieser Hinsicht ginge es also darum, die verschiedenen Gesichter der Migration (der Migranten) als eine Erscheinungsform des »dazwischen« zu beachten und zu bewahren.

 
 

Anmerkungen

Nachdrücklich hat Walter Müller-Seidel auf diesen Zusammenhang von Deportation und Genozid im Rahmen der europäischen Moderne am Beispiel von Kafkas Erzählung In der Strafkolonie (1914/19) hingewiesen. Vgl. Walter Müller-Seidel: Die Deportation des Menschen. Kafkas Erzählung ›In der Strafkolonie‹ im europäischen Kontext. Frankfurt/M. 1989; vgl. dazu grundlegend Zygmunt Bauman: Moderne und Ambivalenz. Hamburg 1992 und jetzt Jan Philipp Reemtsma: Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne. Hamburg 2008 (bes. Kap. II und IV).   zurück
Aktuelle Zahlen belegen dabei eine stärkere Fremdenfeindlichkeit im Osten, während sich im Westen ein stärkerer Antisemitismus feststellen lässt; Muster und Unterschiede, die sich in den seit 1990 vergangenen Jahren offensichtlich stabil herausgebildet haben. Vgl. Wilhelm Heitmeyer: Deutsche Angst. In: Die Zeit Nr. 51 vom 14.12.2006; Alexander Schlögel / Oliver Strauß: Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus im Ost/West Vergleich. URL: http://www.politik.uni-mainz.de/cms/PP24.01.06.ppt (zuletzt abgerufen am 21.5.2008).   zurück
Für eine sicher weiter zu diskutierende, aber gleichwohl aufschlussreiche Gliederung der Gesellschaft nach unterschiedlichen Ressourcen im Umgang mit den Erfahrungen des Lebens in einer Migrationsgesellschaft vgl. u. a. Ulrich Bielefeld: Exklusive Gesellschaft und inklusive Demokratie. Zur gesellschaftlichen Stellung und Problematisierung des Fremden. In: Rolf-Peter Janz (Hg.): Faszination und Schrecken des Fremden. Frankfurt/M. 2001, S. 19-51, hier S. 40-48.   zurück
Vgl. dazu grundlegend: Richard Grathoff: Von der Phänomenologie der Nachbarschaft zur Soziologie des Nachbarn. In: Walter M. Sprondel (Hg.): Die Objektivität der Ordnungen und ihre kommunikative Konstruktion. Für Thomas Luckmann. Frankfurt/M. 1994, S. 29-55.   zurück
Für die inzwischen reichhaltig aufgearbeitete ältere Geschichte Deutschlands als Migrationsgesellschaft vgl. Klaus J. Bade (Hg.): Deutsche im Ausland. Fremde in Deutschland. Migration in Geschichte und Gegenwart. München 1992 (und öfter); Ulrich Herbert: Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland: Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlinge. München 2001.   zurück
Vgl. Thomas Nipperdey: Nationalidee und Nationaldenkmal in Deutschland im 19. Jahrhundert. In: T. N.: Gesellschaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte. Göttingen 1976, S. 133-173; T. N.: Der Kölner Dom als Nationaldenkmal. In: T. N: Nachdenken über die deutsche Geschichte. München 1986, S. 156-171.   zurück
Vgl. Charles Taylor: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung. Frankfurt/M. 1993.   zurück
Vgl. Werner Schiffauer: Die »civil society« und der Fremde. In: W. S.: Fremde in der Stadt. Zehn Essays über Kultur und Differenz. Frankfurt/M. 1997, S. 35-49.   zurück
Vgl. Helmut Bley / Hans-Joachim König: Globale Interaktion. In: Friedrich Jaeger (Hg.): Enzyklopädie der Neuzeit. 4. Bd. Stuttgart 2006, Sp. 945-957.   zurück
10 
Vgl. dazu u. a. Dipesh Chakrabarty: Europa provinzialisieren. Postkolonialismus und die Kritik der Geschichte. In: Sebastian Conrad / Shalini Randeria (Hg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. Frankfurt/M. New York 2002, S. 283-312. Hans-Heinrich Nolte: Osteuropäische und Globalgeschichte bis zum 19. Jahrhundert. In: H-Soz-u-Kult, 05.05.2006. URL: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/id=728&type=artikel (zuletzt abgerufen am 28.5.2008).   zurück