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Das Buch der Bücher im Buch

Ein Sammelband zu Goethe und der Bibel

  • Johannes Anderegg / Edith Anna Kunz (Hg.): Goethe und die Bibel. (Arbeiten zur Geschichte und Wirkung der Bibel 6) Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 2006. 344 S. Gebunden. EUR (D) 48,00.
    ISBN: 3-438-06256-9.
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Es geschieht nicht eben häufig, daß man die wissenschaftliche Programmatik einer Publikation an ihrem Buchrücken ablesen kann. Im Falle des von Johannes Anderegg und Edith Anna Kurz herausgegebenen Sammelbandes aber kündet bereits das unaufgeschlagene Buch von seinem doppelten Forschungsanspruch:

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Einerseits weist die Strukturanalogie des Buchtitels zu Werken wie Goethe und 1001 Nacht, 1 Goethe und die französische Revolution 2 oder Goethe und die Frauen 3 die vorliegende Veröffentlichung unmißverständlich als Beitrag zur Goetheforschung aus; setzt also Goethe als analytische Konstante und die Bibel als Variable. Andererseits aber kategorisiert der Erscheinungsort, die Stuttgarter Bibelgesellschaft mit ihrer Reihe »Arbeiten zur Geschichte und Wirkung der Bibel«, den Band ebenso unmißverständlich als Beitrag zur Kultur- und Literaturgeschichte der Bibel; setzt also die Bibel als analytische Konstante und Goethe als Variable.

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In ihrer Einleitung formulieren die Herausgeber diese zweifache Blickrichtung noch einmal explizit: Den Beiträgen gehe es darum, »das Fortleben der Bibel in wichtigen Werken und Zeugnissen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts« zu dokumentieren und zu analysieren. Zugleich aber verstünden sich »[d]ie Untersuchungen von Goethes Verhältnis zur Bibel und von seiner Art und Weise, sich auf Biblisches zu beziehen, [...] als Erläuterungen von Goethes Erkenntnis- und Schaffensprozess« (S. 15). Doch so elegant und letztlich goethisch dieses wissenschaftliche Programm ›wiederholter Spiegelungen‹ von Bibel und Literatur anmutet, so hoch legt es die Latte des wissenschaftlichen Niveaus für die Beiträger.

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Fallstricke
biblischer Intertextualität

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Schwierigkeiten bereitet dabei nicht in erster Linie Goethe. Als besterforschter Autor der deutschen Literatur ist er zum Gegenstand eines solchen Unterfangens vielmehr prädestiniert. Oder sagen wir präziser: Er wäre dafür prädestiniert, hätte die Goetheforschung nicht den exzeptionellen Status dieses Dichters über Jahrzehnte fort- und in ihrer auto(r)referentiellen Kommentarpraxis festgeschrieben. Da bedarf es schon einiger gedanklicher Flexibilität, diesen Goethe nun mit einem Mal als exemplarisch für die Bibelrezeption seiner Zeit zu lesen.

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Doch gemessen an den grundsätzlichen methodischen Problemen bei der Erforschung biblischer Einflüsse auf die Literatur, schrumpfen die goethephilologischen Fährnisse zu Marginalien. Zwei dieser Schwierigkeiten seien kurz erinnert, um die Ambitioniertheit des Projekts ›Goethe und die Bibel‹ sichtbar zu machen:

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1. Die Bibel ist ein Buch in jahrhundertelangem multimedialem und interdiskursivem Gebrauch. Durch diesen Gebrauch wurden die biblischen Geschichten, Stoffe und Motive mehrfach transformiert und rezeptionsbestimmend mit Imagination und Deutung angereichert, so daß ›die Bibel‹ bei ihrer Ankunft in der Literatur immer schon mehr und immer schon anderes gewesen ist als ihr Wortlaut. Auf welchen Prä-Text oder welches Vor-Bild sich Goethe eigentlich bezieht, wenn er sich auf Biblisches bezieht, auf welche ikonographische oder legendarische Tradition und welchen Interpretationshintergrund, ist also eine höchst komplizierte Frage.

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2. Zugleich eignete dem Wortlaut der Bibel, insbesondere nach Luthers Übersetzung, stets eine eigene Dignität. Schließlich war dies nicht der Wortlaut eines beliebigen Buches, sondern der ›Heiligen Schrift‹, der christlich-jüdischen Offenbarung Gottes in eben diesem Wort, und konnte – aus dem Textzusammenhang herausgelöst – als unverwechselbares Wort der Schrift in Gebrauch genommen werden; unabhängig davon, ob es den Autoren selbst heilig war oder nicht. Ob Goethe also mit dem Zitat eines Bibelverses auf die Bibel im Ganzen verweist, auf nur ein Testament, auf ein konkretes biblisches Buch oder einen Autor, ist ebenso schwer zu entscheiden wie die Frage nach den sozialen, politischen, religiösen oder ästhetischen Implikationen dieses Bezugs.

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Der Umstand, daß die deutsche Literaturwissenschaft noch immer kein Handbuch oder Lexikon bereithält, mit dessen Hilfe das Bibelwissen einer historischen Epoche oder die Rezeptions- und Transformationsgeschichte biblischer Erzählungen, Figuren, Topoi und Zitate in der Literatur nachvollzogen werden können, 4 trägt nicht eben zur Lösung dieser methodischen Probleme bei, die einen Band wie den vorliegenden notwendig überfordern müssen.

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Daß dies eine produktive Überforderung ist, davon legt die Publikation beredtes Zeugnis ab. Entsprechend aufschlußreich sind die ganz unterschiedlichen – teils höchst innovativen, teils auf symptomatische Weise gescheiterten – Strategien der Beiträgerinnen und Beiträger, die genannten Schwierigkeiten in instruktive wissenschaftliche Studien umzusetzen.

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Bibel im Kontext

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Den Weg einer bibelgebrauchsgeschichtlichen Kontextualisierung der Goetheschen Texte schlagen die Beiträge von Hans-Jürgen Schrader, Thomas Tillmann und Frank Zipfel ein; einen Weg, den allerdings allein Schrader konsequent verfolgt. Dabei begibt er sich mit dem Werther auf eine der beliebtesten literaturwissenschaftlichen Spielwiesen zum Thema »Goethe und die Bibel«. Ausgehend von einem beeindruckenden Überblick über die bisherige Forschung wendet er sich der zentralen Frage zu, unter welchen konzeptionellen Voraussetzungen die im Werther prospektierte Aufnahme eines mit Passionskonnotaten bestückten Selbstmörders in die Arme des göttlichen Vaters ihren ästhetischen Sinn gewinnt.

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Die Antwort darauf findet Schrader mit Hilfe einer differenzierten frömmigkeitsgeschichtlichen und ikonologischen Rekonstruktion zweier radikalpietistischer Konzepte: einer heterodox gewendeten Imitatio Christi, ausgedrückt in glossolalischer und der unverständigen Menge als Wahn erscheinender Verzückung des Gläubigen, und einem Bild Gottes als weltumfassende und ewige Liebe. In der Figur des Werther, der gerade durch seinen ekstatisch-euphorischen Wahn stets »in der Liebe bleibt« und sich daher gegen alle Einreden »der Lieblosen wie der Amtskirche« (S. 87) nach seinem Freitod in der All-Liebe Gottes aufgehoben weiß, sieht Schrader diese beiden Konzepte kulminieren. Durch seinen kenntnisreichen Blick auf die konkrete Gebrauchsgeschichte der Bibel kann er den Werther überzeugend als ästhetischen Raum sichtbar machen, in dem Goethe sein pietistisch-kirchenfremdes »Privatchristentum« literarisch ausagiert und zugleich seiner Liebeskonzeption »eine im poetischen Imitat gleichsam heilsgeschichtliche Weihe« verleiht (S. 88).

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Anders als Schrader stützen sich die kontextualisierenden Studien Tillmanns und Zipfels indes letztlich auf einen direkten Vergleich der Goetheschen Texte – des fiktiven Briefs Zwo wichtige bisher unerörterte biblische Fragen sowie der Abhandlung Israel in der Wüste – mit dem Wortlaut der Lutherbibel. Die Beiträger stellen Abweichungen fest und suchen Erklärungen dafür. Dabei erfolgen Rückgriffe auf Kontexte, die zwar in Form von Schlagworten – »Pietismus« etwa, »lutherische Orthodoxie«, »rationalistische Bibelkritik« oder »Bibelwissenschaften« – aufgerufen, aber nie näher als auf Armeslänge an Text, Analyse und Leser herangelassen werden. Entsprechend muß sich die Plausibilität der präsentierten Schlußfolgerungen – Goethes Parteinahme für die Glossolalie sei ein Begründungsakt genieästhetischer Autonomie (Tillmann, S. 32 f.), und sein von der Bibel abweichendes Mosesbild zeuge von der Patenschaft Homers und sei für sein bibelexegetisches Verfahren »paradigmatisch« (Zipfel, S. 212–214) – letztlich primär auf die sinnstiftende Kraft des Zauberworts »Säkularisierung« stützen (Zipfel, S. 192 f., Tillmann, S. 32 f.).

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Verse im Fokus

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Goethes Bezugnahmen auf je eine konkrete Bibelstelle rücken die Beiträge von Margrit Wyder, Clark S. Muenzer und Markus Zenker in den Mittelpunkt und bilden zusammen ein Panorama methodischer Chancen und Risiken eines solchen intertextualitätsanalytischen Verfahrens.

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In ihrem kenntnis- und materialreichen Beitrag zu »Goethes Gedanken zur Erdgeschichte« gelingt es Wyder, die in Goethes Schriften verstreuten Anspielungen auf die Versuchungsszene Christi (Mt 4, 1–11) zum analytischen Prisma seiner sich wandelnden erdgeschichtlichen Vorstellungswelten zu machen. Durch die Werkgeschichte hindurch verfolgt sie diese allusive Spur und zeigt an den verschiedenen Konstellationen der biblischen Motive – Berg, Gipfelblick, Stein, Versuchung, Herrlichkeit der (Reiche der) Welt – die Transformationen der Goetheschen Naturkonzeption auf.

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Ebenfalls einen biblischen Berg stellt Zenker ins Zentrum seiner Überlegungen, dessen allusiven Schatten er inmitten von Goethes Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre aufragen sieht: jene Anhöhe, die in der späteren Überlieferung der »Bergpredigt« (Mt 5) ihren Namen gegeben hat. Anders als Wyder versteht sich Zenker dezidiert als Entdecker dieses sehr gut verborgenen biblischen Subtexts, den er in der Gipfelbegegnung Wilhelms und der Kinder mit Jarno (I. Buch, 3. Kapitel) aufgefunden haben will und an dem seine gesamte Interpretation hängt. Indes besteht die einzig erkennbare Parallele zwischen Romanszene und der genannten »zentralen Bibelstelle« (S. 262), die Zenker weder zitiert noch diskutiert, im Aufstieg von Menschen auf einen Berg, wo sie sich hinsetzen.

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Die ebenso fragwürdige wie argumentationskonstitutive Behauptung, Goethe spiele hier speziell auf die Bergpredigt oder überhaupt auf Biblisches an, ist gleichwohl interessant, weil sie auf einen weiteren Fallstrick biblisch-literarischer Intertextualität hinweist: Da sich im seitenstarken Buch der Bücher so gut wie jedes denkbare Motiv auffinden läßt und der Text zugleich mit dem Nimbus des Archetypischen umgeben ist, scheint literaturwissenschaftlicher Interpretationsüberschwang vorprogrammiert.

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Auf eine weitere Problematik weist Muenzers Auseinandersetzung mit Goethes Hiob-Rezeption im Kontext seiner naturwissenschaftlichen Schriften hin. Die Argumentation stützt sich zwar auf einen evidenten Bibelbezug in Form des Verses »Siehe er geht vor mir über ehe ich’s gewahr werde / Und verwandelt sich ehe ich’s merke« (Hi 9,11), den Goethe seinen Morphologischen Heften als Motto voranstellt. Allerdings deutet Muenzer dieses – für seinen innerbiblischen Kontext weder repräsentative noch prominente – Zitat als Implikat einer Goetheschen Rezeption des gesamten Buchs Hiob, einschließlich der darin zentralen Theodizee-Thematik, und nicht als (mehr oder minder ironische) gesamtbiblische Autorisierung seiner morphologischen Grundideen. Nur aufgrund dieser – vom Verfasser als selbstverständlich gesetzten – synekdochischen Erweiterung eines zitierten Verses auf das biblische Buch, aus dem es stammt, kann Muenzer Goethes Naturphilosophie unter dem Oberbegriff einer »natürlichen Theodizee« zusammen mit Kant, Spinoza und Herder verhandeln.

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Auswege aus der
intertextuellen Falle

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Diese intertextuellen Fährnisse umgeht Anne Bohnenkamp, indem sie sich mit beiden Beinen ihrer Studie »Goethe und das Hohe Lied« (S. 89–100) auf festem editionsphilologischen Grund bewegt; namentlich auf den sprachlichen Besonderheiten von Goethes – zu Lebzeiten unpublizierter – Übersetzung des ›Lieds der Lieder‹. Auch Bohnenkamp hält einen Sicherheitsabstand zu den von ihr nur angerissenen bibelwissenschaftlichen Kontexten – in diesem Falle zu Herder, Hamann und Johann David Michaelis – ein, faltet aber die wechselvolle jüdisch-christliche Kanonisierungs- und Deutungsgeschichte des Hohelieds aus und macht vor diesem Hintergrund die zahlreichen Allusionen im West-östlichen Divan als Teil der »hermeneutischen Thematik« (S. 107) sichtbar, die Goethes Gedichtsammlung durchzieht. Daß sie diese Hermeneutik schließlich mit dem Divan-Wort »Daß ich eins und doppelt bin« (S. 108–110) nur auf einen wenig aussagekräftigen Begriff bringen kann, ist der Preis für die analytische Distanz zur wissenschaftsgeschichtlichen Umgebung des West-östlichen Divan.

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Auch Wolf-Daniel Hartwich umschifft intertextualitätsanalytische Unsicherheiten, allerdings durch eine großzügig angelegte Betrachtung der Goetheschen Apokalyptik in seinem Beitrag, der auf tragische Weise zum Vermächtnis des im Januar 2006 mit 37 Jahren verstorbenen Privatdozenten geworden ist. Im großzügigen Gestus des Universalgelehrten, der er ungeachtet seiner Jugend zweifellos war, unterscheidet Hartwich in Anlehnung an Kurt Erlemann drei verschiedene Konzepte von Endzeiterwartung – die »revolutionistische«, die »revelatorische« und die »evolutionistische« – und weist das Erbe dieser Konzepte in Goethes »welt-immanente[r] Perspektive« (S. 114) auf das Verhältnis von Geheimnis und Offenbarung nach. Auf diesem Wege öffnet Hartwich den Blick auf bislang übersehene Bedeutungsdimensionen sowohl des Wilhelm Meister als auch des Faust.

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Im Gegensatz zum Versuch der Mitherausgeberin Edith Anna Kunz, sich Goethes Vorstellung von »paradiesischer Passivität und irdischer Tätigkeit« (S. 173–184) über direkte Textabgleiche mit der Sündenfallgeschichte anzunähern, wobei Goethe dem zeitgenössisch intensiv diskutierten Buch Genesis gleichsam im diskursgeschichtlich leeren All zu begegnen scheint, überzeugt Hartwichs Beitrag gerade durch seinen analytischen Zugang über die Geschichte einzelner theologischer Konzepte, deren Gerinnung zu literarisch produktiven Mythologemen in Goethes Texten beobachtbar wird.

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Biblische Ikonographie

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Mit ihrer expliziten Akzentuierung der Tradition und Wirkungsweise biblischer Ikonographie reichern die Arbeiten von Cyrus Hamlin zum Faust und von Jane K. Brown zum Wilhelm Meister den vorliegenden Band durch einen weiteren entscheidenden Aspekt an. Beide Studien weisen nämlich auf die große Bedeutung bildkünstlerischer Vermittlung biblischer Stoffe für Goethes literarische Formgebung hin und verfolgen dabei den medialen und ästhetischen Eigensinn dieser im Wortsinne ikonographischen Arrangements, der sich bis in die Struktur des Goetheschen Werkes einschreibt.

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Dabei konzentriert sich Brown auf Passionsfigurationen – vor allem die Fußwaschung von Bethanien und die Pietà – sowie verschiedene biblisch-ikonische (Klein-)Familienkonstellationen – David und Saul sowie Maria und Joseph – und verfolgt deren kompositorische Effekte durch die Romane hindurch. Zwar bleiben die aufgefundenen Analogien, etwa zu Giottos Beweinung Christi sowie zu diversen katholischen Traditionen, samt ihren interpretatorischen Konsequenzen letztlich rein assoziativ, was durch die weitgehende Abstinenz der Verfasserin von der Forschungsliteratur, durch ihr psychoanalytisches Apriori und ihr großes Vertrauen in die Evidenz des Sichtbaren bedingt ist. Doch das hier herausgestellte Potential spezifischer Bildarrangements, mit ihren aisthetischen Gesetzen auch die literarische Bibelrezeption nachhaltig zu prägen, ist für das Gesamtverständnis des Themas von einer Bedeutung, die Hamlin schließlich analytisch ausschöpfen kann.

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Er weist in verschiedenen Szenen des Faust zunächst den Einfluß konkreter bibelikonographischer Traditionen nach, um in einem zweiten Schritt Rekurs auf die synästhetischen Formen der Passionsliturgie zu nehmen und damit einen kulturgeschichtlich zentralen Gebrauchskontext der Bibel in seine Überlegungen mit einzubeziehen. Und eben dies setzt ihn in den Stand, der theatralischen Eigengesetzlichkeit der beiden Tragödienteile Rechnung zu tragen und – besonders eindrucksvoll in seiner Analyse der Szenen »Nacht« (S. 302–304) und »Bergschluchten« (S. 313–315) – den biblischen Allusionsraum des Dramas als einen Handlungsraum sichtbar zu machen, der die Zuschauer mit einschließt und dadurch seine ästhetische Wirkmächtigkeit gewinnt.

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Gattungspoetischer
Eigensinn

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Aspekte biblischer Intertextualität konsequent auf den spezifischen gattungspoetischen und kompositorischen Eigensinn literarischer Texte hin zu untersuchen, unternehmen Hans Rudolf Vaget und Johannes Anderegg in ihren Beiträgen.

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In Anlehnung an Günter Niggls, aus der Patristik übernommene, systematische Einteilung intertextueller Bibelbezüge in wörtliche Übernahmen (»figurae verbum«) und inhaltlich-figurative Anleihen (»figurae rerum«) konzentriert sich Vaget auf die ausgreifenden Anspielungen auf die Lebensgeschichte Josephs, des Vaters Jesu, in den ersten beiden Kapiteln der Wanderjahre. In steter Reflexion der mehrfachen erzähl- und schreibinstanzlichen Vermitteltheit dieser Allusionen, der vornehmlich legendarischen Quellen der Josephsbiographie und der Prominenz des Sujets ›Heilige Familie‹ in der zeitgenössischen Kunst der Nazarener gelangt er schließlich zu folgender Lektüre: Mit den spezifischen Mitteln des Archivromans setze Goethe hier das Schlegelsche Kunst-(und) Religionskonzept ins bewegte Bild und schlage durch die fiktiv-figurale Realisation der romantischen Bibelrezeption in seinem Roman eben diese Romantik mit ihren eigenen Waffen.

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Unter Ausblendung des diskursgeschichtlichen Kontexts, dafür aber mit um so geschärfterer Aufmerksamkeit für die spannungsreichen Sinneffekte biblischer Allusionen in der komplexen Komposition des Faust, präsentiert Anderegg eine Mephisto-Lektüre, die in ihrer leichtfüßigen Durchführung vor allem eines deutlich macht: Das bloße Auffinden von Bibelallusionen in literarischen Texten mag von bildungsbürgerlicher oder religiöser Grundkompetenz zeugen, literaturwissenschaftliche Professionalität dagegen erweist sich erst in ihrer Analyse. Daß eine solche Analyse vor allem dann überzeugt, wenn sie die Eigengesetzlichkeit literarischer Gattungen in den Blick nimmt und den Texten Einspruchsrecht auch gegen die eigene Interpretation einräumt, führt Anderegg exemplarisch vor. Mit starkem Akzent auf der Philemon-und-Baucis-Episode und kritisch nachfragendem Blick auf die vieldiskutierten Hiob-Bezüge setzt er die wichtigsten der von Mephisto selbst hergestellten oder in der Dramenkomposition auf ihn bezogenen Bibelallusionen analytisch so mit der jeweiligen Figuration beider Tragödienteile in Beziehung, daß sich ein ebenso kohärentes wie interessantes Bild dieser allegorischen Teufelsfigur ergibt: Einerseits als »Gott dieser Welt« (S. 323) und als »große[r] Ermöglicher« (S. 330) inszeniert, andererseits mit dem leidenden Hiob analogisiert (S. 331) und gegenüber dem ewigen Erneuerungsprinzip der Welt zur Machtlosigkeit verdammt (S. 338), erweist sich die Ambivalenz der mephistophelischen Figur als Effekt einer Dramatik, die den Zuschauer im Innerweltlichen hält, wo Auswege aus den Verstrickungen von Fortschrittsdrang, Macht und Vernichtung zwar aufscheinen, aber nicht begehbar sind.

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Die Heilige Schrift
als poetische Textur

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Die methodisch ambitioniertesten Zugänge des Bandes zum Thema finden schließlich Ulrike Landfester und Christian Sinn in ihren Versuchen, jenseits stofflicher oder motivischer Übernahmen biblische Einflüsse in den Schreibweisen und Textkonzepten Goethes aufzuzeigen.

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Ausgehend von Dichtung und Wahrheit und mit Fokus auf dem West-östlichen Divan setzt sich Landfester dabei auf die Spur dessen, was sie zwar titelgebend Goethes »bibelphilologischen Kulturbegriff« nennt, tatsächlich aber als werkpoetisches Verfahren Goethes untersucht. Sie stellt heraus, daß dieses Verfahren geschult ist an den hermeneutischen Praktiken und Erkenntnissen der zeitgenössischen Exegetik, orientiert am poetischen Kompositionsprinzip der Bibel und geschärft an der Materialität der Schrift. Die von Goethe immer wieder akzentuierte Widersprüchlichkeit und Zerstücktheit der biblischen Texte werden, so Landfester, seinem Textmodell zufolge allein zusammengehalten von einer poetischen Lektüre, die der Dichter – mit seiner schöpferische Anverwandlung der biblischen Textstruktur im kompositorisch bewußt dissoziierten Divan – auch den eigenen Lesern abverlangt.

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Die im Divan mehrfach motivisch durchgespielte Verwandlung arbiträrer Schriftzeichen in magische Stein-Inskriptionen samt ihrer sowohl die autorschaftliche als auch die textuelle Identität konstituierenden Wirkungskraft (S. 234–236) liest Landfester überzeugend als poetischen Rückkoppelungseffekt des bibelphilologischen Modells eines »Texts der Texturen« (S. 222).

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Daß dieser innovative Beitrag auf seinen letzten Seiten in eine – durch deiktische Gesten in Richtung auf Jan Assmann mit kulturgeschichtlichem deep impact versehene – motivgeschichtliche ›Spur der Steine‹ ausläuft, die schließlich in den Wanderjahren mündet, schmälert seine richtungweisende Kraft für eine tatsächlich neue Auseinandersetzung mit dem Thema »Goethe und die Bibel« keineswegs. Landfesters Überlegungen öffnen ein Fenster zu einem weiten Forschungsfeld, auf dem die kompositorischen und werkästhetischen Einflüsse des Buchs der Bücher auf Goethes autorschaftliche und poetologische Strategien erkennbar werden. Und da diese Einflüsse durch die konkrete Entwicklung der bibelwissenschaftlichen Methodologie und Praxis um 1800 vermittelt und dynamisiert sind, besitzt ein solcher Forschungsansatz auch eine die Grenzen der Goethephilologie weit übersteigende literatur-, kultur- und wissenschaftsgeschichtliche Brisanz.

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Daß ein solcher Zugang zum Thema allerdings nicht allein methodologisch voraussetzungsreich ist, macht der Beitrag von Christian Sinn anschaulich. Zwar wählt auch Sinn einen ähnlichen Zugang, indem er im Rekurs auf Christian Schärf Goethes »Genealogie der Schrift« (S. 38) durch das frühe Belsazar-Fragment und Dichtung und Wahrheit hindurch verfolgt. Und auch er nimmt dabei den Zusammenhang von Goethescher Produktionsästhetik und bibelwissenschaftlicher Praxis in den Blick und macht einen Schriftbegriff Goethes aus, den er in drei Transformationsstufen beobachtet:

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1. der Gleichsetzung von (biblischer) Urschrift mit dem Kommentar nach seiner Abkehr vom Hebräischen,

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2. der Übersetzung der Übersetzung und damit der »Neuschreibung der Bibel«,

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3. der Herstellung der eigenen Poesie durch »Verbindung von Original und Übersetzung« (S. 47).

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Doch fußt dieses gesamte Modell auf einem folgenschweren Mißverständnis der in Dichtung und Wahrheit beschriebenen Beschäftigung des jungen Goethe mit der hebräischen Sprache und Schrift; einem Mißverständnis, das von Sinns profunder Unkenntnis der Funktionsweise hebräischer und jiddischer Sprache und Schrift herrührt. Diese Unkenntnis läßt ihn eine lektüre- und verstehensnotwendige Zusatznotation der hebräischen Schrift fälschlich als unnötiges Beiwerk begreifen, was zur Folge hat, daß er den jung-goetheschen Unwillen angesichts der komplizierten – weil eben nicht alphabetisch, sondern teilsyllabisch funktionierenden – hebräischen Schrift systematisch falsch interpretiert (S. 40).

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Es ist bemerkenswert genug, daß ein Wissenschaftler, der ganz selbstverständlich die »Autopoiesis der Schrift« (S. 38 f.) im Munde führt, die tatsächliche Funktionsweise von Schriftsystemen nicht zur Kenntnis nimmt. Hier aber führt dieses Desinteresse zum Zusammenbruch der gesamten Argumentation, die Goethes hebräische Leseschwierigkeiten zu einer »ernsthafte[n] Hermeneutik« des Sinns jenseits des Buchstabens (S. 40) stilisiert, um schließlich ihren gesamten schriftgenealogischen Apparat, dessen Streukraft bis in die Barockdramatik reicht, an dieser sachlichen Sollbruchstelle aufzuhängen. Hier wird der höchst innovative Ansatz, sich dem Thema über eine Reflexion der schriftmedialen, werkästhetischen und poetologischen Implikationen der Bibel um 1800 zu nähern, auf ärgerliche Weise in den Sand gesetzt.

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Perspektiven der Forschung

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Der vorliegende Band, so viel läßt sich mit Sicherheit sagen, stellt einen wichtigen Forschungsbeitrag dar; und zwar nicht zuletzt deshalb, weil er mehr ist als die Summe seiner Teile. Denn in der Zusammenschau der Beiträge mit ihrem unterschiedlichen methodischen Profil faltet sich ein Panorama all jener Aspekte auf, die für eine fruchtbare Beschäftigung mit diesem anspruchsvollen Thema relevant sind und deren Wahrnehmung und analytische Umsetzung die Grundlage einer systematischen literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung zum Verhältnis von Bibel und Literatur bilden. Daß eine solche konzertierte Forschung in Deutschland bislang noch nicht existiert, davon legen die analytischen Schwächen einiger Beiträge beredtes Zeugnis ab, was aber die Bedeutung des Bandes keineswegs schmälert. Denn er ermöglicht eine korrigierende Lektüre des einen Ansatzes durch den anderen und schafft damit performativ einen Denkraum, in dem sich die Gestalt einer zukünftigen Forschung zum Thema abzeichnet.

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Die einzige durchlaufende Problematik der Publikation besteht in der bereits angemerkten Tendenz, zu den konkreten theologischen, religions- und frömmigkeitsgeschichtlichen Kontexten Goethes einen Sicherheitsabstand zu wahren. Ob dies primär auf das Konto der exzeptionalistischen Tradition der Goetheforschung geht oder auf ein von normativen Säkularisierungsvorstellungen generiertes Fremdeln gegenüber Religion und Theologie zurückzuführen ist, läßt sich schwer entscheiden. Eine ernstzunehmende Forschung zum Thema wird sich jedenfalls beides nicht mehr leisten können, dafür aber um so reichere Ernte einfahren.

 
 

Anmerkungen

Katharina Mommsen: Goethe und 1001 Nacht. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1981.   zurück
Theo Stammen: Goethe und die französische Revolution. Eine Interpretation der Natürlichen Tochter. München: Beck 1966.   zurück
Jürgen Eichenauer (Hg.): Goethe und die Frauen. Eine Gemeinschaftsausstellung der Frankfurter Bürger-Stiftung im Holzhausenschlößchen und des Goethe-Museums in Düsseldorf / Anton-und-Katharina-Kippenberg-Stiftung, 20.3. – 11.4.1999 zur Würdigung des 250. Geburtstages v. Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832). Frankfurt/M. 1999.   zurück
Das einzige Nachschlagewerk zum Thema »Bibel und Literatur«, das zumindest partiell aus literaturwissenschaftlicher Feder stammt, beschränkt sich auf das 20. Jahrhundert und nimmt keine dezidiert historische Perspektive ein: Heinrich Schmidinger (Hg.): Die Bibel in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts. 2 Bde. Mainz: Grünewald 1999. Darüber hinaus existiert allein ein – für manche literaturwissenschaftlichen Zwecke durchaus praktikables – kunsthistorisches Standardwerk, das mit seinem ikonographischen Fokus die spezifischen medialen und ästhetischen Affinitäten von Bibel und Literatur freilich nicht erfassen kann: Engelbert Kirschbaum SJ (Hg.): Lexikon der christlichen Ikonographie. Sonderausgabe. 8 Bde. Rom u.a.: Herder 1990.   zurück