IASLonline

Einhundert Jahre
'Deutsche Texte des Mittelalters'

Geschichte und Gegenwart der
altgermanistischen Editionsphilologie

  • Martin J. Schubert (Hg.): Deutsche Texte des Mittelalters zwischen Handschriftennähe und Rekonstruktion. Berliner Fachtagung 1.-3. April 2004. (Beihefte zu editio 23) Tübingen: Max Niemeyer 2005. VI, 330 S. 25 s/w Abb. Kartoniert. EUR (D) 112,00.
    ISBN: 3-484-29523-6.
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Der Band enthält die Beiträge einer Tagung, die vom 1.-3. April 2004 in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von der Arbeitsstelle Deutsche Texte des Mittelalters (DTM) aus Anlaß ihres 100jährigen Jubiläums veranstaltet wurde. Die Tagung wurde von etwa 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmern besucht, was nicht nur den wiedergewonnenen Stellenwert der DTM als editionswissenschaftliches Leitforum dokumentiert, sondern, wie der Herausgeber Martin J. Schubert im Vorwort erklärt, zugleich die Notwendigkeit einer aktualisierten Diskussion über die komplexen Probleme des Edierens mittelalterlicher deutscher Texte zeigt. Die letzte vergleichbare Veranstaltung fand im Jahr 1991 statt, so daß es – auch vor dem Hintergrund sich wandelnder medialer Möglichkeiten – geraten erschien, eine neue Standortbestimmung zu versuchen.

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Hervorgehoben sei, daß die Tagung, aus der dieser Band hervorgegangen ist, zu den m. E. ertragreichsten altgermanistischen Großveranstaltungen der letzten Jahre gehörte. In den Vorträgen und Diskussionen artikulierte sich ein über den Anlaß weit hinausgehendes Interesse am Thema, eine Sorge um das zukünftige verantwortungsvolle Handeln des Editors und um die reflektierte Sicherung wissenschaftlicher Ergebnisse. Dieses besondere Engagement der Beteiligten zeigt sich nun auch in den zügig (aber ohne Register) vorgelegten Tagungsakten.

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Fünfmal Grundsätzliches

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Der Band wird eröffnet von fünf Hauptvorträgen unterschiedlicher Ausrichtung, und er beginnt mit einem Rückblick: mit Karl Stackmanns Beitrag »Der Takt, die besonderen Neigungen und Überlegungen des Herausgebers« (S. 7–20), der sich mit dem ursprünglichen Konzept Gustav Roethes für die DTM befaßt. Ein möglicher Titel wäre auch gewesen »Am Anfang stand die Insubordination«, denn Stackmann verdeutlicht, wie sich die DTM unter behutsamem Zutun ihrer Leitung und ihrer Mitarbeiter von der ursprünglichen Planung der Berliner Akademie entfernte, die zunächst vor allem eine umfangreiche Quellenbasis für grammatisch-sprachgeschichtliche und lexikographische Zukunftsaufgaben vorsah. »Von einer solchen Akzentsetzung«, so Stackmann, »kann bei den Projekten der Kommission wahrlich nicht die Rede sein« (S. 10). Die Reihe entwickelte sich stattdessen zu einem (auch) experimentellen Forum des Edierens verschiedenartiger Texte in durchaus variierenden Präsentationsformen. Als solches hat sie zweifellos bis heute eine starke Wirkung entfaltet. Stackmann plädiert dann auch nachhaltig für offene Lösungen, dafür, daß »Takt, Neigungen und Überlegungen des Herausgebers«, basierend auf Kenntnis der Überlieferung, »das letzte Wort haben, selbst wenn ihn das nötigen würde, gegen dieses oder jenes gerade aktuelle Interesse zu verstoßen« (S. 20). Stackmanns Ausführungen werden ergänzt durch eine institutionengeschichtliche Dokumentation von Martin J. Schubert (»Die Deutschen Texte des Mittelalters und das Handschriftenarchiv seit 1904«, S. 297–310).

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Einen Überblick über »Paläographie und Kodikologie als Eingang zur Literatur des Mittelalters« präsentiert Karin Schneider (S. 21–33). An aktuellen Beispielen demonstriert sie, wie die unmittelbar materialbezogene Praxis von Paläographen und Kodikologen zu neuen literaturwissenschaftlichen Erkenntnissen führt. Überdies weist sie mit Nachdruck auf die Notwendigkeit umsichtiger Interdisziplinarität gerade in diesem Kernbereich germanistischen Arbeitens hin, z.B. auf die Relevanz kunstgeschichtlicher Betrachtungsweisen und auf das Vorhandensein archivalischer Quellen, die insbesondere für das (gelegentlich zu leichtfertig praktizierte) Datieren von Handschriften nach paläographischen Kriterien oftmals reichhaltigeres Vergleichsmaterial bereitstellen als die ›literarische‹ Überlieferung.

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Hans-Jochen Schiewer setzt sich mit dem in den vergangenen Jahren intensiv diskutierten Thema »Fassung, Bearbeitung, Version und Edition« auseinander (S. 35–50). Dieser vielschichtige Beitrag ist in ein paar Zeilen kaum angemessen zu würdigen. Unabhängig von Schiewers Ausführungen zu begrifflich-methodischen Fragen nach Fassungen usw. erscheinen mir indes einige seiner Überlegungen als problematisch. Dazu gehört vor allem, daß Schiewer einerseits, versteckt unter den Schlagworten der »›überlieferungsgeschichtlichen Relevanz‹ und der ›literaturgeschichtlichen Relevanz‹« (S. 41), eine geradezu divinatorische Editorik im Lachmannschen Geiste einfordert. Andererseits erkennt er aus der Analyse der Überlieferung des Armen Heinrich Hartmanns von Aue die »editorische Konsequenz«, daß »die mögliche Ungleichzeitigkeit des Gleichwertigen durch Parallelführung der Texte zum Ausdruck gebracht wird« (S. 47) – er plädiert also wohl, wenn man es konkret zu formulieren versucht, für synoptische Handschriftenabdrucke, die letzten Endes dem Leser die Entscheidung überlassen, welchen Text er für ›literaturgeschichtlich relevanter‹ hält. Schiewer nennt diese Abschiebung der Verantwortung vom Editor auf den Rezipienten die »Aufgabe literaturwissenschaftlicher Arbeit am polyphonen Text« (ebd.), als seien Editoren und Literaturwissenschaftler in der wissenschaftlichen Praxis immer streng getrennte Spezies.

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Skeptisch beurteile ich auch die Schlußfolgerung, »dass wir uns in der Regel nicht mehr mit dem einen Text eines Werkes zufriedengeben können und dass wir andererseits nicht alle Texte eines Werkes haben und kennen wollen« (S. 50). Warum dieses? Die Aussage mag vielleicht auf Einzelfälle zutreffen, kann aber sicher keine allgemeine Geltung beanspruchen. Sie steht überdies diametral der von Stackmann und anderen in diesem Band geforderten grundsätzlichen Offenheit editorischer Entscheidungen entgegen. Akzeptierte man Schiewers Position als Grundlage editorischen Arbeitens, so würde man sich und anderen den Zugang zum Text eher verstellen als öffnen. Der Beitrag reizt mithin zum Widerspruch, erscheint aber gerade deshalb auch geeignet, weiterführende Diskussionen anzuregen. 1

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Die von Schiewer beklagten Zufälle der Überlieferung sind, in anderer Form, auch ein Thema von Georg Steers Beitrag »Überlieferungsgerechte Edition« (S. 51–65). Auf der Basis seiner jahrzehntelangen herausgeberischen Tätigkeit am Predigtwerk Meister Eckharts, an der Rechtssumme Bruder Bertholds, am Deutschen Lucidarius und an Konrads von Megenberg Buch der Natur erläutert Steer einige grundsätzliche Bedingungen des Edierens. Dazu gehört zum einen selbstverständlich die Abhängigkeit vom Überlieferten, aber auch die Gefahr, die schon ein einziger Handschriftenfund für alle vorab getroffenen editorischen Entscheidungen darstellen kann; zum anderen verdeutlicht Steer, wie nur die genaue Kenntnis der Überlieferung – wie abundant oder prekär auch immer sie sich darstellen mag – zur ›überlieferungsgerechten Edition‹ führt, die geeignet ist, »die historische Lebendigkeit der Texte, wie sie die Handschriften bewahren« (S. 65), zu sichern. Dabei läßt sich die eher beiläufige Bemerkung, es sei »nicht Aufgabe der Edition, das Verhältnis des Textes zu seinem Autor zu klären; wohl aber ist es ihre Aufgabe, die Texte als überlieferte, d. h. in ihrer historischen Existenzform so darzubieten, dass dieses Verhältnis bestmöglich geklärt werden kann« (S. 61), durchaus als explizite Gegenposition etwa zu Schiewers Äußerungen lesen.

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Im fünften Grundsatzreferat geht es um »Die Altdeutsche Textbibliothek« (S. 67–93), deren aktueller Herausgeber Christian Kiening die Geschichte dieses neben den DTM zweiten editorischen Grundpfeilers der Altgermanistik beschreibt. Die ATB war, so läßt sich Kienings Schilderung zusammenfassen, im Verlauf ihrer bald 130jährigen Geschichte immer ein Spiegel aktueller Entwicklungen des Fachs und will dies auch in Zukunft sein: Sie wird weiterhin, gegen die stärker werdende zweisprachige oder gar nur Übersetzungen bietende Konkurrenz, Klassikerausgaben im Original für das Studium präsentieren, aber auch Texte vorhalten, »die wenig im Seminar gelesen werden, und gelegentlich auch solche, die vor allem der Forschung dienen. Nur diese Mischung hält […] dem Anspruch stand, wissenschaftliche Erkenntnis sowohl zu vermehren wie zu vermitteln« (S. 93). Es bleibt zu hoffen, daß der auch auf einer so etablierten Reihe lastende merkantile Druck dem bewährten Konzept kein vorzeitiges Ende setzt.

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Einzelstudien: Jeder Fall ein Sonderfall

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Neun Beiträge widmen sich den vielen Sonderfällen, mit denen sich Herausgeber und Projektträger zur Zeit konfrontiert sehen, und den individuellen editorischen und darstellerischen Lösungen, zu denen sie gekommen sind oder voraussichtlich kommen werden. Diese informative Reihe von Einzelstudien vermittelt mehr als jede abstrakte Methodendiskussion Einblicke in die Vielgestalt und die Probleme aktueller altgermanistischer Editionstätigkeit (im weitesten Sinne).

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Vor dem Hintergrund der komplexen Wechselbeziehungen zwischen Latein und Deutsch in der Karolingerzeit untersucht Wolfgang Haubrichs, »Die Edition althochdeutscher (theodisker) Texte zwischen Überlieferungstreue und Rekonstruktion« (S. 95–117), die unterschiedlichen Überlieferungstypen im Althochdeutschen und zeigt editorische Konsequenzen auf. Er unterscheidet folgende Typen: 1. Althochdeutsche Texte als Haupttexte einer Handschrift in »textautonome[r] Überlieferung« (S. 99). 2. »Korrelierte Überlieferung« (ebd.), also deutsche Texte in Vergesellschaftung mit lateinischen, entweder eingebettet in ein Textensemble – wobei das lateinische Umfeld in Editionen häufig ausgeblendet wird – oder als »limitane Überlieferung« (S. 103) auf Rändern und/oder freigebliebenen Blatträumen. 3. Eine Überlieferungsform, die in den letzten Jahren verstärkte Beachtung gefunden hat, ist die »Kopräsenz zweisprachiger Textensembles« (ebd., eine Prägung von Nikolaus Henkel aufnehmend). Gemeint sind Glossen und andere subordinierte Texte sowie Interlinearversionen. Haubrichs fordert die »Ko-Edition von Haupttext und sowohl lateinischer als auch volkssprachiger Glossierung« (S. 105), erwägt auch das Faksimile als im Prinzip einzig textgerechte (und sicher am wenigsten aufwendige) ›Edition‹ und stellt die Mindestbedingung auf, daß die Lebens- und Handlungszusammenhänge etwa von Interlinearversionen vom Editor mitreflektiert werden sollten. Am Schluß stehen als Beispiele einer editorischen Extremherausforderung ein diplomatischer Abdruck, ein korrigierter Text und eine Rekonstruktion von Teilen des Georgslieds.

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Ricarda Bauschke, »Die Edition von Herborts von Fritzlar Liet von Troye. Vorüberlegungen zum Projekt einer Neuausgabe« (S. 119–131), kündigt eine kritische Edition dieses Versromans aus klassischer Zeit an. Bisher liegt ein diplomatischer Abdruck aus dem Jahr 1837 vor, den Bauschke als gescheitertes Experiment ansieht. Sie diskutiert vor allem den vertretbaren Grad einer (von ihr gewollten) schreibsprachlichen Normalisierung der Neuausgabe. Die einzige vollständige Handschrift, mehr als ein Jahrhundert nach Herborts Lebenszeit entstanden, bietet keinen schreibsprachlich autornahen Text; drei ältere Fragmente, die auf die Existenz einer Lang- und einer Kurzfassung hindeuten und Schlüsse auf die originale Sprachstufe ermöglichen, ergänzen die spärliche Überlieferung. Da Bauschke das Liet von Troye aus einem vermeintlichen Dornröschenschlaf erlösen und eine »operationalisierbare Grundlage für den Literaturwissenschaftler« (S. 125) schaffen möchte, plädiert sie trotz erkennbarer Legitimierungsprobleme für eine normalisierte Ausgabe; vor allem sorgt sie sich um das »heterogene Erscheinungsbild« einer überlieferungsgerechten Textdarstellung, welches »die Lektüre stören« könnte (S. 128), und bezweifelt die Brauchbarkeit einer überlieferungsnahen Edition für den akademischen Unterricht.

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Ob Autoren wie Herbort in absehbarer Zeit dort überhaupt noch einen Platz haben werden, sei dahingestellt. Bauschkes Begründung ihres Editionskonzepts scheint mir insgesamt aber stark auf Hilfsargumente und Faktoren von nachgeordneter Bedeutung angewiesen zu sein. Sie schließt mit dem Satz: »Editorische Experimente […] dürfte Herbort kaum mehr vertragen« (S. 131). Doch genau ein solches, kaum mehr zeitgemäß erscheinendes Experiment hat sie eigentlich vor. Das Liet von Troye wäre vielmehr ein guter Kandidat für ein (womöglich digitales) Faksimile. Dessen konkret benennbarer Wert läge in der tatsächlichen ›Operationalisierbarkeit‹ für paläographische, kodikologische und sprachgeschichtliche Untersuchungen, wodurch dem Text ein Platz in zentralen altgermanistischen Tätigkeitsfeldern zugewiesen werden könnte.

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Thomas Bein (»Walther edieren – zwischen Handschriftennähe und Rekonstruktion«, S. 133–142) erläutert knapp und präzise die vorliegenden und zu erwartenden Ausgaben der Lieder und Sprüche Walthers von der Vogelweide. Nach der Diskussion der von der Walther-Philologie eingeschlagenen editorischen Lösungswege der letzten beiden Jahrhunderte fordert er eine neue, mehrstufige und dokumentarisch ausgerichtete Form der Autor-Edition, die diverse Rezeptionsangebote umfaßt: eine ›hybride‹ digitale Präsentation für die Forschung, eine ›papierene‹ für die Lehre. Ähnlich wie Schubert (s.u.) verlangt er, daß die Dokumentation verschiedener editorischer Schritte »den Benutzer geradezu nötigen muss, über die Gründe für […] weitreichende Textdifferenzen nachzudenken« (S. 142). Der Beitrag ist ebenso auf die spezielle Waltherproblematik wie auf allgemeinere Probleme orientiert und daher auch als Einführung für Anfänger durchaus zu empfehlen.

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Franz-Josef Holznagel stellt »Vorüberlegungen zu einer neuen Freidank-Ausgabe« an (S. 159–172), die nicht aus einem Editionsprojekt, sondern aus literarhistorisch-überlieferungsgeschichtlichen Studien zur Vergesellschaftung von Freidank-Texten und kleinen Reimpaardichtungen erwachsen sind. Ähnlich wie Bein argumentiert er für eine an der Komplexität der instabilen Freidank-Überlieferung orientierte elektronische Darstellungsform, für den synoptischen Abdruck wichtiger Textzeugen und für eine übersetzte und kommentierte Edition für den akademischen Unterricht, die sich an der überlieferungsgeschichtlich dokumentierten Leitfassung auszurichten habe.

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Dem im Rahmen dieses Bandes wohl schwierigsten Gegenstand widmen sich Beate Kellner und Peter Strohschneider: »Wartburgkriege. Eine Projektbeschreibung« (S. 173–202). Sie bieten wissenschafts- wie editionstheoretisch fundierte Überlegungen zu einer Neuausgabe der über drei Jahrhunderte hinweg in stark varianten Versionen überlieferten, inhaltlich und textkritisch überaus komplexen Wartburgkrieg-Dichtungen (im Anhang zwei Editions- und Kommentarproben). Zwei Abschnitte widmen sich Fragen der Textkonstitution und behandeln das Fassungsproblem einerseits, die Corpus-Einrichtung andererseits; ein wichtiger Abschnitt erläutert die Prinzipien der Kommentararbeit und die Anforderungen an die vorab zu leistende Interpretation. Das editorische Ziel ist eine pragmatisch-überlieferungsnahe Synopse der drei wichtigsten Handschriften, die durch einen fünfschichtigen Kommentar erklärt und erschlossen wird. Die Edition soll, darin folgen die Autoren dem Tenor anderer Beiträge, nicht mehr und nicht weniger als einen »Arbeitsstand in einem hermeneutisch-zirkulären Prozess« (S. 197) dokumentieren.

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Der methodisch reflektierte und unterhaltsam zu lesende Beitrag »Ideal und Pragmatik. Entscheidungsspielräume des Editors« von Martin J. Schubert (S. 203–216) behandelt die schon am Beispiel Gustav Roethes belegbare, notwendige Positionierung jedes Editors zwischen dem »aufgegebene[n] Ideal des rekonstruierbaren Urtextes« (S. 205) und dem von Sachzwängen und Aporien geprägten, letztlich aber sowohl in den großen Entscheidungen wie in sachlichen Details zumeist gut begründbaren Pragmatismus der modernen Editionsphilologie, der allein eine zufriedenstellende Einlösung der Arbeitsziele verspricht. Erläutert wird dies an zwei aktuellen DTM-Projekten, dem Elisabethleben des Johannes Rothe (inzwischen erschienen) und dem Passional. An diesen Beispielen werden zunächst die Arbeitsschritte ›Bestimmung der Textgrenzen‹, ›Wahl der Leithandschrift‹, ›Lösung von der Handschrift‹ und ›Zurückhaltende Korrektur‹ erläutert; Schuberts Ausführungen enden mit der Betonung des in der Editorik stets eingeforderten, aber nicht immer beachteten Prinzips der ›systematischen Irritation‹ des Lesers, die das Ziel verfolgt, »die durchaus irritierende Brüchigkeit des vorgelegten Textes […] deutlich zu machen« (S. 216).

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Volker Honemann und Gunhild Roth (»Mittelalterliche Autographen und Textgenese. Am Beispiel von Peter Eschenloers Geschichte der Stadt Breslau«, S. 217–236) dokumentieren mit instruktiven Beispielen die Überlieferungstypen lateinischer und deutscher Autographe 2 von den Anfängen bis ins 15. Jahrhundert. Eine überraschende Erkenntnis ist, daß Autographe im Hinblick auf ihre kodikologische Einrichtung sowie ihre paläographische und inhaltliche Qualität keineswegs immer höher einzuschätzen sind als professionell gefertigte Abschriften. Gefordert und in Umrissen skizziert wird auch ein Instrumentarium zum Erkennen von Autographen. Dessen Anwendung demonstrieren Honemann / Roth am Beispiel des Breslauer Stadtschreibers Peter Eschenloer, dessen eigenhändige Einträge und Korrekturen in einer nicht von ihm selbst geschriebenen Handschrift seiner Stadtchronik geradezu die gesellschaftliche Brisanz autographer Aufzeichnungen dokumentieren. Im Anhang ein »Verzeichnis mittelalterlicher deutscher Autoren, von denen Werke autographisch überliefert sind« (S. 229 f.). 3

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Klaus Ridder, Martin Przybilski und Martina Schuler planen eine »Neuedition und Kommentierung der vorreformatorischen Nürnberger Fastnachtspiele« (S. 237–256). Ziel dieser kritischen Ausgabe einer editorisch vernachlässigten Gattung soll es sein, unter Berücksichtigung ihrer spezifischen Offenheit eine neue Textbasis zu schaffen, die »modernen editorischen Standards genügt und zugleich die neuen technischen Zugangs- und Auswertungsmöglichkeiten digitaler Texte einbezieht« (S. 241). Die variablen Überlieferungsformen und die die Gattung konstituierende, komplexe Intertextualität erzwingen geradezu ein Nebeneinander verschiedener Editionsformen, d.h. eine Ausgabe, die nicht nur in Buchform zitable Texte bietet, sondern darüber hinaus die vielfältigen Möglichkeiten des elektronischen Edierens nutzt. Diese zweigliedrige Edition wird vom Autorenteam angekündigt. Leider wird noch kein konkretes Beispiel für das Aussehen eines elektronischen Fastnachtsspiel-Textes vorgelegt; 4 der Anhang bietet aber ein qualitätvolles Editionsbeispiel, das einen erheblichen literaturwissenschaftlichen Erkenntniszugewinn durch die zukünftige Ausgabe erwarten läßt (Meister Uncian, S. 248–256).

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Rudolf Bentzinger bereitet eine DTM-Edition der sog. Erfurter Historienbibel nach den Handschriften Erfurt, UB, Dep. Erf. CE 2o 14, und Halle, ULB, Stolb.-Wern. Zb 8, vor (zwei weitere Codices gelten seit 1945 als verloren). Auf der Basis eines Textvergleichs und unter Heranziehung der neben der Vulgata wichtigsten Quelle, der Historia scholastica des Petrus Comestor, dokumentiert Bentzinger in seinem Beitrag »Historienbibeln als Gebrauchsliteratur« (S. 269–285) einige Varianzmerkmale der beiden Überlieferungsträger. Deren mikrostrukturelle Abweichungen voneinander seien, so Bentzinger, auf unterschiedliche (intendierte) Rezipientenkreise zurückzuführen: Im Fall der Erfurter Handschrift handele es sich um städtische Patrizier, der Hallenser Codex soll hingegen für Mönche angefertigt worden sein, da er einen Besitzeintrag des Erfurter Benediktinerklosters St. Peter trägt.

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Bentzingers Schlußfolgerung, die Hallenser Handschrift habe ihren Sitz im Leben im monastischen Gebrauchsraum, genauer bei den Tischlesungen in St. Peter gehabt, woraus sich Erweiterungen und lexikalische Varianten gegenüber dem ›patrizischen‹ Text der Erfurter Handschrift erklären ließen, ist indes mit ziemlicher Sicherheit unzutreffend. Denn zum einen gab es in Benediktinerklöstern in aller Regel – jedenfalls für die Mönche – keine volkssprachige Tischlesung, und wenn Biblisches gelesen werden sollte, war die Vulgata die Textgrundlage. 5 Zum anderen aber wäre, etwa durch Schriftvergleich, zuerst der Nachweis zu führen, daß die um 1430 zu datierende Handschrift tatsächlich in und für St. Peter geschrieben wurde und nicht etwa als spätere Stiftung dorthin gelangte, z.B. nach Anschluß des Klosters an die Bursfelder Reform. Dieser Nachweis fehlt und damit zugleich eine tragfähige Basis für variantenanalytische Untersuchungen, die zu einem literatursoziologisch verwertbaren Ergebnis führen könnten.

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Lexikographisches

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Zwei Beiträge befassen sich mit lexikographischen Problemen: Kurt Gärtner (»Zur lexikographischen Erschließung einer Edition durch den Editor«, S. 257–268) plädiert entschieden für die weitere editorische Erarbeitung und Beigabe von Wörterbüchern bzw. Glossaren und dokumentiert den dadurch zu erzielenden Mehrwert anhand der DTM-Ausgaben, welche »die umfangreichsten Beiträge zum neuen mittelhochdeutschen Wörterbuch geliefert« hätten (S. 268). Dagmar Neuendorff, »Autorenwörterbuch oder Glossare zu Teilsammlungen? Zur Lexikographie deutscher Predigten Bertholds von Regensburg« (S. 287–295), zeigt als einziger Beitrag des Bandes leider kaum eine Perspektive auf.

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Aktuelle und zukünftige Angebote der neuen Medien

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Zum Edieren mittelhochdeutscher Texte und zur Arbeit mit diesen gehört inzwischen die elektronische Präsentation der Ergebnisse bzw. die Kenntnis der Recherchemöglichkeiten im Internet. Vier Beiträge befassen sich explizit mit neueren elektronischen Angeboten, aber auch in anderen Aufsätzen werden, wie bereits gesehen, Perspektiven von Datenbanken und Online-Editionen diskutiert. Man muß kein Prophet sein, um zu ahnen, daß wir diesem Bereich zukünftig eine noch wesentlich größere Aufmerksamkeit als bisher zuwenden werden, auch wenn Kenntnisstand und Wille, sich mit den Möglichkeiten und Grenzen der neuen Medien auseinanderzusetzen, unterschiedlich ausgeprägt sind; im vorliegenden Band werden überdies auch berechtigte Warnungen und Kritik an überoptimistischen Prognosen vorgebracht.

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Ein bereits etabliertes Projekt präsentiert Michael Stolz: »Texte des Mittelalters im Zeitalter der elektronischen Reproduzierbarkeit. Erfahrungen und Perspektiven« (S. 143–158). Ausgangspunkt ist die seit 2003 als CD-ROM vorliegende elektronische Parzival-Edition nach der berühmten St. Galler Handschrift Cod. 857. Aufgrund der Erfahrungen mit dieser Edition skizziert Stolz die »eigenwillige Auswirkung« (S. 153), die die Beschäftigung mit dem Sangallensis auf die weitere Arbeit des Projekts hatte: Man kam nach gründlicher Analyse »von der am St. Galler Codex als Basistext orientierten Editionsform ab« (S. 153 f.) und gelangte zu einem online realisierbaren Paralleltext-Konzept, dem es vorrangig »um die möglichst präzise Dokumentation von überlieferungsgeschichtlich greifbaren Textzuständen« (S. 154) zu tun ist, ähnlich wie auch hier von Steer und anderen gefordert. Erkenntnisziel und alleinige Bezugsgröße des Editors ist demnach »nicht ein überlieferungsgeschichtlich unerreichbarer Autortext, sondern der handschriftliche Befund« (S. 158).

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Die abschließenden Kurzbeiträge bieten einführende Anleitungen für existierende Online-Angebote. Ute Recker-Hamm stellt »Das Digitale Mittelhochdeutsche Textarchiv« vor, eine »Sammlung mittelhochdeutscher Texte im Internet, die auf wissenschaftlichen Standardausgaben beruhen und philologisch zuverlässig sind« (S. 311–315, zit. S. 311). 6 Margarethe Springeth erklärt, wie man »Auf der Suche nach Begriffen und Motiven. Die Mittelhochdeutsche Begriffsdatenbank (MHDBDB) an der Universität Salzburg« benutzen kann (S. 317–323). 7

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Jürgen Wolf schließlich erläutert das »Handschriftenarchiv online« (S. 325–328). 8 Dabei handelt es sich um die kontinuierlich erweiterte Internet-Präsentation der zwischen 1904 und 1944 im Auftrag der Berliner Akademie angefertigten, in Zettelmanuskripten erhaltenen Beschreibungen von fast 20.000 überwiegend deutschsprachigen Handschriften des Mittelalters und der frühen Neuzeit – eine geradezu legendäre Fundgrube, die nun endlich als philologisch-wissenschaftsgeschichtliches Arbeitsinstrument erschlossen wird und bereits jetzt unverzichtbar z.B. für die überlieferungs- und die regionalgeschichtlich ausgerichtete Altgermanistik geworden ist.

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Fazit

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Als wichtigste Erträge der im Vorwort mit Recht als ›intensiv und ergebnisreich‹ bezeichneten Tagungsdiskussionen – und man kann ergänzen: auch dieses Bandes – sind zwei Forderungen und eine Erkenntnis festzuhalten. Gefordert wird erstens »die Solidität philologischer Arbeit« (S. 4), was keineswegs selbstverständlich oder übertrieben erscheint; zweitens die Öffnung der Edition (und des Editors) zum Publikum, etwa durch Kommentar und Übersetzung. Drittens wird die Erkenntnis formuliert: »Die Nutzung der elektronischen Medien wurde allgemein als hilfreich angesehen, aber nicht zum editorischen Allheilmittel verklärt« (S. 5), vgl. auch Schuberts Äußerung S. 215, wo die »Erlösungsverheißungen vernetzter elektronischer Ressourcen« für »obsolet« erklärt werden, »denn der Leser benötigt den linearen Text«. Dem ist eigentlich nur hinzuzufügen, daß die Perspektive des Bandes über editorische Fragen hinausreicht, auch wenn deutlich wird, daß den Beiträgerinnen und Beiträgern das Edieren weiterhin als Königsdisziplin der Philologie gilt.

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Wollte man eine quantitative Bewertung zu dem im Titel apostrophierten Gegensatzpaar »Handschriftennähe und Rekonstruktion« abgeben, so zeigen sich die handschriftennah operierenden Editoren derzeit klar in der Überzahl. Rekonstruktion ist eine offenbar nur noch in genau zu begründenden Sonderfällen als legitim betrachtete Option. Doch zeigt fast jeder Beitrag, daß es viele Mittelwege gibt, und daß es zwar zumeist nicht einfacher, aber oft geraten ist, einen solchen einzuschlagen. Die vielfältigen methodischen Einsichten und die thematisch breit gefächerten, aber strukturell immer wieder aufeinander beziehbaren Perspektiven der 21 Beiträge dokumentieren überdies einen erfreulich offenen Stand der Diskussion; harte ›Schulbildungen‹, stur durchgezogene Sonderwege und schroffe Abgrenzungen zwischen der einen und der anderen Editions- und Erschließungsmethode scheinen zur Zeit die Ausnahme zu sein. Nun bleibt abzuwarten, ob die facettenreiche Diskussion in den vielen hier angekündigten Editionen einen angemessenen Niederschlag findet.

 
 

Anmerkungen

Auch die von Schiewer eingangs geäußerte Kritik an der »theoriefernen überlieferungsgeschichtlichen Methode« (S. 35) halte ich für unberechtigt. Er wirft ihr vor, daß ihre »fundamentalen Ergebnisse und Konsequenzen für den mittelalterlichen Literaturbegriff und für das Verständnis mittelalterlicher Textualität […] von der romanischen und angelsächsischen Forschung kaum zur Kenntnis genommen« worden seien (S. 36). Das mag stimmen, aber man fragt sich, wessen Defizite sich denn in solcher Mißachtung offenbaren, für die auch die andersartige Wissenschaftsorganisation etwa in den USA verantwortlich sein mag, die einer Installation zeit- und mittelaufwendiger Projekte, wie sie für die überlieferungsgeschichtliche Forschung typisch und unabdingbar sind, nicht gerade entgegenkommt. Es erscheint mir aber unangemessen, die überlieferungsgeschichtliche Forschung zu tadeln, die sogenannte New Philology jedoch zu preisen, die viele ihrer vermeintlich neuen theoretischen Einsichten in den angeblich bloß »praxisnahen« (S. 35) Arbeiten der deutschen Altgermanistik hätte vorgeprägt sehen können – wenn sie sie denn rezipiert hätte. Dem war aber nicht so. Und inzwischen spielt die New Philology aber wohl in der internationalen Diskussion auch schon kaum mehr eine Rolle.   zurück
Zum eingebürgerten, aber regelwidrigen Plural »Autographen« vgl. die aktuelle Publikation von Eckart Henning: Eigenhändig. Grundzüge einer Autographenkunde. Berlin: J. A. Stargardt 2006, S. 7.   zurück
Vgl. dazu auch die Autographen-Datenbank: http://www.uni-muenster.de/fruehmittelalter/projekte/autographen/datenbank.html. In noch nicht kritisch gesichteten und katalogisierten Beständen lassen sich zweifellos über die hier verzeichneten Bestände hinaus weitere Funde machen. So besitzt etwa die Forschungsbibliothek Gotha wenigstens vier deutschsprachige autographe Handschriften des frühen 16. Jahrhunderts, die in der (leider seit dem Jahr 2000 nicht aktualisierten) Datenbank noch fehlen: Chart. A 585 und Chart. A 586 (Dietrich von Plieningen), Chart. B 437 (Veit Warbeck), Chart. B 1693 (Hans von Sternberg).   zurück
Auch wird keine Internetadresse des Projekts mitgeteilt; wenige Informationen unter http://www.uni-tuebingen.de/Lehrstuhl-Ridder/Ridder/Forschung_EditionsPr.htm.   zurück
Zu den Lektüregepflogenheiten im Kloster vgl. Barbara Frank: Das Erfurter Peterskloster im 15. Jahrhundert. Studien zur Geschichte der Klosterreform und der Bursfelder Union. (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 34 = Studien zur Germania Sacra 11) Göttingen 1973, S. 99–101. In den späteren Reformstatuten wird lediglich die volkssprachige (mündliche) Erläuterung der Ordensregel erwähnt, vgl. ebd., S. 370.   zurück
URL: http://www.mhgta.uni-trier.de (letzte Fassung vom 22.11.2004, diese und alle anderen zitierten URL zuletzt von mir benutzt am 18.11.2006).   zurück