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Lange vernachlässigt

Eine literaturwissenschaftliche Studie zur Erschließung des Kulturphänomens Oratorium

  • Irmgard Scheitler: Deutschsprachige Oratorienlibretti. Von den Anfängen bis 1730. (Beiträge zur Geschichte der Kirchenmusik 12) Paderborn, München: Ferdinand Schöningh 2005. 429 S. Kartoniert. EUR (D) 60,00.
    ISBN: 978-3-506-72955-2.
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Das Oratorium –
literaturwissenschaftliches Niemandsland?

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Die allgemeine Rezeption von Oratorien wie deren wissenschaftliche Erforschung ist bis dato stark an ihrer Musik orientiert. Hörer goutieren die Musik und Musikwissenschaftler nehmen die Libretti oft nur so weit als nötig für die Erklärung musikalischer Phänomene in den Blick. Lediglich im Falle Johann Sebastian Bachs kam es in den letzten Jahrzehnten zu einer gründlicheren Erforschung der Libretti aufgrund des allgemeinen Unbehagens an den zeitgenössischen Texten in Kantaten, Oratorien und Passionen und dem empfundenen Niveaugefälle zwischen Text und Musik. Hier hat die sogenannte »theologische Bachforschung« Aufklärungsarbeit geleistet, die Kontexte von Predigt- und Erbauungsliteratur erschlossen und das inhaltliche Niveau diesbezüglich neu bestimmt. Die literaturwissenschaftliche Betrachtungsweise fehlte allerdings bislang fast vollständig.

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Die vorliegende Arbeit der durch ihre Studie zum geistlichen Lied der Barockzeit 1 bereits einschlägig ausgewiesenen Autorin füllt diese Lücke mit einer sehr umsichtigen und präzisen Erschließung des hinsichtlich der Quellenlage schwierig zu beackernden Feldes »von den Anfängen bis 1730«, also bis zur allgemeinen Etablierung des Oratoriums als Gattung des bürgerlichen Konzertwesens. Ausgehend von als ergiebig bekannten Orten (z.B. Hamburg, Gotha, Nürnberg), Komponisten (z.B. Georg Philipp Telemann, Gottfried Heinrich Stölzel) und Dichteroeuvres (z.B. Johann Klaj, Friedrich Dedekind) wird dieses Repertoire umfassend untersucht und in seinen Diversifikationen profiliert, literaturhistorisch gewürdigt und dabei auch noch die eine oder andere Textquelle neu erschlossen. Zahlreiche Falschzuweisungen können korrigiert werden, ohne daß die Autorin dieses wohl begründete Besserwissen hervorkehrt. Da in den Textdrucken der Programmzettel der Librettist oft nicht genannt wird, zudem die Praxis des »Pasticcierens« geübt wird, hat sie bemerkenswerten kriminalistischen Spürsinn aufgewandt. Das Problem für die Leser, daß hier über weitgehend unbekannte und extrem schlecht greifbare Texte geschrieben wird, ist entschärft mit gezielt plazierten Textzitaten in zurückhaltendem, aber für den Erkenntnisgewinn hinreichendem Ausmaß. Nur wenige der besprochenen Werke sind auch mit dem Notentext überliefert, was allerdings die rein literaturwissenschaftliche Betrachtungsweise erleichtert hat. Schade, daß auf eine Besprechung der Libretti J. S. Bachs aus dieser Sicht verzichtet wurde. Als Gegengewicht zur Dominanz der theologischen Fragestellung wäre das wünschenswert gewesen.

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Zu den Anfängen der Gattung

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Auf dem mehrspurigen Anweg zum Oratorium als Gattung widmet sich das erste Kapitel dem »Umfeld« im 17. Jahrhundert in Dialogkompositionen, »Actus«, »Redeoratorien« und geistlichen Singdramen und mit dem Spitzenphänomen von Dietrich Buxtehudes Lübecker Abendmusiken, die gerade jetzt mit dem Buxtehude-Jahr 2007 (300. Todestag) wieder verstärkt in den Blick kommen. Gegen schulbuchmäßige Systematisierung und »Vorläufer«-Konstruktionen wird mit der Vielfalt des Befundes belegt, daß von einer ›organischen‹ Entwicklung der Form nicht gesprochen werden kann.

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Spezialfall »Passion«

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Das zweite Kapitel referiert umsichtig die Spielarten und die Entwicklung der Historien-Kompositionen im protestantischen Deutschland mit dem hinsichtlich der Quellenlage umfangreichen Spezialfall »Passion«, wo zum Bibeltext nach und nach größere Anteile an Kirchenliedstrophen und freier Dichtung treten. Zur Profilierung eines auch in Noten überlieferten Werkes werden wie bei der Hamburger Johannes-Passion von 1704 bisweilen auch musikalische Phänomene zur Erklärung mit herangezogen, was methodisch als Bruch erscheint, zumal musikologische Fragestellungen exakter aufgenommen sein müßten – das genannte Werk wird überdies inzwischen wieder Georg Friedrich Händel zugeschrieben. Auch die bei solchen auf konkrete Aufführungsbedingungen bezogenen Texten unvermeidbare Thematisierung des »Sitzes im Leben«, also ihr liturgischer Kontext und dann auch die theologische Fragestellung der hier praktizierten Hermeneutik biblischer Erzählungen wirken etwas handgestrickt. So wird etwa der Begriff »Verkündigung« (S. 124) als undefinierte Chiffre benutzt und steht zudem falsch in Gegensatz zu »Erbauung«. Hier wäre die Bezugnahme auf Forschungsergebnisse aus dem Gebiet der »theologischen Bachforschung« hilfreich gewesen. Gleichwohl wird nach der Lektüre dieses Kapitels jeder mit anderen Augen die ihm in Forschung oder Kulturleben begegnenden Passions-Libretti wahrnehmen und etwa die allegorische Gestalt der »Tochter Zion« in J. S. Bachs Matthäus-Passion oder den »blutgefärbten Rücken« in der Arie Nr. 20 seiner Johannes-Passion zuordnen und damit auch »verstehen« können. 2

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Als für die Durchsetzung des theatralischen Stils in der Kirchenmusik wesentliche Gattung kann die neue Kantatenform (für den allsonntäglichen Bedarf) mit Rezitativ und Arie tatsächlich nicht außer Acht bleiben. Sie wird im dritten Kapitel besprochen namentlich in Bezug auf deren Protagonisten Erdmann Neumeister und dessen Schüler Christian Friedrich Hunold. Beim Referat der Beiträge dazu vom Weimarer Hofpoeten Salomon Franck fehlt allerdings der Verweis auf die im derzeitigen Repertoire präsenten Weimarer Kantaten J. S. Bachs auf diese Texte, welche zudem durch die späteren Leipziger Erweiterungen (BWV 70, 147) eine interessante Variante der Libretto-Transformation bieten.

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Das »poetische Oratorium«

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Nach diesem sachgerechten, über 150 Seiten langen Anweg kommt erst im vierten Kapitel das »poetische Oratorium«, also das vollständig neugedichtete Libretto (ohne Bibeltext-Zitate) in seinen Anfängen in den Blick. Hier muss zunächst kurz der Ursprung der Gattung in Italien referiert werden, ehe das erste große Zentrum in Deutschland, die Hansestadt Hamburg mit ihren heftig geführten Auseinandersetzungen um die neue Kunstform, Thema ist. Die Autorin kann sich dabei auf ausführliche Arbeiten von Musikwissenschaftlern zu den historischen Vorgängen stützen und bringt ihrerseits eine gründliche Besprechung der Libretti ein, welche die Unterschiede und Entwicklungen auch in feinen Nuancen präzise benennt. Für die Musikwissenschaft besonders hilfreich wird die vorgelegte Besprechung der viel vertonten Brockes-Passion sein, deren für heutige Wahrnehmung schwer verträgliche, exaltierte Ausdrucksweise so nachvollziehbar wird.

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Deutschsprachige Libretti im katholischen Raum

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Eine hinsichtlich der bisherigen Forschungsgeschichte überraschende Horizonterweiterung bringt das fünfte Kapitel, wo oratorische Formen (z.B. Sepolcro – Grablegungsinszenierungen) in den süddeutsch-katholischen Gebieten (Wien, Salzburg, Prag sowie bei den Jesuiten) erhoben werden, wo neben der Dominanz von italienischen Texten bei weltlicher und von lateinischen bei geistlicher Musik doch auch spezifische deutschsprachige Gattungsbeiträge auszumachen sind, namentlich unter (und von) Kaiser Leopold I. in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts und dann auch zeitgleich zum Aufblühen des Oratoriums in Norddeutschland. Gleichwohl sind nur sehr wenige konkrete Grenzüberschreitungen zwischen protestantischen und katholischen Gebieten hinsichtlich dieser Form auszumachen.

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Das Oratorium als etablierte Form

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Unter dem Signet »etablierte Form« kommen im sechsten Kapitel die Oratorien der Jahre 1710 bis 1730 mit verschiedenen Sujets zur Sprache in den Zentren Lübeck (die Abendmusiken unter Buxtehudes Nachfolger Johann Christian Schieferdecker), Frankfurt (unter dem jungen Telemann), Hamburg (Telemann ab 1721, Johann Mattheson u.a.), schließlich auch Breslau und Gotha (unter Hofkapellmeister Stölzel ab 1719, wo der Autorin die weitere Identifizierung eines Gattungsbeitrags gelingt). Auch Bachs Leipziger Librettist Picander (Christian Friedrich Henrici) wird noch gewürdigt mit einem bereits 1725 publizierten Passionslibretto, das Bach offenbar nicht vertont hat. Ein abschließendes, differenziertes Resümee erörtert das Verhältnis des poetischen Oratoriums zu Oper und Drama und dokumentiert so den Erkenntnisgewinn aus der Fülle der untersuchten Quellen. Mit dem seit Telemanns Seligem Erwägen von 1722 zu beobachtenden Stilwandel vom Dramatischen zum Lyrischen tritt ein neues Textmuster auf, dessen Dominanz ab 1730 für die Autorin die Epochengrenze ihrer Untersuchung markiert. Wer wie der Rezensent von der bisherigen Darstellung fasziniert wurde, reagiert an dieser Stelle unwillkürlich mit »Schade!« und wünscht sich eine Fortsetzung, zumal diese lyrischen Oratorienlibretti (z.B. Carl Heinrich Graun, Der Tod Jesu; Johann Christoph Friedrich Bach, Die Pilgrimme von Golgatha) durch Notenneuausgaben in jüngster Zeit und vermehrte Aufführungen wieder neu in den Blick kommen und die der Bach-Rezeption anzurechnende Dominanz des epischen Idioms vielleicht einmal überwinden könnten.

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Die wenigen greifbaren theoretischen Äußerungen über das Oratorium zwischen Neumeister zu Beginn des 18. Jahrhunderts über Johann Adolph Scheibe 1737 bis hin zu Johann Friedrich Löwen 1758 behandelt das kurze siebte Kapitel, wodurch die an den Gattungsexemplaren erhobenen, spezifischen Distinktionen und auch der epochale Stilwandel zum Lyrischen noch deutlicher werden.

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Einige Abbildungen veranschaulichen (leider nur) Hamburger Aufführungsstätten, unter den beiden Faksimilia von Libretto-Titelblättern ist allerdings auch ein »Wiennerisches«. Das Literaturverzeichnis trennt sinnvoll Publikationen der behandelten Epoche und neuere Forschungsliteratur. Auch Orts- und Personenregister sind getrennt. Letzteres ermöglicht mit Nennung der Werktitel bei den jeweiligen Komponisten oder Librettisten auch das Auffinden einzelner Titel.

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Fazit

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Diese (bereits im April 2004 abgeschlossene und wegen Verlagswechsels in der Drucklegung verzögerte) Arbeit stellt sicherlich einen Meilenstein dar auf dem Weg zur Erschließung des Kulturphänomens »Oratorium« in seiner Vielschichtigkeit, welche in der Forschung nur interdisziplinär erschlossen werden kann. Musikwissenschaft wie Theologie müssen sich hier den notwendigen literaturwissenschaftlichen Horizont aufzeigen lassen, umgekehrt wären von hier aus zahlreiche präzisere Verknüpfungen zu theologisch historischen und hermeneutischen Fragestellungen wie zum musikwissenschaftlichen Diskurs herzustellen, welche reziprok wiederum die literaturwissenschaftliche Fragestellung modifizieren könnten. Auch die kultursoziologische Fragestellung – höfischer oder bürgerlicher Aufführungskontext, damit verbunden die Beschaffenheit des Aufführungsapparates (Vokal- und Instrumentalbesetzung, Mitwirkung eines »Chores«) – wäre für die Genese einzelner Libretti wohl noch spezieller zu berücksichtigen.

 
 

Anmerkungen

Irmgard Scheitler: Das geistliche Lied im deutschen Barock. Berlin 1982.   zurück
Vgl. dazu Jörg Krämer: Bild/Wort, Ton/Wort. Wirkungen des emblematischen Denkens auf die Musik der Barockzeit am Beispiel von J. S. Bachs Johannes-Passion. In: Ernst Rohmer / Werner W. Schnabel / Gunther Witting (Hg.): Texte, Bilder, Kontexte. Interdisziplinäre Beiträge zu Literatur, Kunst und Ästhetik der Neuzeit. (Beihefte zum Euphorion 36) Heidelberg: Winter 2000, S. 257–283.   zurück