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De eruditorum cunctatione in componendis libris
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In Wittenberg erscheinen 1717 zwei Dissertationen, die ein auch unter den gegenwärtigen akademischen Umständen nicht ganz unbekanntes Problem traktieren: De eruditorum cunctatione in componendis libris.
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Die beiden von Johann Christian Ernesti verfassten dissertationes eruditorum, deren zeittypischer Umfang von jeweils 14 beziehungsweise 18 Textseiten wenigstens den Abschluss dieser Übungen in historischer Gelehrsamkeit nicht fraglich erscheinen ließ, haben in jüngerer Zeit keine Nachfolger gefunden. Eine derartige Nachfolgearbeit, die heute alle angefangenen, aber nicht beendeten akademischen Arbeiten aufzählen wollte, müsste den Umfang der beiden Dissertationen Ernestis wohl deutlich überschreiten; zumal dann, wenn sie auch die akademischen Forschungsprogramme berücksichtigte, die angekündigt, aber nie ausgeführt wurden.
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Bis vor kurzem hätte man Anlass zu der Befürchtung gehabt, dass auch William Clarks Monographie, die lange unter dem Titel Homo academicus germanicus angekündigt wurde, in die hier imaginierte Bibliographie unvollendeter Bücher aufgenommen werden muss. Die Monographie, die nun mit knapp 500 Textseiten vorliegt, basiert wenigstens programmatisch auf der vom Verfasser 1986 an der University of California at Los Angeles abgeschlossenen wissenschaftshistorischen Dissertationsschrift From the Medieval Universitas Scholarium to the German Research University: A Sociogenesis of the Germanic Academic. Nach insgesamt 20 Jahren ist nun das lange erwartete wissenschaftshistorische Komplement zu Pierre Bourdieus wissenssoziologischer Studie über den Homo academicus erschienen.
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Eine Genealogie der Forschungsuniversität
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Clarks Monographie bemüht sich um die Freilegung der Ursprünge der Forschungsuniversität. Damit schreibt Clark, im Foucaultschen Sinne, eine dezidierte Genealogie, das heißt eine Geschichte der Gegenwart.
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Seine historische Rekonstruktion soll erklären, wie die Universität zu einer Institution wurde, an der geforscht wird; er befasst sich also mit der Untersuchung eines Forschungsfeldes, das erstmals 1980 von R. Steven Turner im Internationalen Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur einem breiteren literaturwissenschaftlichen Fachpublikum bekannt gemacht wurde.
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Clarks Geschichte der Entstehung einer Forschungsmentalität (»research mentality«, S. 219) an der philosophischen Fakultät, vor allem in den historisch-philologischen Fächern, erstreckt sich auf den Zeitraum von der Reformation bis ins 20. Jahrhundert, wobei ihm vor allem die frühneuzeitliche Lehruniversität als Kontrastfolie zur aufklärerischen und romantischen Forschungsuniversität dient. Clark befasst sich in seinen Untersuchungen in erster Linie mit den protestantischen Universitäten des deutschsprachigen Raums; englische Universitäten (Oxford und Cambridge) und die katholischen Universitäten des Alten Reichs übernehmen ebenfalls lediglich eine kontrastierende Funktion.
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Sein Buch gliedert sich in drei Teile: Die im ersten Teil geschilderten, die Herausbildung der neuzeitlichen Forschungsuniversität vorantreibenden Veränderungen fasst Clark unter dem Titel der »Rationalisierung« zusammen; in diesem Teil schildert er die Entstehung der neuzeitlichen Universität anhand der Transformation akademischer Rituale und epistemischer Praktiken wie zum Beispiel Rangordnung und Vorlesungsverzeichnis (Kap. 2), Vorlesung und Disputation (Kap. 3), Prüfung und Benotung (Kap. 4), Seminar (Kap. 5), Dissertation und Habilitation (Kap. 6), Berufung (Kap. 7) und Bibliothekskatalog (Kap. 8). Die den Rationalisierungsprozessen entgegenstehenden Tendenzen untersucht Clark im zweiten Teil seiner Monographie unter dem Titel des »Charismas« (Kap. 9–11), wobei hier Phänomene wie der akademische »Ruhm« ins Blickfeld rücken. In einem dritten Teil skizziert Clark die internationale Erfolgsgeschichte der deutschen Forschungsuniversität und komplettiert seine Untersuchung der Entstehungsbedingungen der Forschungsuniversität derart um einen Ausblick auf den Transfer des deutschen Modells nach Österreich, England, Frankreich und in die Vereinigten Staaten von Amerika. Knappe Zusammenfassungen am Ende der einzelnen Kapitel und ein umfassendes Register erlauben einen gezielten Zugriff auf einzelne Gegenstandsbereiche und Argumentationsstränge.
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Die makrohistorische Dimension
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Clarks Studie verwendet mikrohistorische und makrohistorische Erklärungsansätze für seine Ursprungsgeschichte der Forschungsuniversität. Der makrohistorische Rahmen, der den Transformationsprozess der Universität von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart nachzeichnen soll, bedient sich in erster Linie eines modernisierungstheoretischen Begriffsapparats, der dem soziologischen Werk Max Webers entnommen ist. Kategorien wie »Rationalisierung«, »Entzauberung«, »Bürokratisierung«, »Kommodifizierung«, »protestantische Ethik« oder »charismatisch«, »traditional« und »rational« (in Anlehnung an Webers Idealtypen legitimer Herrschaft) werden in Anschlag gebracht, um die verschiedenen akademischen Modernisierungsschübe zu beschreiben.
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Diese Modernisierungsschübe – die mit den für verschiedene Epochen paradigmatischen Universitätsgründungen in Wittenberg (1502), Halle (1694), Göttingen (1734/1737) und Berlin (1810) in Verbindung gebracht werden – sind, so die These Clarks, in der Regel universitätsextern veranlasst. Die Agenten der als »Rationalisierung« aufgefassten akademischen Modernisierung sind die Ministerien und der Markt: In letzter Instanz seien eine zunehmende, meist kameralistisch begründete, »Verstaatlichung« und »Ökonomisierung« des Bildungswesens die Hauptursachen für die Entstehung der Forschungsuniversität gewesen.
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Clark fasst seine modernisierungstheoretische Perspektive derart zusammen, dass mit der Aufklärung eine juridisch-theologische Gesellschaftsordnung (»juridico-theological order«) von einer politisch-ökonomischen (»politico-economic order«) abgelöst wird; durch diesen Ordnungswandel werde das »traditionale« durch das »rationale« verdrängt (S. 3). Dieser Wandel der Gesellschaftsordnungen wird dann in weitere kategoriale Koordinatensysteme eingetragen, die von Gegensatzpaaren wie »Meritokratie« und »Nepotismus«, »Häuslichkeit« und »Öffentlichkeit« oder »Gelehrsamkeit« und »Forschung« strukturiert werden. Phänomene der Modernisierung sind für Clark:
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1. Meritokratisierung, das heißt die Ablösung der für die frühneuzeitliche »Familienuniversität« maßgeblichen nepotistischen Reproduktionsstrategien durch meritokratische – wobei auch Clark deutlich sieht, dass Systeme akademischer Patronage, die auch die Ehelichung der Professorentochter einschließen konnten (S. 241–243), bis weit in die Neuzeit hineinragen; Meritokratisierung umfasst auch die Ablösung wissenschaftsextrinsischer Bewertungskriterien wie Seniorität oder Standeszugehörigkeit durch wissenschaftsintrinsische.
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2. Verstaatlichung, das heißt die Ablösung eines Systems der Pfründe und Gebühren durch Gehälter, meist im Rahmen einer zunehmenden Verbeamtung des wissenschaftlichen Personals. Darunter fällt auch die Verlagerung des häuslichen Arbeitsplatzes in universitäre Räume und die zunehmende Verlagerung des Besitzes der akademischen Betriebsmittel von den einzelnen akademischen Forschern an die universitäre Institution – etwa durch die Errichtung von budgetierten Seminarbibliotheken oder Laboren, die den Gelehrten weitgehend vom privaten Erwerb relevanter Bücher oder Instrumente entlasten.
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3. Verwissenschaftlichung, das heißt die Ablösung frühneuzeitlicher »Gelehrsamkeit« durch »Forschung«; wenn man neben Clarks ausdrücklichen Bestimmungen des Forschungsbegriffs auch seine weitgehend implizit bleibenden Verwendungsweisen von »Forschung« heranzieht, lässt sich sein Forschungsbegriff dahingehend spezifizieren, dass er an Konzeptionen akademischer Spezialisierung gebunden, an Vorstellungen von mehr oder weniger geregeltem Wissensfortschritt gekoppelt ist und die Herstellung und Veröffentlichung von eigenständigen Arbeiten einbegreift.
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»Forschung« umfasst Expertise, methodengeleitete Innovation und Publikation und geht auf Seiten der »Forscher« mit einem professionellen Selbstbild einher (»academic persona« S. 372), das sich in erster Linie über Forschungsleistungen definiert.
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Die mikrohistorische Dimension
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Clarks makrohistorische Perspektive leidet darunter, dass die Interpretamente Weberscher Provenienz, die einer Genealogie der homo academicus germanicus protestantus dienen sollen, von ihm nicht durchgängig und systematisch angewandt werden. Seine makrohistorischen Thesen werden aber durch die mikrohistorischen Analysen epistemischer Praktiken gestützt.
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Die an der Schnittstelle von Institutionentheorie und Wissenschaftstheorie liegende Analyse von epistemischen Praktiken, deren Valenz bereits in einem von Clark publizierten Sammelband herausgestellt wurde,
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stellt Fragen wie: Macht es einen Unterschied, ob Wissen in einem Vorlesungssaal oder in einem Seminarraum vermittelt wird?
Welche Form der Wissensaneignung wird von Vorlesungsmitschriften begünstigt? Seit wann schreiben Doktoranden ihre Dissertationen selbst? Seit wann müssen Studenten bereits während des Studiums schriftliche Hausarbeiten verfertigen? Wie transformiert sich das professionelle Selbstverständnis von Professoren, wenn Publikationen zur Voraussetzung für eine Berufung werden? Wie beeinflussen Ordnungsmuster von Bibliothekskatalogen und die Einkaufspolitik von Bibliotheken die Produktion von Wissen? Wie verändern sich Praktiken des Prüfens und Benotens, wenn Benotungen wie »achtsam«, »von wenigem Begriff«, »lernt bald und vergißt bald«, »faul«, »thut das seine«, »von den besten«, »thumm« durch normierte Zahlenwerte ersetzt werden?
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Clarks Analyse epistemischer Praktiken hat in der Wissenschaftsforschung der Literaturwissenschaft einen bedeutenden Vorläufer, den von Peter J. Brenner herausgegebenen Sammelband zu Geist, Geld und Wissenschaft. Brenner, der sein Vorhaben damals als Analyse der »Lebenswelt« der Wissenschaften charakterisierte, zielte auf die Untersuchung der Selbstverständlichkeiten des geisteswissenschaftlichen »Alltagsgeschäfts«. Brenners damaliger Hinweis, dass die »Frage, in welcher Abhängigkeit die Ergebnisse geisteswissenschaftlicher Forschung [...] von ihren eigenen Handlungs- und Arbeitsformen, Verhaltenskonventionen, Kommunikationsmustern und Organisationsstrukturen stehen, [...] noch kaum gestellt, geschweige denn hinreichend untersucht worden« sei, trifft auch noch weite Teile des aktuellen Diskussionsstands.
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Obwohl in Brenners wegweisendem Sammelband akademische Gattungen wie »Monographie«, »Einführung«, »Edition«, »Bibliographie«, »Rezension« und »Gutachten«, akademische Organisationsformen wie »Sonderforschungsbereiche« und »Graduiertenkollegs« oder akademische rites de passage wie die »Habilitation« erfolgreich untersucht wurden, steht eine umfassendere Analyse von Praktiken der Gelehrsamkeit, die sich in Gattungen wie »Sammelband«, »Fachzeitschrift«, »Aufsatz« oder »Antrag« manifestieren, gegenwärtig ebenso aus wie die eingehende Untersuchung von schriftlichen Interaktionsformen wie dem »Zitat« und dem »Kommentar« oder mündlichen wie dem »Vortrag« oder der »Tagungsdiskussion«.
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Brenners Programm einer Untersuchung der »Lebenswelt« der Literaturwissenschaft verweist auf das von Clark verfolgte Programm einer Analyse der »kleinen Werkzeuge des Wissens« (»little tools of knowledge«, S. 6). Sowohl Brenners Sammelband als auch Clarks Monographie wollen darauf hinaus, dass epistemische Praktiken ›bürokratisch‹ strukturiert sind: Beide untersuchen, in Luhmannscher Terminologie, das Verhältnis von »Wissenschaft« und »Organisation«.
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Eine epistemische Praktik, an der sich dieses Verhältnis aufschlussreich darstellen lässt, ist das philologische Seminar.
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Das Seminar als Beispiel für eine epistemische Praktik
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Die historische Epoche, in der die Universität eine Forschungsinstitution war, ist, wenn man Clark glauben darf, gerade am abklingen. Während an der Universität erst im 18. Jahrhundert durch die Gründung von Seminaren in der philosophischen Fakultät vormoderne Konzeptionen und Praktiken der »Gelehrsamkeit« von solchen der »Forschung« abgelöst worden seien und die Universität erst in diesem Zeitraum die vorher von wissenschaftlichen Akademien und Gesellschaften geleistete Forschungsarbeit übernommen habe, werde spätestens mit der unter anderem von Adolf Harnack betriebenen Gründung der Kaiser-Wilhelm-Institute – den Vorläufern der gegenwärtigen Max-Planck-Institute – die Forschung wenigstens auf programmatischer Ebene wieder an außeruniversitäre Institutionen verlagert.
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Angesichts der aktuellen Zentralisierung der öffentlichen Forschungsmittel bei universitätsexternen Forschungsförderungsinstitutionen gewinnt Clarks Epochenkonstruktion auch für die Gegenwart an Plausibilität.
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Clark beschreibt also die Epoche, die Gustav Freytag, keineswegs ironisch, als die »fleißige Abiturientenzeit des deutschen Volkes« bezeichnet hat:
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Das Wichtigste von allem aber war die besondere Art des Lernens auf lateinischen Schulen und Universitäten. Nicht das gedankenlose Aufnehmen eines überlieferten Stoffes, sondern das Selbstsuchen und Selbstfinden ist das Lebenweckende in jedem Lernen. In den höheren Klassen des Gymnasiums und auf der Universität wurde der Studirende der Vertraute des suchenden Gelehrten. Gerade die Streitfragen, welche seine Zeit am meisten bewegten, die Forschungen, welche als unbeendet am kräftigsten anspannten, wurden ihm am liebsten mitgeteilt. [...] Um 1790 hatte diese Art der Bildung so großen Werth und Bedeutung gewonnen, daß man wol diese Jahre die fleißige Abiturientenzeit des deutschen Volkes nennen darf. Eifrig wurde gelernt, überall trat an die Stelle des alten maschinenmäßigen Verfahrens anregende selbstthätige Arbeit.
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Im philologischen Seminar des 18. Jahrhunderts, das Freytag hier evoziert, wird ein studentisches Selbstverständnis geprägt, das sich nicht nur an der Rezeption, sondern auch an der Produktion von Wissen orientiert; der »Forschungscharakter« des philologischen Studiums umfasst die von Freytag genannten epistemischen Werte eines an offenen Problemstellungen und am aktuellen Diskussionsstand orientierten »selbstthätigen« wissenschaftlichen Arbeitens.
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Die epistemische Praktik, die für Clarks wissenschaftshistorische Argumentation deshalb von höchstem Gewicht ist, ist das philologische Seminar. Clark geht sogar soweit, den Ursprung des modernen Begriffs der Forschung im philologischen Seminar zu verorten:
»a modern notion of research in fact emerged in German doctoral dissertations for subjects in arts and sciences, and most especially, in doctoral dissertations written by students who had been members of the seminars« (S. 212). Clark rekonstruiert die Entstehungsgeschichte des philologischen Seminars und betont, etwas stärker als in früheren Arbeiten,
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den Ursprung des Seminars in privaten Kontexten: vor allem im so genannten Professorentisch, in philologischen Gesellschaften und Vereinen und in privaten Colloquia in häuslicher Umgebung.
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Der aktuelle Forschungsstand weiß nur wenig Genaues darüber zu sagen, welche Interaktionsformen in den philologischen Seminaren gepflegt wurden; das mag auch damit zusammenhängen, dass es sich grundsätzlich als äußerst schwierig erweist, Praktiken allein anhand der Artefakte zu rekonstruieren, die diese Praktiken hinterlassen haben. Clarks Untersuchungen, die sich vor allem auf Friedrich August Wolfs philologisches Seminar in Halle (1787–1804) und Christian Gottlob Heynes philologisches Seminar in Göttingen (1763–1812) fokussieren, legen nahe, dass aufgrund der im Seminar ermöglichten Nahkommunikation zwischen Professor und fortgeschrittenen Studenten und der den Teilnehmern dort abverlangten aktiven Partizipation erstens durch konstante Übung die Kultivierung philologischer Fertigkeiten erleichtert wurde und zweitens ein innovationsfreundliches, das heißt auf die Produktion von neuem Wissen ausgerichtetes Lehrideal entstehen konnte: »a specific and novel method of teaching helped to establish the pursuit of research as an activity demanded of advanced students and, indirectly in the seminar, of professors, too« (S. 142).
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Clark legt damit die Grundlage für weitere wissenschaftshistorische Forschungen, die genauer nachzuzeichnen haben, welche Auswirkungen die epistemische Praktik »Seminar« auf die Herstellung, Darstellung, Verbreitung, Diskussion und Bewertung von philologischem Wissen hatte. So wäre etwa in Analogie zu Steffen Martus’ Hypothese, dass die »Gesamtausgabe« als epistemische Praktik sich in Techniken der philologischen Aufmerksamkeitssteigerung niederschlägt,
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zu untersuchen, inwiefern auch das philologische Seminar zur Durchsetzung derartiger Techniken der Beobachtungsverfeinerung beiträgt. Gegenwärtig ist noch alles andere als klar, wie genau das implizite handlungsanleitende Wissen (tacit knowledge)
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zu beschreiben ist, das Philologen durch Einübung im Seminar erlangten.
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Wie Clark hervorhebt, war der institutionelle Erfolg der philologischen Seminare, der nicht wenig zur akademischen Hegemonie der klassischen Philologie im 19. Jahrhundert beitrug, auch neuen Finanzierungsmodellen geschuldet: »The seminar fused a particular style of teaching with a particular method of funding« (S. 158). Die den philologischen Seminaren vorstehenden Institutsleiter verfügten bald über das Instrument eines festen Budgets, das ihnen den sukzessiven Aufbau von Seminarbibliotheken oder die Unterstützung von Seminaristen durch Stipendien und Preisgelder erlaubte. Mit »Seminar« ist nicht nur ein Raum gemeint, in dem neue akademische Interaktionsformen praktiziert werden, sondern auch ein bestimmter Typ der finanziellen Ausstattung.
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Akademisches Charisma
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Während die frühneuzeitliche Universität noch weitgehend einer an mündlicher Interaktion orientierten Präsenzkultur verpflichtet ist,
ist die neuzeitliche Wissenschaft Clark zufolge zunehmend von schriftlicher Distanzkommunikation geprägt. Erst diese Zunahme von kommunikativer ›Abwesenheit‹ lässt die Trennung von »Sache« und »Person«, das heißt von Wissensanspruch und Wissensträger plausibel und programmatisch werden – etwa in der Kommunikation der im 18. Jahrhundert entstehenden kritischen Öffentlichkeit, die in Zeitschriften wie der Allgemeinen deutschen Bibliothek, der Allgemeinen Literatur-Zeitung und den Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen (den späteren Göttingischen gelehrten Anzeigen) ihre deutlichste mediale Ausprägung findet.
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Clark verwendet den Begriff des »akademischen Charismas«, um Phänomene zu beschreiben, die sich der Modernisierung der Universität bis in die Gegenwart hartnäckig widersetzen. Während die akademische Interaktion im Rahmen ihrer Modernisierung auf Distanzkommunikation umschaltet, charakterisiert »Charisma« also Modernisierungsresiduen, in denen weiterhin Präsenzkommunikation vorherrscht. Paradigmatisch für »Charisma« ist der Ruhm, den sich ein Wissenschaftler im Laufe seines Arbeitslebens erwirbt: Ruhm erwerbe man laut Clark aber nicht allein durch Distanzkommunikation (etwa durch die hohe Zirkulation und Zitation der eigenen Schriften), sondern auch durch Nahkommunikation, wobei es sich hier nicht um den Ruhm handeln muss, der durch die stimmliche Präsenz in Vorlesungen und Seminaren oder auf Tagungen und Symposien erworben wird. Berühmt ist in erster Linie derjenige, über den ›man‹ auch in informellen Interaktionen spricht: Clark beschreibt Ruhm in diesem Sinne als »essential vehicle of modern academic charisma – the name that circulates outside the office« (S. 370). Es besteht mithin eine enge Beziehung zwischen Hörensagen und Reputation (S. 372).
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Wenn der Ruhm die ›Münze‹ ist, mit der auf dem akademischen ›Markt‹ bezahlt wird, so ist er eine ›Währung‹, deren Wert notorisch instabil und schwer bestimmbar ist. So teilt der Ruhm mit dem Gerücht, dass sich die Legitimität der mit ihm verbundenen Zuschreibungen kaum zuverlässig bestätigen lässt.
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Wenn also derjenige berühmt ist, der in der scientific community das größte »Lärmen« veranstaltet, wie etwa Gottsched vermerkt,
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so ist dieser von der »fame machine«
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des akademischen Betriebes hergestellte Lärm anfällig für Legendenbildungen und Manipulationen (»academic trading companies fabricating credit by mutual citation«, S. 397).
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Clarks Überlegungen zum akademischen »Charisma« sind deshalb auch ein wichtiger Beitrag zu einer Theorie der Reputation,
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weil sie deutlich machen, wie schwer es ist, die in der Aufklärung stark beanspruchte Unterscheidung von »Person« und »Sache« aufrechtzuerhalten: Häufig sind »die Geltungsbedingungen gelehrten Wissens [...] nicht von den sozialen Geltungsbedingungen seiner Träger zu trennen.«
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Man muss in den komplexen diskursiven Verstrickungen von »Person« und »Sache« beziehungsweise von »Ruhm haben« und »Recht haben« nicht unbedingt eine Wiederkehr des »Körpers« sehen (S. 201), um im Problem der personalen Verankerung von Wissen ein zentrales zukünftiges Forschungsfeld zu erkennen.
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Dialektik der Romantik
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Die »Aufklärer« sehen sich in Clarks Buch in die Rolle der beinharten Rationalisten gedrängt, die mittels eines weitgehend bürokratischen Instrumentariums die Modernisierung des Universitätswesens vorantreiben.
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Die »Romantiker« werden von ihm als Kritiker dieser nunmehr an ökonomischen Nützlichkeitserwägungen ausgerichteten und von administrativen Steuerungsphantasien beeinflussten Universität dargestellt. Der neue romantische Held des Wissens (»the new, Romantic hero of knowledge«, S. 237), der erst noch von dem aufklärerischen »Wissensheld« zu unterscheiden wäre,
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versteht sich als Gegner der sich zunehmend kommerzialisierenden Wissenschaftskultur; die Originalitätsemphase des romantischen Wissenschaftlers spielt diesen Kommerzialisierungstendenzen aber contra intentionem in die Hand. Clark erkennt hier eine Dialektik der Romantik: »Interestingly, Romantics opposed the Enlightenment’s crass commercialization of culture and academia, while their apotheosis of the academic as author would make commodification systematic« (S. 441).
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Aus institutionenhistorischer Perspektive ist allerdings äußerst fraglich, ob sich die Ablehnung einer Kommerzialisierung des Wissens allein einem »romantischen« Impuls verdankt. Die mitunter harsche Kritik an der Kommerzialisierung der universitären Ausbildung muss vielmehr in den Horizont der Ablehnung des »Brotstudiums« gerückt werden. Die Polemik gegen die »Brotwissenschaften« beziehungsweise »Brotkünste« ist ein wichtiges Moment des Streits der Fakultäten, in dem vor allem die philosophischen und historisch-philologischen Fächer sich gegen die drei oberen Fakultäten (Theologie, Jurisprudenz und Medizin) durchzusetzen versuchen, indem sie einen emphatischen, an der Zweckfreiheit des Wissens orientierten Forschungsbegriff formulieren.
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Der Übergang von »Aufklärung« zu »Romantik«, auf den Clark vermutlich hinaus will, lässt sich am besten anhand der Lehrpraxis von Kant und Fichte illustrieren: Während Kant in seinen Vorlesungen trotz seiner transzendentalen Wende alle wichtigen Wissensbestände mittels etablierter, das heißt ›vorkritischer‹ Lehrbücher vermittelte, begann Fichte damit, Vorlesungen über sein eigenes »System« zu halten, ohne Lehrbücher als Ausgangspunkt zu wählen (S. 410). An Fichte, der in Jena in hoffnungslos überfüllten Vorlesungssälen dozierte, ließe sich mit Gewinn nachvollziehen, wie der Geniekult den Wissenschaftler zum Teil eines akademischen Starsystems werden lässt, das den Intellektuellen zur ›Ware‹ auf einem ministeriell beobachteten akademischen ›Markt‹ macht.
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Wenn Max Weber in seinem Vortrag über Wissenschaft als Beruf sein adoleszentes Publikum vor die Alternative stellt, als Wissenschaftler entweder ein Unternehmer im akademischen »Betrieb« zu sein oder ein einsamer Berufener, der sich ganz dem »Erlebnis« und »Rausch« des Forschens hingibt, so operiert er mit einer Entgegensetzung von Universität als »Unternehmung« und Universität als Sanktimonium.
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An diese noch in aktuellen wissenschaftspolitischen Reflexionen beanspruchte Entgegensetzung von »Managerin« und »Mönch«
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mag Clark aber nicht mehr recht glauben. Die romantischen Evokationen zurückgezogener Gelehrsamkeit und einsamer intellektueller Größe erweisen sich aus Clarks Perspektive nicht als ein Gegenprogramm zu universitären Bürokratisierungsschüben und Kommodifizierungstendenzen, sondern als Teil eines sich wechselseitig stabilisierenden dynamischen Systems.
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Darstellungsformen
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Die eigens hervorzuhebenden Darstellungsstrategien, derer sich Clark in seiner Studie bedient, sind die Anekdote und die Bildbeschreibung. Gerade der Anekdotenreichtum, dem innerhalb einer wissenschaftshistorischen Prosopographie durchaus auch eine epistemische Funktion zukommt,
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macht die Lektüre von Clarks umfangreichem Buch zu einem kurzweiligen Vergnügen: Erfährt man so doch nebenher von einem Tübinger Theologieprofessor, der eine fünfundzwanzigjährige Vorlesung über das Buch Jesaja hielt (S. 83), von einem Gießener Gelehrten, für den ein Wechsel nach Göttingen 1784 außer Frage stand, weil man in Göttingen hart arbeiten müsse und dort der Rheinwein teurer sei (S. 395), und von einem schlecht vorbereiteten Studenten, der 1639 in Wittenberg auf die Frage, wie man die menschliche Seele bezeichne, umgehend antwortete: »sterblich« (S. 99–102).
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Das vorherrschende rhetorische Instrument der Studie ist eine spielerische Ironie, die aber nicht als Strategie der persönlichen Distanzierung gebraucht wird, sondern als Technik der Verfremdung, die unsere gegenwärtigen akademischen Praktiken in einem neuen Licht erscheinen lässt – so beispielsweise, wenn der Austausch von Doktoranden zwischen Professoren dem Austausch von Frauen in traditionalen Gesellschaften analogisiert wird (S. 225).
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Aus dieser Perspektive überrascht es dann auch nicht, dass Clarks Praxeologie gelegentlich in eine »Paradoxologie«
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umschlägt – etwa wenn er anhand einer Geschichte der »Begehung« die Fährnisse der externen Evaluation akademischer Leistungen beschreibt (Kap. 9); gerade aufgrund ihrer Sensibilität für die Eigenlogik akademischer Praktiken möchte man seine Monographie auch all jenen nahe legen, die gegenwärtig an den nächsten Programmschriften zur Reform der geisteswissenschaftlichen Fächer sitzen.
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Fazit
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Es handelt sich bei Clarks Studie nicht um ein historisches Standardwerk, das den gesamten gegenwärtigen Forschungsstand zur Geschichte der deutschen Universität gültig synthetisieren würde; ein derartiges Standardwerk ist vermutlich ohnehin nur von Autorenkollektiven zu leisten.
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Die von Clark auf makrohistorischer Ebene mit spekulativer Verve gezogenen Entwicklungslinien von der mittelalterlichen cathedra bis zum neuzeitlichen Lehrstuhl können nicht immer überzeugen. Die Stärke von Clarks Geschichte der Forschungsuniversität liegt vielmehr in ihrer praxeologischen Perspektive, deren Aufschlusskraft auf mikrohistorischer Ebene durch die minutiöse Rekonstruktion epistemischer Praktiken belegt wird. Da sich die Überzeugungskraft einer derart verfassten Wissenschaftsgeschichte erst schrittweise, gewissermaßen von einer untersuchten epistemischen Praktik zur nächsten, entfalten kann, ist die Anzahl der untersuchten ›Fälle‹ und damit der Umfang des Buches gerechtfertigt. Dass Clark fast zwei Jahrzehnte an seiner Monographie gearbeitet hat, und damit dem akademischen »publish or perish-Prinzip«, dessen Entstehung im preußischen Raum um 1750 von ihm selbst rekonstruiert wird (S. 254–261),
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hartnäckig widerstanden hat, mag ihm deshalb hoch angerechnet werden: Bücher, die von einem derart langen Atem getragen sind, werden immer seltener geschrieben.
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Es versteht sich nicht von selbst, dass an den heutigen Universitäten sowohl gelehrt als auch geforscht wird: »Die meisten Organisationen der modernen Gesellschaft sind spezifischen Funktionssystemen zugeordnet. Daß Universitäten zugleich zur Forschung und zur Erziehung beitragen sollen, ist eher eine Anomalie.«
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William Clark ist mit Academic Charisma eine durchweg anregende und über weite Strecken überzeugende Genealogie dieser »Anomalie« gelungen.
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