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Christian Mosers umfangreiche Studie, die aus einer komparatistischen Habilitationsschrift an der Universität Bonn hervorgegangen ist, versteht sich als »Beitrag zu einer Problemgeschichte abendländischer Subjektivität« (S. 726) und zeigt in eindrucksvoller Weise, wie fruchtbar es ist, komparatistisches Arbeiten nicht nur auf die literarische Moderne zu beschränken, sondern bis an den Beginn der abendländischen Schriftkultur zurückzuverlagern: Anliegen Mosers ist es, die jüngere Autobiographieforschung, die oft historisch erst mit Rousseau einsetzt beziehungsweise allenfalls auf Augustinus’ Confessiones zurückgreift, in Verbindung mit einer medien- und im engeren Sinn schriftgeschichtlichen Fragestellung zu bringen und somit »die Geschichte der buchgestützten Subjektivität auch als Vorgeschichte der neuzeitlichen Autobiographie« (ebd.) kenntlich zu machen.
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Moser macht keinen Hehl daraus, dass er mit diesem Zugriff auf den Spuren des späten Michel Foucault wandelt, der in letzter Zeit einige literaturwissenschaftliche Arbeiten zur Frage der Subjektkonstitution herausgefordert hat
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– es kann jedoch ohne jede Übertreibung behauptet werden, dass es sich bei der Arbeit von Moser um die historisch fundierteste kritische Auseinandersetzung mit Foucault handelt, die aus literaturwissenschaftlicher Sicht bisher unternommen wurde und die Foucaults Überlegungen zur Genealogie von Subjektivität in der Antike in zweierlei Hinsicht revidiert: Zum Einen stellt Moser sehr viel nachdrücklicher als Foucault selbst dies tut, die konstitutive Bedeutung der (Schrift-)Medialität für die Subjektkonstitution heraus – Foucaults Modell der allmählichen Ausweitung empirischer »Selbstpraktiken« auf das Schreiben, die vor allem dem Umgang mit erotischem Begehren dienen, stellt er somit eine Genealogie entgegen, der die Reflexion auf das Selbst seit ihren Anfängen bei Platon an die Schrift koppelt. Zum Anderen widerspricht Moser energisch der Foucaultschen Auffassung, nach der die antiken Selbstpraktiken von einer im Zeichen der Wahrheit stehenden Selbst- beziehungsweise Welterkenntnis losgelöst seien und somit eine »Ästhetik der Existenz« begründen könnten. Eine solche Ästhetik der Existenz – und hier liegt die grundlegende historische Hauptthese der Arbeit – wird Moser zufolge erst durch die christliche Anthropologie des Augustinus möglich und in der beginnenden Neuzeit zu einem eigenständigen literarischen Erfahrungsraum autobiographischen Schreibens ausgebaut.
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Zugunsten dieses wichtigen Zugewinns an historischer Präzision der in der Studie vertretenen Genealogie schriftgestützter Subjektivität erlegt sich Moser eine gewisse Zurückhaltung in der Fortschreibung von »Großtheorien« des Subjekts beziehungsweise des Selbst wie beispielsweise der Psychoanalyse auf. Ihm geht es weniger um die Theorie der Genese von Subjektivität überhaupt, sondern er setzt ein Spannungsverhältnis von Selbsterkenntnis und Selbstpraxis für den Bereich seiner Analysen generell als gegeben voraus, wobei er die jeweilige Art der Selbsterkenntnis aber durchaus historischen Differenzierungen unterwirft und etwa mit Hilfe von Charles Taylor
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ein in eine kosmische Ordnung eingebettetes Selbst der griechischen Antike von einem sich durch Reflexivität zunehmend autonomisierenden Selbst der Spätantike und der Neuzeit unterscheidet. Durch eine Uminterpretation des von Gadamer geprägten hermeneutischen Begriffs der »Applikation« (vgl. Einleitung, S. 12–28) erhebt er die Frage des Verhältnisses von theoretischem Wissen und praktischer Anwendung bereits in der Antike zur entscheidenden Spannung im Hinblick auf die Subjektkonstitution und löst damit die Applikation aus ihrer Nachrangigkeit gegenüber einer – bei Gadamer als vorgängig gedachten – Ordnung der Tradition.
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Mosers Arbeit gliedert sich in drei chronologisch geordnete Analyseteile, die von einer Untersuchung griechischer und römischer Texte der Antike bis hin zu Francesco Petrarca reichen und sich um einen zentralen Teil zu Aurelius Augustinus herum gruppieren. Die Titel »Vom sokratischen Dialog zum Selbstgespräch des Lesers« (Antike), »Vom philosophischen Selbstgespräch zur Hermeneutik des gefallenen Willens« (Augustinus) und »Von der Hermeneutik des Willens zur Ästhetisierung der Selbsterkenntnis« (Petrarca) lassen dabei bereits erkennen, dass Moser eine narrative Geschlossenheit in der Verknüpfung seiner Analysetexte zu erzeugen sucht, die wohl unerlässlich ist, um eine Untersuchung, die mit bewundernswerter sprachlicher und textanalytischer Kompetenz fast 2000 Jahre Philosophie- und Literaturgeschichte überstreicht, lesbar zu gestalten. Diesen heuristischen Zweck hat Moser jedenfalls für jemanden, der bereit ist, sich auf seine geduldigen und genauen Textlektüren einzulassen, aufs Beeindruckendste erreicht, was nicht zuletzt daran liegt, dass er in jedem der drei Teile eine ausführliche Auseinandersetzung mit bestehenden Positionen der Forschung zu den untersuchten Autoren führt und in sehr klarer Weise seine eigene Position dagegen abzugrenzen versteht.
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Der erste Analyseteil, der sich mit der »antike[n] Vorgeschichte der buchgestützten Subjektkonstitution« (S. 29) beschäftigt, setzt historisch dort ein, wo »das Selbst selbst« zum ersten Mal Gegenstand eines philosophischen Dialogs wird, nämlich mit dem platonischen Alkibiades I (Kapitel II). Während Foucault den platonischen Dialog nur inhaltsbezogen liest
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und empirische Selbstsorge dabei in Konkurrenz zur Selbsterkenntnis sieht, nimmt Moser dagegen an, dass der Dialog zum Einen Selbstsorge und Selbsterkenntnis aufeinander bezieht und zum Anderen auch als ein performativer Versuch der praktischen Umsetzung von theoretischer Selbsterkenntnis in praktische Selbstsorge in Form einer dialektischen Übung anzusehen sei, bei der Sokrates zum Vorbild stilisiert wird, das es nachzuahmen gelte. Diese Stilisierung ist aber nur möglich durch einen spezifischen Einsatz der verschriftlichten Dialogform, die beim Leser einen Eindruck der ›unmittelbaren‹ Teilnahme erzeuge, dabei aber die Mittelbarkeit der dialogischen Mimesis notwendigerweise verschleiern müsse. Ausgeführt wird diese ›Verschleierungstaktik‹ in Kapitel III am Beispiel des Theaitet, dem platonischen Dialog, der am deutlichsten auf seine eigene Inszeniertheit verweist. Damit bezieht Moser Stellung in der andauernden Debatte um das platonische Schriftverständnis beziehungsweise um die Funktion der Schriftlichkeit in der griechischen Antike überhaupt, indem er die uneingestandene Bedeutung der Schriftform in einem Kontext hervorhebt, der vorderhand dem Ideal einer »ungegenständlichen Wissensform« huldigt (vgl. dazu Kapitel I), das heißt auf die direkte psychagogische Vermittlung von Wissen anstatt auf den Umweg über die Verschriftlichung setzt.
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Während sich bei Platon die Schrift de facto durch die inszenierte fiktive Dialogform einnistet, ist Moser zufolge auch die aristotelische Ethik (Kapitel V), die als Praxis oder energeia eigentlich ohne Heraussetzung eines ihr äußeren Werks (ergon) auskommen müsste, de facto auf die Exteriorität der Schrift angewiesen, um moralisches Handeln reflektierbar zu machen beziehungsweise in narrative Form bringen zu können. Damit unterzieht er erneut Foucaults Anleihen beim Aristotelischen Praxisbegriff für das Konzept der Selbstpraktiken einer Revision, indem er den unverzichtbaren Werkcharakter des Geschriebenen als Medium der ethischen Selbstbetrachtung hervorhebt, auch wenn Aristoteles die reflexive Distanz zu sich selbst im ›lebendigen‹ Spiegel des Freundes vor einer Erstarrung in der werkhaften Exteriorität bewahren will. Erst in den Epistulae morales Senecas, denen eine allmähliche Aufwertung der Schriftlichkeit in der römischen Rhetorik (Kapitel V) vorausgeht, wird der Freund nicht mehr als Spiegel der eigenen Innerlichkeit verwendet, sondern vielmehr zum Anlass genommen, sich selbst in Gestalt eines schriftlichen Werks zu entäußern. Dieses Werk – so Moser – stehe, anders als Foucault dies darstelle, mitnichten im Zeichen eines »art de la vérité disparate«
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, sondern leiste vielmehr eine homogenisierende, »kannibalische« Aneignung von Fremdem, die über den ungeordneten Charakter bloßer Lektürenotizen (hypomnemata) durch einen expliziten Stilisierungs- und Vereinheitlichungswillen weit hinausgehe.
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Bei Marc Aurel kulminiert Moser zufolge die nur scheinbar paradoxe Herstellung von Interiorität durch werkhafte Exteriorisierung, indem Selbstaussprache und Selbstverschriftlichung unmittelbar miteinander enggeführt werden und in schriftlicher Form ein Appell zur Selbstveränderung sowohl ausgesprochen als auch durchgeführt wird (Kapitel VI).
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Der zentrale Analyseteil zu »literarische[n] Formen des Umgangs mit dem Selbst bei Aurelius Augustinus« (S. 317) beginnt wiederum mit der Markierung einer Differenz zur Foucaults Erkenntnisinteresse, der sich bei der Zäsur zwischen antiker, selbstverantworteter Selbstsorge und christlicher, zur Kontrolle durch eine pastorale Machttechnik tendierender Selbsthermeneutik vor allem auf die Mönchsaskese konzentriert. Moser sieht nun nicht diesen Strang beziehungsweise die daraus entstehende christliche Hagiographie als wegweisend für die neuzeitliche Ästhetisierung des Selbstverhältnisses, sondern vielmehr die augustinische Form der Selbsthermeneutik. Im Sinn der narrativen Stringenz der ›Subjekt-Geschichte‹, die Moser erzählt, ist es sicherlich vertretbar, eine solche Abgrenzung zu setzen, allerdings ließe sich fragen, ob die Askese- und Hagiographie-Tradition generell auf die Funktion einer anderswo plakativ so genannten »Konversionsmaschine« (S. 531) im Zeichen der ungebrochenen Willensstärke reduziert werden kann oder ob nicht mit ihr ein zwar im Zeichen des Sündhaften stehendes, aber gerade deswegen enorm wirkungsmächtiges Modell der transgressiven Imagination ins Werk gesetzt wird.
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Folgt man nun aber Mosers hoch interessanten Augustinus-Lektüren, so beschränkt sich seine Interpretation nicht auf die Confessiones, sondern zeichnet zunächst im Frühwerk (Kapitel VII) das Scheitern überlieferter antiker Formen der Selbstbefragung nach (die Krise der platonischen Dialektik beziehungsweise des Dialogs in De ordine, das Scheitern des kaiserzeitlichen Selbstgesprächs im Soliloquium), um darauf anhand von De catechizandis rudibus und De doctrina christiana die Entwicklung einer Form der schriftgebundenen Selbsthermeneutik zu konstatieren, die Moser als »karitativ« bezeichnet (Kapitel VIII).
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Die Implikationen dieses höchst originellen Schlüsselkonzepts werden schließlich ab Kapitel IX in einer präzisen Lektüre der sämtlichen 13 Bücher der Confessiones
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entfaltet: Dabei erhebt Moser insbesondere Einspruch gegen die holzschnittartige Reduzierung des Textes auf dessen angebliche ›Geschlossenheit‹ im Zeichen des Konversionsschemas: Wäre die Konversion, die in der Aufforderung »Tolle, lege« in Augustinus’ Mailänder Garten gipfelt, mit dem restlosen Austritt des Sünders aus seinem früheren Zustand gleichzusetzen, so würde nach Moser auch die Weitergabe der Bekehrung an andere letztlich bedeutungslos beziehungsweise wäre auf eine reine »confessio laudis«, das heißt auf für Dritte letztlich irrelevantes Gotteslob reduziert. Dagegen setzt Moser ein »karitatives« Mitteilungskonzept, das davon ausgeht, Gott offenbare sich selbst aufgrund seiner Nächstenliebe anderen, bewerkstellige dies jedoch nicht im Sinn eines Befehls, sondern mittels einer kontingenten, für das gerufene Subjekt nicht zweifelsfrei als solcher identifizierbaren Äußerung, die sich dieses erst noch im Selbstgespräch aneignen müsse. Dies macht Moser an seiner überzeugenden Lektüre der Konversions-Episode deutlich, wo es offen bleibt, ob der äußere Anlass – eine Kinderstimme, die Augustinus hört – auf einen göttlichen Ruf zurückgeht oder nicht. Die Position des Bekehrten ist damit, wie in Absetzung von der gängigen Annahme der gesamten Augustinus-Forschung unterstrichen wird, zu keinem Zeitpunkt gesichert, das heißt auch nicht im Moment der Niederschrift der Confessiones. Vielmehr hängt sie jederzeit vom hermeneutischen Willen, sich als Gerufener betrachten zu wollen, ab.
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Diese starke These wird von Moser noch weiter zugespitzt, indem er sie – vor einem nicht eigens theoretisierten psychoanalytischen Horizont – auf das Verhältnis von Vater und Mutter beziehungsweise von symbolischer Ordnung und Imaginärem bezieht: Moser sieht im Ruf »Tolle, lege« nicht die autoritäre ›Interpellation‹ durch eine väterliche symbolische Ordnung, sondern den Eintritt in einen ›Schwellenbereich‹ der sprachlichen Kommunikation, mit dem Augustinus versucht, »eine persönliche, der Mutter-Kind-Dyade nachempfundene Beziehung zu Gott zu unterhalten und die Öffentlichkeit doch daran zu beteiligen« (S. 576). Moser schließt mit dieser zunächst überraschenden Annahme einer Verbindung von Sprache und Mütterlichkeit, die eine »mütterliche[ ] Umkodierung der Vaterposition« (S. 513, FN 265) bewirke und dabei selbst vor Gott nicht halt mache, an neuere Augustinus-Deutungen im Zeichen der gender studies an (vgl. S. 446, FN 79). Er geht davon aus, dass der frühkindliche Sprach- und vor allem Schrifterwerb unter mütterlicher Führung, der in den ersten beiden Büchern der Confessiones dargestellt wird, keineswegs nur negativ als Sündenfall zu bewerten sei, wie dies weite Teile der Augustinus-Forschung tut,
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sondern als die zumindest auch positive Annäherung an ein Medium, in dem Gott in Form einer »indirekten, reduzierten Präsenz« (S. 464) mit den Menschen im Zustand nach dem Sündenfall in Kontakt treten kann. Die reduzierte Präsenz Gottes in der mütterlichen (Schrift-)Sprache, die sich dem Sinnlichen öffnet und eine rationale Schließung des Wissens über sich selbst aufschiebt, ist schließlich auch die Voraussetzung dafür, dass Augustinus’ karitative Selbsthermeneutik selbst wiederum auf Leser stößt, die bereit sind, sich von ihr rufen zu lassen.
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Ein solcher Leser ist insbesondere der frühe Humanist Francesco Petrarca, der in seinem autobiographischen Secretum Augustinus zu seinem imaginierten Seelenführer und Beichtvater macht, wobei er die antike Selbstsorge und die christliche Selbsthermeneutik miteinander verbinden möchte – demzufolge lautet der Untertitel des letzten Analyseteils auch »Francesco Petrarca im Spannungsfeld von antiker Selbsttechnologie und augustinischer Sündenanalyse« (S. 589). Im Zentrum steht dabei die Analyse des Secretum (Kapitel XI), die flankiert wird von einer Untersuchung weiterer lateinischer Schriften Petrarcas: De sui ipsius et multorum ignorantia sowie die Familiares-Briefe (Kapitel X). Den Abschluss stellt schließlich eine Untersuchung des bekannten Briefs IV.1 über die Besteigung des Mont Ventoux dar (Kapitel XII), wobei Moser die Besteigung nicht referentiell auf die äußere Landschaft bezieht, sondern allegorisch als Metapher der petrarkischen Selbstkonstitution liest. Die Formel, auf die er Petrarcas Version der buchgestützten Subjektivität dabei bringt, ist eine Emanzipationserklärung, die der neuzeitlichen Autobiographie als Gattung den Weg weist, dabei allerdings durchaus ambivalenter Natur ist: Mosers Befund lautet nämlich, dass die philologische Gipfelschau Petrarcas in der Ventoux-Epistel gar nicht mehr auf selbstpraktische Veränderung, sondern vielmehr auf den Verbleib im Zustand der inerten Selbstkontemplation zielt. Anders ausgedrückt: Die Schrift wird zum Instrument der »Selbstbetäubung« (S. 725). Diese provozierende Charakterisierung des Autobiographischen belegt Moser in seiner Analyse des Secretum mit der Beobachtung, dass es dem erlebenden Subjekt dort nicht darum gehe, sich mit Hilfe seines Seelenführers und Beichtvaters Augustinus tatsächlich zu verändern, sondern vielmehr darum, die »süße Freude« (dulcedo) des Gesprächs lesend auf Dauer zu stellen, womit das Selbst zum »reinen Schreib- und Lektüreeffekt« (S. 683) werde und erstmals ein nicht mehr auf selbstpraktische Veränderung zielendes, sondern ›rein‹ ästhetisches Selbstverhältnis zu Stande komme.
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Mosers Studie endet dort, wo die neuzeitliche Autobiographie anfängt, ist jedoch ganz offensichtlich darauf angelegt, die in ihr vertretenen Thesen auf die gesamte Autobiographieforschung hin zu verlängern – sie will also Grundlagen schaffen, auf die auch die Analyse moderner Autobiographien mit Gewinn zurückgreifen kann. In diesem Anspruch liegt der besondere Wert der Studie, und darum sollen diese Perspektiven auch zum Ansatzpunkt einer abschließenden kritischen Würdigung werden.
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a) Zunächst schiebt Moser völlig zu Recht allzu kurzschlüssigen Übertragungen von antiken Selbstpraktiken auf Texte der Neuzeit und Moderne einen Riegel vor, indem er – in kritischer Abgrenzung gegen Foucault – zu bedenken gibt, dass man klar zwischen empirischen und textuellen Selbstpraktiken unterscheiden müsse und dass erst letztere durch den Exterioritätscharakter der schriftgebundenen ›Werkwerdung‹ von Subjektivität eine literaturwissenschaftlich interessante Dynamik der Selbstreflexion auslösen könnten. Ihm gelingt es weiterhin, durch sein Bestehen auf der Unhintergehbarkeit des Schreibens und Lesens für die Subjektkonstitution eine philologische und eine medienwissenschaftliche Fragestellung zwanglos miteinander zu verkoppeln. Insbesondere die sich wie ein roter Faden durch das Buch hindurchziehende These von der allmählichen Positivierung des Lektüre- und Schreibakts als Medium der Selbstkonstitution, die in die »süße Lust« der Lektüre bei Petrarca mündet, könnte dabei mit großem Gewinn von der literaturwissenschaftlichen Autobiographieforschung bis in die Moderne verlängert werden, wobei man zusätzlich fragen könnte, ob diese Positivierung so bruchlos verlaufen ist beziehungsweise verläuft, wie dies Moser an seinen drei paradigmatischen Analyseteilen suggeriert, und wie diese zunehmende Lust an der textuellen Selbstbespiegelung selbst wiederum medienhistorisch variiert – die einleitenden Überlegungen zum Buch als Spiegel (S. 1–12) geben hier eine Frageperspektive vor, die vielleicht auch jenseits der Metaphorik eine Verlängerung in die Materialität(en) der Schriftgeschichte verdient hätte.
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b) Ein besonders starkes Angebot für Verbindungslinien zur modernen Form der Autobiographie macht Moser ausgehend von Augustinus, indem er die Confessiones aus dem Status eines monolithisch ›geschlossenen‹ master text der Autobiographie herauslöst. Insbesondere die mit gender-Positionen operierende Dekonstruktion des Aussagesubjekts der Confessiones macht die Erschütterung der gängigen These eines aus einer unerschütterlichen Selbsterkenntnis heraus schreibenden Subjekts im Zeichen der männlich-symbolischen Ordnung sehr deutlich. Dass Moser somit bereits Augustinus für ein allgemein als Produkt der Moderne betrachtetes ›interstitielles Schreiben‹ im Zug eines Aufschubs von Wissen gewinnen kann, lässt die augustinische Tradition der Selbsthermeneutik in ganz neuer Weise für die neuzeitliche und moderne Autobiographie interessant werden; weiter zu diskutieren wäre an einer solchen Augustinus-Lektüre sicherlich noch der Stellenwert der ›negativen‹ Anthropologie im Zeichen der Imaginationsskepsis,
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die Moser nicht in Abrede stellt, aber durch die Valorisierung eines mütterlichen Imaginären dennoch in seiner Bedeutung abzuschwächen scheint.
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c) Das zunächst singuläre Experiment eines ›offenen‹ autobiographischen Textes, das Moser mit seiner Lektüre der Confessiones erschließt, wird seiner Auffassung nach durch Petrarca zum institutionalisierten Ort autobiographischer ästhetischer Subjektivität ausgebaut: Diese Hypostasierung eines ästhetischen Selbsterfahrungsraums wirkt aber insgesamt weniger überzeugend als die brillante Augustinus-Lektüre. Insbesondere die provozierende Diagnose eines »selbstbetäubenden« Charakters autobiographischen Schreibens wird bei den Verteidigern eines ›reflexiven‹, über der Verfallenheit an Affekte stehenden Literaturbegriffs auf wenig Gegenliebe stoßen.
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Von einer anderen, eher kulturwissenschaftlichen Perspektive her stellt sich bezüglich derselben These die Frage, ob sich autobiographisches Schreiben jemals in den von Moser postulierten »Schonraum« (S. 685) einer rein ästhetischen Subjektivität einschließen lässt, das heißt im Rahmen einer Gattung pragmatisch sozusagen ›neutralisiert‹ werden kann. Allerdings stellt Moser in seinem Ausblick auf Montaignes Essais überzeugend heraus, dass der von unmittelbaren pragmatischen Bindungen ausgenommene ästhetische Raum des Selbstbezugs nicht immer der Selbstbetäubung dienen muss, sondern auch zu einer Erforschung der Alterität des eigenen Selbst genutzt werden kann, die der modernen ›Autoethnographie‹ den Weg bereitet.
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d) Mit der These der Selbstbetäubung kommt implizit auch die Frage nach dem Verhältnis von textuellen und empirischen Selbstpraktiken ins Spiel, die Moser nicht explizit verhandelt: De facto geht es aber um die Frage einer möglichen über den Raum des Textes selbst hinaus reichenden ›therapeutischen‹ Funktion der Autobiographie beziehungsweise generell des literarischen Schreibakts. Ausgehend von den Texten, die Moser untersucht, könnte man die Frage nach dem Körper- und Affektbezug des Schreibens hier mit weit größerem Nachdruck stellen. Hier erweist sich als Nachteil, dass Moser den von Foucault zum Ausgangspunkt seiner Frage nach dem Subjekt gemachten erotischen, aber auch anderen, zum Beispiel diätetischen, Körperpraktiken in seiner Studie kaum Aufmerksamkeit zollt und darum auch die Ambivalenzen der christlichen Askesetradition weitgehend aus seinem Fokus ausblendet: Vielleicht könnte eine solche Verbindung aber seine durchaus diskutable These von der Hypostasierung des Autobiographischen zum ästhetischen »Schonraum« anders akzentuieren helfen und alternativ zur ›anästhesierenden‹ Funktion des autobiographischen Textes stärker dessen besondere Eignung zum Dispositiv der Steigerung beziehungsweise Kontrolle von Affektivität
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in den Vordergrund stellen. Neben den von Moser untersuchten körperlichen Implikationsformen der konstant ›starken‹, kannibalisierenden Einverleibung bei Seneca und der ›Schwäche‹ festschreibenden Betäubung bei Petrarca würde somit eher eine dialektisch zwischen Stärke und Schwäche vermittelnde körperliche Selbst-Affektion mit dem pharmakon einer schriftgestützen Imagination denkbar, die gerade in der Moderne höchste Bedeutung erlangt.
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Insgesamt dürfte selbst da, wo Christian Mosers Analysen zur »buchgestützten Subjektivität« kritische Fragen provozieren oder zu Gegenhypothesen verleiten, deutlich geworden sein, dass die Frageperspektive dieser eminent wichtigen und fundierten Studie die aktuelle Autobiographieforschung – egal, zu welchem Jahrhundert und in welcher Einzelphilologie – um ganz wesentliche Anregungen bereichert und insbesondere dazu beitragen sollte, die noch weit verbreiteten Berührungsängste zwischen Autobiographieforschung und Medienwissenschaft weiter abzubauen.
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