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Kultur als Mehrwert

Überlegungen zum methodologischen Potential kulturwissenschaftlicher Theoreme für die literaturwissenschaftliche Analyse

  • Franziska Schößler: Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft. Eine Einführung. (UTB 2765) Tübingen: Francke 2006. 283 S. Kartoniert. EUR (D) 19,90.
    ISBN: 3-8252-2765-0.
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Einleitung

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Die Legitimationskrisen der Geisteswissenschaften fallen jeweils auffällig zusammen mit Phasen verstärkter Autorität der Zweckrationalität, in denen nach dem Praxisbezug der Wissenschaften gefragt wird, ihre Dienste für politische, soziale und ökonomische Ansprüche geprüft und ihre Anwendungsorientierungen diskutiert werden. 1
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Die Hellsichtigkeit der Denkschrift Geisteswissenschaften heute lässt sich insbesondere an diesem Satz ablesen, dessen Wahrheitsgehalt im Jahre sieben nach Bologna niemand mehr bestreiten wird. So haben die vom Bologna-Prozess im wahrsten Sinne des Wortes ›kafkaesk‹ verhafteten Geisteswissenschaften in den letzten Jahren die Flucht in eine durchaus fragwürdige Moderne angetreten und ihr ergrautes Antlitz in den diversen Spielarten der Kultur- und Medienwissenschaften zu verjüngen versucht.

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Auf diese Weise konnte die traditionelle Unschärfe politischer Leitkategorien (allen voran: ›Globalisierung‹) in den Mainstream von Kultur und Medien transformiert werden, um von hier aus Georg Bollenbecks These, derzufolge sich gerade in Deutschland Bildung im Medium von Kultur vollzieht, 2 endlich im global village ankommen zu lassen: Erst der die Nationalgrenzen auf charakteristische Weise transzendierende Blick der Kulturwissenschaften kann das globale Präventivprogramm bereitstellen, das die Kollateralschäden einer technologisch entfesselten Moderne nicht nur aufdeckt, sondern auch kompensiert. Dies gelingt, indem der Begriff ›Kultur‹ nun ohne Genitivattribut auftritt und damit in die Reihe absolut gebrauchter Termini einrückt, und ebenso wie die Kollektivbegriffe ›Geschichte‹ oder ›Natur‹ universalisiert werden kann. Absolute Begriffe sind sie deshalb, »weil ihre Extension alles zu umfassen sucht und weil sie damit alle Gegenbegriffe integrieren«. 3 Dieser Verlust an Trennschärfe ist freilich ein hoher Preis, sodass die Kärrnerarbeit in den neugegründeten Kulturwissenschaftlichen Instituten und Fakultäten darin besteht – freilich unter der Hand – die disziplinären Grenzen als beobachtungsleitende Unterscheidungen wieder einzuziehen. Anders formuliert: Ohne disziplinäres Verfügungswissen ist kulturwissenschaftliches Orientierungswissen nicht zu haben.

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Damit ist zugleich die Frage nach der Reichweite des kulturwissenschaftlichen Paradigmas aufgeworfen und das Feld eröffnet, auf dem die Trierer Literaturwissenschaftlerin Franziska Schößler mit ihrem neuen Buch Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft einen nicht zu unterschätzenden Anteil eben jener Kärrnerarbeit für die Literaturwissenschaften verrichtet hat. Stimmt man ihrer Einschätzung zu, nach der sich aus der Perspektive der Philologien eine Tendenz abzeichnet, kulturwissenschaftliche Themenstellungen zu integrieren und mit bestehenden methodologischen Verfahren zu vernetzen (S. IX), so ergibt sich die Frage nach den Konstitutionsbedingungen einer literaturwissenschaftlichen Kulturwissenschaft. Wenn die kulturwissenschaftliche Ausweitung des philologischen Gegenstandsbereichs auf der einen Seite bedeutet, dass auf der anderen Seite ausdifferenzierte Lektürepraktiken voreilig verspielt werden, so wäre dieser Preis mit Sicherheit zu hoch.

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Die Verfasserin schlägt daher einen anderen Weg ein, indem sie fragt, auf welche Weise eben jene Lektürepraktiken von kulturwissenschaftlichen Fragestellungen profitieren. Der zentrale Fokus ihrer Überlegung liegt somit darin, »das methodologische Potenzial der kulturwissenschaftlichen Theoreme für die literaturwissenschaftliche Analyse auszuloten« (S. X). Durch diese konsequent methodologische Perspektive hebt sich der als Einführung konzipierte Band erfreulich von der Masse kulturwissenschaftlicher Einführungen ab. Dass Schößler die vorgestellten Theoriemodelle zudem noch durch konkrete Lektüren ergänzt, den Gewinn des kulturwissenschaftlichen Paradigmas für die philologische Praxis also nicht nur behauptet, sondern auch vorführt, darin liegt sicher eine der größten Stärken dieses Bandes.

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Zum Aufbau des Buches

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Das Buch gliedert sich in zwei Hauptkapitel, denen Bibliographie, Glossar sowie Personen- und Sachregister folgen. In allen Kapiteln werden in farblich abgesetzten Textboxen bio-bibliographische Hintergrundinformationen der für die einzelnen Ansätze zentralen Personen bereitgestellt.

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Das erste Hauptkapitel, »Historische Kulturtheorien«, stellt in drei Unterkapiteln zunächst die »Kulturphilosophie und Kulturwissenschaft um 1900« vor. Hier werden die Ansätze von Heinrich Rickert, Georg Simmel, Ernst Cassirer, Max Weber und Sigmund Freud jeweils knapp skizziert. Das zweite Unterkapitel widmet sich den »Cultural Studies am Birmingham Centre for Contemporary Cultural Studies«. Im dritten Unterkapitel umreißt Schößler »Soziohistorische und -theoretische Modelle«, indem sie in drei Teilkapiteln die Trias Michel Foucault, Pierre Bourdieu und Niklas Luhmann abhandelt. Durch dieses erste, knapp 80 Seiten umfassende Hauptkapitel wird der methodologische Ansatz historisch grundiert. Dem nahe liegenden Vorwurf, warum Namen wie Vico, Herder, Hegel, Nietzsche oder Marx nicht ausführlich behandelt werden, begegnet Schößler mit dem einleuchtenden Argument, dass es gerade die Konzepte der um 1900 entstehenden Kulturphilosophie und -wissenschaften sind, die im Verlauf des 20. und 21. Jahrhunderts wiederholt aufgegriffen und modifiziert werden (vgl. S. 3). Das tiefgreifende Krisenbewusstsein, das gerade die Denker um 1900 antreibt und sich in ihren Entwürfen widerspiegelt, so argumentiert Schößler im Anschluss an Klaus Lichtblau, 4 fundiert die neu entstehenden Disziplinen der Cultur-Philosophie und der Cultur-Wissenschaften als Reflexionsinstanz der Wissenschaften, welche den Geltungsverlust der Philosophie als Einheitswissenschaft zu kompensieren trachten. Mit anderen Worten: »Die Kulturwissenschaften versuchen neues Orientierungswissen bereitzustellen, um der Modernisierung zu begegnen.« (S. 5) Vor diesem Hintergrund muss die von der Verfasserin im ersten Teil ihres Buches getroffene Auswahl als ein kluges Arrangement bezeichnet werden, da sich insbesondere von diesen Ansätzen aus die Perspektiven und Möglichkeiten der Kulturwissenschaften in und für die Gegenwart entfalten lassen.

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Das zweite Hauptkapitel wendet sich den »Aktuellen Debatten« zu. Hier werden in fünf Unterkapiteln folgende Theorieansätze vorgestellt:

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1. »Der New Historicism und die Poetik der Geschichte«

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2. »Gender Studies«

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3. »Postcolonial Studies«

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4. »Ethnologie, Anthropologie und literarische Anthropologie«

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5. »Erinnerungstheorien«

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Bis auf das vierte Kapitel, das die relativ heterogenen Ansätze von Clifford Geertz, Victor Turner, René Girard sowie übergreifend Literatur als Ritual und Literarische Anthropologie vorstellt, werden alle Kapitel durch literarische Lektüren ergänzt. So liest Schößler im ersten Kapitel Émile Zolas Roman Au Bonheur des Dames als Beispiel für die Verhandlungen zwischen Kriminologie, Medizin und Literatur. Die Gender Studies werden am Beispiel des Cross-dressings in Virginia Woolfs Roman Orlando exemplifiziert. Eine besonders gelungene Lektüre gelingt Schößler gerade für die schwierigen Theoreme der Postcolonial Studies, die anhand des Fetischs Haut in John Fenimore Coopers Roman Conanchet oder Die Beweinte von Wish-ton-Wish luzide dargestellt werden. Auf zwei klassische Texte wird im Kontext der Erinnerungstheorien zurückgegriffen. So zeigt die Verfasserin zum einen, in welcher Weise Memoria und Kanon in Goethes Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre ineinander greifen, um dann das Konzept der Hypotexte in Thomas Manns Roman Königliche Hoheit vorzuführen.

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Abgeschlossen wird der Band durch ein Glossar kulturwissenschaftlicher Fachbegriffe, das die zentralen Theoreme in 65 Schlagworten von »Alterität« über »Hermeneutik«, »Inzest« und »Linguistic turn« bis hin zu »Performance«, »Semiotik« und »Werkimmanenz« noch einmal kompakt und übersichtlich zusammenfasst.

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Zum Argumentationsgang

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I. Hauptteil

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Die analytische Schärfe kulturwissenschaftlicher Fragestellungen, die in vielen der aktuell diskutierten Ansätze leider nur noch als schwacher Nachhall zu spüren ist, verdankt sich zweifelsohne dem Neukantianismus, der um 1900 seine Blütezeit hatte. Vor dem Hintergrund des beständig schwelenden Konflikts zwischen Positivismus und Hermeneutik überdenkt der Neukantianismus »insbesondere das Verhältnis von Natur und Geist, um die Erkenntnisse der Geisteswissenschaften zu objektivieren und zu systematisieren« (S. 5). Heinrich Rickert, dem das erste der fünf personenbezogenen Unterkapitel des ersten Kapitels gewidmet ist, hält die traditionsreiche Unterscheidung von Geist und Natur indes für untauglich, soll es darum gehen, die Wissenschaften zu systematisieren, und schlägt eine Rückbesinnung auf die ›ursprüngliche‹ Bedeutung der Begriffe Natur und Kultur vor. »Naturprodukte sind es, die frei aus der Erde wachsen. Kulturprodukte bringt das Feld hervor, wenn der Mensch geackert und gesät hat.« (S. 6 f.) Die damit implizit schon ausgesprochene These, dass Kultur das Ergebnis eines Veredelungsprozesses sei, der erst durch die menschlichen Tätigkeitsformen stattfinden kann, folgt notwendig die Implementation eines Wertesystems, durch das Hierarchisierungen innerhalb postulierter Kulturstufen möglich werden.

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Ist für Rickert Kultur primär ein Wertesystem, so ist sie für Georg Simmel eine Tragödie. Simmel interessiert sich als Soziologe der Moderne insbesondere für die Flüchtigkeit und Dynamik kultureller Ausdrucksformen. Umgekehrt bewertet er in seinem grundlegendem Aufsatz Der Begriff der Tragödie der Kultur jegliche Kristallisation, jegliche Erstarrung als Gefahr (vgl. S. 11). Sehr zielsicher bringt Schlößler die komplexe Argumentation des simmelschen Kulturverständnisses auf den Punkt, wenn sie vor allem auf den fundamentalen Dualismus zwischen Subjekt und Objekt verweist, der für Simmels Philosophie so kennzeichnend ist und der sich in der Entfremdung der vom Subjekt produzierten »Reihen von Dingen« versinnbildlicht.

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Ernst Cassirer bringt in einer direkten Replik auf Simmel nun den Rezipienten als eine dritte Komponente ins Spiel, die zwischen der Eigenteleologie der Dinge und dem Subjekt Vermittlung durch »Re-subjektivierung« ermöglichen soll. Kernstück dieses Vermittlungswissens ist die symbolische Form, die der Bedeutung der symbolischen und technischen Medien für das Verständnis des Geistes erstmalig umfassend Rechnung trägt. Cassirer geht es also darum, wie Schößler pointiert herausarbeitet, den Symbolbegriff als Mittler zwischen der Wirklichkeit und dem menschlichem Denken zu etablieren. Sein Symbolbegriff rubriziert wissenschaftliche Zeichen ebenso wie religiöse, mythische, ästhetische und natürlich sprachliche. Dabei stehen sich die diversen Symbolisierungen in der Kunst, im Mythos und in der Wissenschaft durchaus gleichberechtigt gegenüber, denn sie repräsentieren jeweils bestimmte geistige Auffassungsweisen und konstituieren auf diese Weise zugleich eine je eigene Sicht des Wirklichen. »Kultur wird damit nicht als Sein, sondern als Tun verstanden, genauer: als Kampf zwischen Zeichensystemen, die sich jeweils als einzig gültiges zu behaupten versuchen.« (S. 16)

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Max Weber, dem das vierte Teilkapitel gewidmet ist, bestimmt die ökonomische Rationalität als kulturelle Form, die wiederum mit bestimmten psychischen Dispositionen verknüpft ist (vgl. S. 18). Webers soziologischer Ansatz integriert somit in gewisser Hinsicht die Ansätze von Simmel und Cassirer und bereitet zugleich den Boden für den wohl wirkungsmächtigsten Theorieentwurf um 1900, die Begründung der Psychoanalyse durch Sigmund Freud, deren kulturwissenschaftliche Relevanz im letzten Teilkapitel dargestellt wird. Zurecht weist Schößler auf die fundamentale Bedeutung des weberschen Idealtypus für die Kulturwissenschaften hin.

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Der Idealtypus stellt cum grano salis eine gedankliche Vorwegnahme dessen dar, was das empirische Material an Regelmäßigkeiten aufweist; er strukturiert die diffuse Empirie vor und zentriert sie auf das Typische, das in Reinform nicht aufzufinden sein wird. (S. 22)
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Mit dem Modell des Idealtypus gelingt es Weber somit, historische Phänomene unter dem Gesichtspunkt ihrer Kulturbedeutung zu fokussieren. Spannend ist Webers Ansatz für die Literaturwissenschaften insbesondere deshalb, weil er seine Theoreme am Beispiel literarischer Texte exemplifiziert.

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Das letzte Teilkapitel widmet sich den brisanten kulturtheoretischen bzw. ‑kritischen Überlegungen Sigmund Freuds. Obwohl, wie Schößler zurecht anmerkt, auch die frühen Hysteriestudien als Kulturkritik gelesen werden können, da die hysterische Frau mit ihren theatralischen Ausbrüchen und Identitätsverunsicherungen die Schwachstellen der patriarchalen Kultur ausagiert (S. 22), wird der fatale Zusammenhang zwischen Kultur und Begehren insbesondere in dem späten Text Das Unbehagen der Kultur herausgearbeitet.

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Das gelungene Panoptikum kulturwissenschaftlicher Positionen, das die Verfasserin im ersten Kapitel ihres Buches zusammenstellt, legt nicht nur den Grundstein für das Verständnis der nachfolgenden Kapitel, sondern macht darüber hinaus auch deutlich, woher die mannigfachen Ansprüche, die heute an den Kulturbegriff herangetragen werden, überhaupt kommen. Luzide hebt Schößler hervor, dass das gemeinsame Moment der Kulturtheorien um 1900 darin bestand, »Kultur grundsätzlich als ein Tun, ein doing culture«, aufzufassen. Kulturelle Bedeutung wird auf diese Weise als das variable Produkt komplexer Verhandlungen begriffen, sie erscheint als »als semiotisches, in Zeichen organisiertes Bedeutungsfeld und Netzwerk, als komplexes Zeichensystem, das die Mitglieder einer Kultur in rivalisierenden Auseinandersetzungen hervorbringen und mit ihrem Handeln koordinieren« (S. 26).

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Das zweite Kapitel des ersten Teils wendet sich den »Cultural Studies am Birmingham Centre for Comtemporary Cultural Studies« zu. Dieser insbesondere von Stuart Hall und Raymond Williams konzipierte Ansatz zeichnet sich zum einen durch einen interdisziplinären Fokus aus und zum anderen durch eine konsequente Durchbrechung des hochkulturellen Paradigmas und damit durch eine konzeptionelle Ausweitung, eine Demokratisierung des Kulturverständnisses. Kultur wird als die Gesamtheit des sozialen Handelns begriffen, als ganzheitlicher Lebenszusammenhang, was durch die Formulierung »a whole way of life« plastisch zum Ausdruck kommt. Nicht ästhetische Ausdrucksformen stehen im Mittelpunkt, sondern die subjektive Erfahrung und Verarbeitung von Kultur und ihre Funktion im Alltagsleben werden zum Gegenstand des Forschungsinteresses.

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Das dritte und letzte Kapitel des ersten Teils stellt die Ansätze von Michel Foucault, Pierre Bourdieu und Niklas Luhmann vor. Dies gelingt Schößler auf knapp 40 Seiten, was angesichts der Komplexität der einzelnen Positionen erstaunen muss. Dennoch macht das Szenario nicht nur Sinn, sondern erweist sich als ein intelligenter Blick auf eben die Aspekte der jeweiligen Theorien, die aus kulturwissenschaftlicher Perspektive für die Literaturwissenschaft in methodologischer Hinsicht fruchtbar gemacht werden können. Als Gewährsmann für ihre zunächst erstaunlich anmutende Kompilation führt Schößler den Dortmunder Literaturwissenschaftler Jürgen Link an:

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Soweit die neuere kulturwissenschaftliche Literaturtheorie sich noch um sozialhistorische Dimensionen bemüht, sucht sie häufig Orientierung in einer Art Dreieck Foucault-Bourdieu-Luhmann. Anscheinend werden in einer durch die drei Namen bezeichneten Interferenzzone zwischen Diskurs-, Habitus- und Systemtheorie jene gedanklichen Instrumente und Modelle vermutet, mit denen »orthodoxe« Klassen- und Ideologie-Modelle differenziert bzw. ersetzt werden können, ohne die sozialhistorischen Problematiken völlig über Bord zu werfen. (Link, S. 37)
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Auch wenn eine diskursive Formation etwas ziemlich anderes ist als ein bourdieusches Feld und sich beides noch einmal deutlich von dem unterscheidet, was ein Teilsystem nach Luhmann verkörpert, so scheinen diese Kategorien, wie Link betont, »doch auch wieder nicht auf ganz getrennten Kontinenten angesiedelt zu sein.« 5 Dergestalt rückversichert beginnt die Verfasserin ihre Übersicht mit Michel Foucault: »Kultur als disziplinatorischer Machtapparat«. Foucault untersucht, so Schößler einleitend, »auf welche Weise die scheinbar selbstverständliche Einheit des Subjekts durch reglementierende Sprachordnungen hervorgebracht wird« (S. 38 f.). Souverän werden dann in knapper Form die Grundannahmen des foucaultschen Denkens skizziert, wobei Schößler sich primär an der Inauguralvorlesung Die Ordnung des Diskurses orientiert. Fragt man aus literatursoziologischer Perspektive nach der Funktion von Literatur, so kann man im Rekurs auf die frühen Schriften Foucaults und hier insbesondere auf Die Ordnung der Dinge die These vertreten, dass sich literarische Texte prinzipiell durch Selbstreferentialität auszeichnen und durch diesen Rückbezug auf die eigene, sprachlich organisierte Medialität in der Lage sind, »die Fiktion eines autonomen Sprechens zu unterlaufen« (S. 46). Doch selbst wenn sich Literatur in dieser Form als Gegendiskurs markieren lässt, entgeht der Verfasserin nicht, dass sie in gleicher Weise das Bestehende affirmiert, »denn sie ist nahezu unhintergehbar an den diskursiven Machtstrukturen beteiligt, vor allem dann, wenn sie zum originalen Ausdruck eines Genies auratisiert wird« (S. 47).

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Das Teilkapitel »Foucault und die Literaturwissenschaft« stellt sich dann ganz explizit der heiklen Frage, in welcher Weise diskursanalytische Fragestellungen und Theoreme für die Literaturwissenschaft fruchtbar gemacht werden können. Denn auch wenn die verschiedenen Spielarten der (vermeintlich) diskursanalytisch operierenden Literaturwissenschaft (Generative Diskursanalyse, Historische Diskursanalyse, Interdiskurstheorie) anderes vermuten lassen, spielt die Literatur selbst in Foucaults Studien nur eine marginale Rolle, wie die Verfasserin richtig betont. Tatsächlich sprechen die Kulturwissenschaften mit Blick auf Foucaults Schriften gerne von Kartierung und Topographien des Wissens, ungern aber vom Diskurs, führt Schößler im Rekurs auf Achim Geisenhanslüke aus. »Wenn sie aber vom Diskurs sprechen, dann meist in unspezifischem Sinne.« (Geisenhanslüke, S. 49) Die gängige Vorgehensweise vieler ›diskursanalytischer‹ Ansätze besteht in der Regel darin, literarische Texte im Kontext anderer Diskurse zu lesen, deren Gesamtheit zumeist als kulturelles Archiv interpretiert wird. »Der Text wird mithin im Knotenpunkt unterschiedlicher Disziplinen wie Medizin, Recht und Ökonomie aufgefasst, die ihrerseits durch Diskurse geregelt werden.« (S. 49) Kritisch merkt Schößler an, dass bei diesen Verfahren der Literaturwissenschaftler als ›Diskursanalytiker‹ leicht zum Dilettanten auf allen Gebieten werden könne, sobald er das kulturelle Archiv aufzuarbeiten versuche.

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Noch viel deutlicher als bei Foucault muss mit Blick auf den Ansatz von Pierre Bourdieu gesagt werden, dass es sich hier um kein Lektüre- oder Interpretationsverfahren literarischer Texte handelt. Für die Literaturwissenschaft kann allerdings sein Modell insofern fruchtbar gemacht werden, als dass es – allgemein gesprochen – die Rolle von Literatur bei der Konstitution des sozialen Raumes in den Blick nimmt. »Kultur wird als ein Raum von Distinktionen, von Unterscheidungen, konzipiert, der dem ökonomischen Kapital analog mit kulturellem Kapital arbeitet, wie es insbesondere die (scheinbar autonome) Hochkultur bereitstellt.« (S. 52) Schößler zeigt überzeugend, in welcher Weise Bourdieu hochkulturelle Artefakte an einen weit gefassten Kulturbegriff anschließt, indem er sie über seine Kapitaltheorie in die Matrix des sozialen Raumes einträgt. Die Rückbindung der Kunst an konkrete Lebensstile, die durch Bourdieus Theorie des Habitus evident wird, kann als die eigentliche Geburtsstunde der Kultursoziologie angesehen werden. Die Verfasserin zeigt dann anhand einer Beispielanalyse des literarischen Feldes nach 1945 in Österreich, wie die institutionellen Bedingungen von Literatur sowie die relationalen Bezüge zwischen Poetiken und sozialen Praktiken mithilfe der von Bourdieu entwickelten Paradigmen enggeführt werden können. Insbesondere diese kurze feldtheoretische Studie macht deutlich, auf welche Weise kulturwissenschaftliche Methoden für die Literaturwissenschaft fruchtbar gemacht werden können.

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Das letzte Teilkapitel widmet sich dem systemtheoretischen Ansatz Niklas Luhmanns. Die Verfasserin führt zunächst in die Grundzüge der Systemtheorie ein, indem sie didaktisch sehr geschickt genau die Annahmen in den Mittelpunkt stellt, die beim Einstieg in die Schriften Luhmanns am meisten irritieren:

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Für ihn besteht die Gesellschaft weder aus Menschen und ihren Beziehungen, noch konfiguriert sie sich über Konsens (von Meinungen) oder territoriale Ordnungen. Er geht nicht von Substanzen aus, sondern im Anschluss an konstruktivistische Positionen von geschlossenen funktionalen Systemen, die analog organisiert sind. (S. 65)
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Zu solchen Systemen gehört auch die Kunst. Nach Luhmanns Überzeugung kann Kunst ihre spezifische Funktion nur als Vollzug von Gesellschaft freisetzen: Sie konfrontiert die Wirklichkeit mit einer Alternativversion und stellt auf diese Weise Weltkontingenz her. Dabei korrespondiert der von den ästhetischen Theorien des 18. und 19. Jahrhunderts begründete Autonomiestatus der Kunst dem Autopoiesis-Konzept der Systemtheorie auf spezifische Weise: »[D]ie Kunst teilt das Schicksal der modernen Gesellschaft gerade dadurch, daß sie als autonom gewordenes System zurecht zu kommen sucht.« 6 Zurechtkommen kann die Kunst als funktional differenziertes Teilsystem der Gesellschaft genau wie jedes andere Teilsystem nur im Modus der Kommunikation. Das gilt natürlich auch für das System Kultur, welches aber – anders als das System Kunst – »auf Wiederholung, auf Komplexitätsreduktion, ausgerichtet ist« (S. 69). Kultur fungiert somit als ein Filter, wie die Verfasserin richtig bemerkt, »der vergangene Entwürfe selektiert, um einen Zukunftsrahmen zu entfalten; sie liest ihre Unterscheidungen in Vergangenes ein, um Zukünftiges zu organisieren« (S. 71). Sehr präzise arbeitet Schößler heraus, dass Kultur auf diese Weise eben die Überlegungen verhindert, »was man anstelle des Gewohnten anders machen könnte« (S. 71). Damit tritt Kultur – und das ist wieder überraschend – in eine Opposition zur Kunst. Denn der ureigenste Beitrag der Kunst für die Gesellschaft liegt ja gerade in der Kontingenzsetzung von Wirklichkeit durch die Konfrontation mit einer Alternativversion derselben im Modus des als ob. Kunst bietet eine Position, »von der aus etwas anderes als Realität bestimmt werden kann«. 7 Kultur hingegen rückt das Bewährte in den Vordergrund.

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Damit schließt der erste Hauptteil des Buches, der die historischen Kulturtheorien vorstellt. Die Verfasserin hat hier in überzeugender Weise genau die Stränge nachgezeichnet, aus denen die »Aktuellen Debatten« des zweiten Hauptteils nun ihr Argumentationsgeflecht entspinnen.

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II. Hauptteil

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Insistierte Schößler an mehreren Stellen des ersten Hauptteils auf dem dynamischen Charakter des Kulturbegriffs als einer komplexen Austauschbewegung sowohl in vertikaler wie in horizontaler Ebene, so nimmt es wenig Wunder, dass nun der zweite Hauptteil mit dem »New Historicism« beginnt. Die fünf Positionen, die nun vorgestellt werden (s.o.), sollen im Rahmen dieser Besprechung nicht alle detailliert behandelt werden – sie sind ausnahmslos auf der Höhe der Forschung und eloquent geschrieben. Exemplarisch herausgreifen möchte ich an dieser Stelle nur drei Studien, und zwar die erste zum »New Historicism«, die dritte zu den »Postcolonial Studies« und die letzte zu den »Erinnerungstheorien«.

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Der New Historicism, der insbesondere mit dem Namen Stephen Greenblatt verbunden ist, begreift Kultur als narrative Verhandlung. Verhandlung wird dabei im ursprünglichen, d.h. im ökonomischen Sinne aufgefasst, denn Greenblatts Ansatz basiert auf einem flexiblen Kapitalismusmodell, »das Austausch und Abgrenzung ermöglicht« (S. 80). Es ist dem subtilen Verständnis der Verfasserin für prononcierte Theorieentwürfe zu verdanken, dass auch an dieser Stelle die komplexe Struktur eines Ansatzes nicht voreilig einem rubrizierenden Begriff subsumiert wird – hier z.B. dem Begriff der Intertextualität, auf den der New Historicism gemeinhin gerne zusammengestrichen wird. Schößler betont daher zurecht die Wurzeln des Verhandlungsmodells im Kapitalismusbegriff:

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Er [Greenblatt] begreift Kapitalismus in metaphorischem und buchstäblichem Sinne als Medium, das einen ›diskontinuierlichen Austausch‹ zwischen Systemen organisiert, unterschiedliche Felder wie Religion, Ökonomie und Medizin in Beziehung setzt, sie jedoch auch voneinander isoliert. Dieses Wechselspiel von Vernetzung und Abtrennung überträgt Greenblatt auf seinen Begriff von Kunst bzw. auf das Verhältnis von Kunst und nicht-ästhetischen Bereichen. (S. 80)
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Dabei greift Greenblatt nicht nur terminologisch auf die Erkenntnisse der Diskurstheorie zurück. So kondensiert nach seiner Einschätzung die enge Verzahnung ästhetischer und sozialer Diskurse nachgerade in einer Poetik des Alltagsverhaltens, womit zum Ausdruck gebracht wird, dass auch außerliterarische Bereiche narrativ verfasst sind. Umgekehrt begreift Greenblatt Literatur als einen Resonanzraum, der die Diskurse seiner Zeit bündelt und in Beziehung setzt. 8 »Kultur ist für Greenblatt ein Ensemble von Texten, der Einzeltext ein Ensemble von Referenzen.« (S. 84) Der New Historicism untersucht daher das mikroskopische Gewebe aus Diskursfäden, um die komplexen Tausch- und Aneignungsprozesse zwischen den Diskursen zu rekonstruieren. Kenntnisreich rekonstruiert Schößler im folgenden die Argumentationslinien von Greenblatts populärer Studie Verhandlungen mit Shakespeare, um daran anschließend die Einwände von Hans Robert Jauß und die Präzisierungen von Moritz Baßler zu diskutieren. Insbesondere Baßler sei es zu verdanken, so Schößler, dass »die ebenso gängige wie umstrittene Formulierung, Kultur sei Text«, endlich präzisiert worden ist (S. 91).

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Der zweite Hauptteil des Kapitels zum »New Historicism« ist dem Historiker Hayden White gewidmet. Der Beobachtung Greenblatts korrespondierend geht auch White von einer grundsätzlich narrativen Verfasstheit außer-literarischer Bereiche aus. Für seine Zunft fordert White eine Haltung ein,

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die die historische Erzählungen als das bewertet, ›was sie am offensichtlichsten sind: sprachliche Fiktionen (verbal fictions), deren Inhalt ebenso erfunden wie vorgefunden ist und deren Formen mit ihren Gegenstücken in der Literatur mehr gemeinsam haben als mit denen in den Wissenschaften. (S. 101)
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White ist insofern zuzustimmen, als dass eine Menge von zufällig überlieferten Ereignissen für sich genommen noch keine Geschichte darstellt. Erst durch die vom Historiker unterlegte Plotstruktur werden die historischen Ereignisse ausgewählt, angeordnet und als Geschichte erkennbar. Für die Literaturwissenschaft ist jedoch ein anderer Punkt aus Whites Konzept von viel größerem Interesse, dem die Verfasserin zurecht ein eigenes Teilkapitel widmet: »White geht davon aus, dass jeder Zugriff auf die Wirklichkeit, jeder Diskurs, in fundamentaler Weise tropologisch verfasst ist, das heißt mit Sprachfiguren arbeitet, die das Unbekannte bekannt werden lassen.« (S. 104) Erst indem rhetorische Operationen dem Gegenstand eine Struktur verleihen, geben sie ihm eine narrative Verfasstheit, ohne die der Gegenstand epistemologisch schlichtweg nicht zu entziffern wäre.

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Das zweite Kapitel des zweiten Hauptteils thematisiert das komplexe Feld der »Gender Studies«. Schößler legt hier auf 30 Seiten eine äußerst gelungene Einführung in die Theoreme und Forschungsfelder der Gender Studies und ihrer Relevanz für literaturwissenschaftliche Fragestellungen vor, deren Argumentationsgang hier nicht nachgezeichnet werden soll. Dieses Kapitel ist zweifelsohne eines der besten des ganzen Buches und sucht als grundlegende Einführung in die Thematik seinesgleichen.

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Das dritte Kapitel zu den »Postcolonial Studies« weist mit Blick auf die Fragestellungen der Gender Studies einige Berührungspunkte auf. Ähnlich wie die Queer, Gay/Lesbian Studies geht es auch in den Postcolonial Studies darum, marginalisierten Gruppen eine Stimme zu verleihen. In theoretischer Hinsicht erweist sich der Ansatz allerdings als relativ gespalten, wie die Verfasserin betont:

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Auf der einen Seite stehen Autoren und Autorinnen, die die politische Handlungsfähigkeit der ‚Subalternen‹, die Bedeutung von Solidarität und gemeinsamen Aktionen betonen, auf der anderen Seite Poststrukturalisten, die das Subjekt als fragmentarisiert begreifen und von der Gespaltenheit jeder kulturellen Äußerung ausgehen, also Identität in Frage stellen. (S. 141)
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Folgerichtig liefert zumindest für die letztere Gruppe die Dekonstruktion das kritische Instrumentarium, um hegemoniale Identitätsdiskurse und Totalitätsphantasien aufzubrechen. Schößler stellt in einer kurzen Zusammenstellung die zentralen Forschungsfelder der Postcolonial Studies vor und rückt dabei vor allem die Funktion des Nationaldiskurses in den Mittelpunkt. Das Koloniale stellt hier nicht nur das notwendig Fremde als Projektionsfläche des eigenen Selbst dar, sondern wird als das Andere, wie die Studien von Bronfen und Kristeva zeigen, als Teil des eigenen Selbst begriffen. Postkolonial bedeutet daher nicht die lineare Fortsetzung der kolonialen Situation, sondern zielt, wie Bronfen, Marius und Steffen betonen, auf eine Refiguration des gesamten Feldes, die Phänomene wie »Massenmigration, globale Zirkulation von Waren, Dienstleistungen, Zeichen und Informationen« integriere. Damit werde das Postkoloniale zu einem umfassenden Konzept von Kultur als »Widerstreit [...] zwischen Repräsentationen von Welt, Subjekt, Geschichte usw. ausgeweitet.« (S. 143)

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Schößler wendet sich dann den drei zentralen Theoretiker der Postcolonial Studies zu: Edward W. Said, Homi K. Bhabha und Gayatri Chakravorty Spivak. Said, dessen Studie Orientalism als der kanonische Gründungstext der Postcolonial Studies gilt, geht von der Überlegung aus, »dass der ›Orientalismus‹ weit mehr über den Westen und seine Institutionen aussagt als über die Länder, die unter diesem Begriff subsumiert werden« (S. 146). Nur wenn der Orientalismus im Sinne einer diskursiven Formation begriffen wird, kann einsichtig gemacht werden, »durch welche enorme systematische Disziplin die europäische Kultur fähig war, den Orient politisch, soziologisch, militärisch, ideologisch, wissenschaftlich und imaginativ während der Zeit nach der Aufklärung zu leiten – und selbst zu produzieren« (Said, S. 146). Insofern stellt sich der Orientalismus für Said als ein Wille zur Macht dar, dem sich auch die vermeintlich neutrale Wissenschaft nicht entziehen kann, da kein Wissenschaftler sich von seinen Lebensbedingungen, von inkorporierten Wertsetzungen und Interessen kurz: von hegemonialem Wissen gänzlich distanzieren könnte. Damit legt Said, wie Schößler treffend bemerkt, trotz des Foucault’schen Diskursbegriffs ein relativ homogenes Subjekt der Macht zugrunde, aus dem eine starre Binarität von Opfer und Täter resultiert.

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An diesem Punkt setzt nun Bhabha an, der im Anschluss an Freud und Lacan die Ähnlichkeit von Ich und Anderem betont. Es sei schwierig, so Bhabha

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den Prozeß der Subjektifizierung als eine Platzierung des beherrschten Subjekts innerhalb des orientalistischen oder kolonialen Diskurses zu begreifen, ohne auch das beherrschende Subjekt strategisch innerhalb dieses Diskurses zu platzieren. (Bhabha, S. 148 f.)
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Platziert wird es durch den Spiegelblick, ein Modell, das auf Lacans einschlägigem Aufsatz Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion basiert. Schößler zeichnet nun sehr genau nach, in welcher Weise Bhabha – auch hier Lacan folgend – dieses Modell durch rhetorische Termini exemplifiziert und auf diese Weise für die Literaturwissenschaft anschlussfähig macht. So stellt etwa die Metonymie Bezüge zwischen angrenzenden Wirklichkeitsbereichen her und hebt auf diese Weise binäre Oppositionen auf, indem sie ein permanentes Übersetzungsverfahren initiiert, das Gleiches und Ungleiches ähnlich werden lässt.

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Spivak schließlich, die englische Übersetzerin von Derridas Studie De la grammatologie, sucht durch die Etablierung einer dekonstruktivistischen Haltung »die Stimmen der ›Subalternen‹ jenseits der Gleichheitsbemühungen eines abstrahierenden und vereinheitlichenden Bürgerrechts hörbar werden [zu] lassen« (S. 153). Indem die Dekonstruktion auf diese Weise die Grenzen eines Lektüreverfahrens übersteigt und nachgerade zu einer ethischen Haltung mit politischer Stoßkraft wird, läuft der Ansatz von Spivak auf die gleichen Aporien hinaus, die auch für die Studien Derridas so kennzeichnend sind, wie Schößler zurecht anmerkt.

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Das letzte Kapitel des Bandes thematisiert unter dem Sammelbegriff »Erinnerungstheorien« ein kulturwissenschaftliches Forschungsfeld, an das einige der bereits vorgestellten Ansätze anschließen können. Hier stehen insbesondere solche Themenfelder wie Gedächtnistheorien, kollektive Erinnerung und Memoriakonzepte im Vordergrund. Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive sind Theoriekonzepte rund um den Gedächtnisbegriff vor allem deshalb interessant, weil Gedächtnis konstruktivistisch gedacht und zugleich humanistisch in Szene gesetzt werden kann. Provokant formuliert lässt sich durch das Memoriakonzept auf der Funktionsebene von Gedächtnistheorien – und hier in der Regel auf der Folie systemischer oder kognitionspsychologischer Argumentationen – hermeneutisches Begriffsinventar wieder einführen (Identität, Mensch, Nation u.ä.). Schließlich kann eine Theorie des kulturellen Gedächtnisses nur dann ohne Widerspruch in Szene gesetzt werden, wenn man von einem einzigen zentralen Traditionsfluss ausgeht, an dem alle wertvollen Werke und Kulturgüter teilhaben, und dass Geschichte selbst ein ungebrochenes Kontinuum bildet, das frei von Brüchen, Konflikten und Widersprüchen gedacht werden kann.

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Da angesichts der faktisch vorhandenen Diskontinuitäten und Heterogenitäten dieser Optimismus offensichtlich unangebracht ist, scheint die Frage berechtigt, ob der Begriff des kulturellen Gedächtnisses überhaupt dazu in der Lage ist, auf Alteritätserfahrung und Trauma, »die den modernen wie den heutigen Krisendiskurs der Erinnerung kennzeichnen«, eine adäquate Antwort zu geben. 9 Sehr präzise skizziert die Verfasserin dann die Eckpunkte des Ansatzes von Jan Assmann entlang seiner einschlägigen Studie Das kulturelle Gedächtnis und weist zurecht auf einen wesentlichen Schwachpunkt des doch als restaurativ einzustufenden Ansatzes hin: Denn einerseits verkörpert der Kanon für Assmann in einer Situation konkurrierender Ordnungen am besten den Anspruch der einzig wahren Tradition. Andererseits aber wird der fundamentale Geltungsverlust des literarischen Kanons im 20. Jahrhunderts von ihm kaum reflektiert, »ebenso wenig die Definitionskämpfe um den Kanon, der auch als ein hegemoniales Steuerungsinstrument beschrieben werden kann«, wie Schößler zurecht betont (S. 204).

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Nachdem die Verfasserin anhand einer Lektüre von Wilhelm Meisters Wanderjahren auch in diesem Kapitel vorgeführt hat, in welcher Weise sich literarische Auslegungsverfahren durch kulturwissenschaftliche Paradigmen inspirieren lassen können, wird das kollektive Gedächtnis in dem Kapitel »Dialogische Erinnerung« nicht mehr auf seine identitäts- und kontinuitätsbildenden Effekte hin befragt, sondern auf seine dynamischen Aspekte, die als Verwerfungen und Brüche in den Vordergrund rücken. Schößler greift hier vor allem auf den Sammelband Gedächtniskunst. Raum – Bild – Schrift von Anselm Haverkamp und Renate Lachmann zurück, der Erinnerung als dialektischen (Vergessens-)Vorgang konzipiert und die rhetorische ars memorativa samt ihrer intermedialen Aspekte untersucht (vgl. S. 213). Durch die Engführung dekonstruktivistischer Formen der Intermedialität und Intertextualität werden Mnemotechnik und Dekonstruktion dergestalt miteinander verbunden, dass Erinnern und Vergessen als komplexe semiotische Verfahren konzeptualisiert werden können, die als brüchige Bewegung zwischen Desemantisierung und Semantisierung, als stockender Dialog zwischen Vergangenheit und Gegenwart sichtbar werden.

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Fazit

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Schößler hat mit ihrem UTB-Band Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft eine profunde Einführung in ein heterogenes und hochkomplexes Forschungsfeld geschrieben. Durch eine konsequente Verpflichtung auf das methodologische Potenzial der kulturwissenschaftlichen Theoreme für die literaturwissenschaftliche Analyse gelingt es ihr, dem hohen theoretischen Anspruch der verschiedenen Ansätze gerecht zu werden, und zwar ohne dabei die Zielgruppe didaktisch aus den Augen zu verlieren. Hier leisten insbesondere die Beispielanalysen einen wichtigen Beitrag. Der Band ist insofern als Lehrbuch im Universitätsbetrieb wie als hilfreiches Nachschlagewerk bestens geeignet.

 
 

Anmerkungen

Wolfgang Frühwald / Hans Robert Jauß / Reinhart Koselleck / Jürgen Mittelstraß / Burkhart Steinwachs: Geisteswissenschaften heute. Eine Denkschrift. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991, S. 85.   zurück
Georg Bollenbeck: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1996, S. 126 f.   zurück
Jürgen Fohrmann: Das Andere der »Kultur«. Die »Kultur« der Kulturwissenschaft. In: Georg Mein / Markus Rieger-Ladich (Hg.): Soziale Räume und kulturelle Praktiken. Über den strategischen Gebrauch von Medien. Bielefeld: Transcript 2004.   zurück
Klaus Lichtblau: Kulturkrise und Soziologie um die Jahrhundertwende. Zur Genealogie der Kultursoziologie in Deutschland. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1996.   zurück
Jürgen Link: Kulturwissenschaftliche Orientierung und Interdiskurstheorie der Literatur zwischen ›horizontaler‹ Achse des Wissens und ›vertikaler‹ Achse der Macht. Mit einem Blick auf Wilhelm Hauff. In: Georg Mein / Markus Rieger-Ladich (Hg.): Soziale Räume und kulturelle Praktiken. Über den strategischen Gebrauch von Medien. Bielefeld: Transcript 2004, S. 65–83, hier S. 65.   zurück
Niklas Luhmann: Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst. In: Hans Ulrich Gumbrecht / K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1986, S. 620–672, hier S. 622 f.   zurück
Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998, S. 229.   zurück
Vielleicht hätte an dieser Stelle noch deutlicher hervorgehoben werden sollen, wie eng dieser Ansatz mit den Prämissen der Interdiskurstheorie verzahnt ist.   zurück
Vgl. Vittoria Borsò: Die Normalisierung der Erinnerung durch die Epistemologie des Gedächtnisses. Narrative Deregulierung in der neuesten spanischen und italienischen Romanliteratur. In: Ute Gerhard / Walter Grünzweig / Jürgen Link / Rolf Parr (Hg.): (Nicht) normale Fahrten. Faszinationen eines modernen Narrationstyps. Heidelberg: Synchron 2003, S. 207–231, hier S. 211.   zurück