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Auf der Suche nach dem internationalen Verbrecher

  • Jens Jäger: Verfolgung durch Verwaltung. Internationales Verbrechen und internationale Polizeikooperation 1880-1933. Konstanz: UVK - Universitätsverlag Konstanz 2006. 424 S. Broschiert. EUR (D) 44,00.
    ISBN: 978-3-89669-568-0.
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»Internationales Verbrechen«
als Sujet

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»Er landete mit einer Maschine aus Wien auf dem Flughafen von Athen. Er hätte mit dieser Maschine aus New York, London, Frankfurt oder Moskau kommen können – oder direkt aus Wien«, 1 meint Arthur Simpson bei seinem Versuch, die Geschichte Harpers zu rekapitulieren. Der mit allen Wassern gewaschene Hoteldieb Simpson, ein in Griechenland lebender Brite mit ägyptischem Pass, war in die Fänge eines noch Größeren geraten, der ihn als Kopf einer internationalen Verbrecherbande dafür benutzte, einen unglaublichen Plan zu verwirklichen: den in der Türkei bestgesicherten Serailschatz zu entwenden.

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Den historischen Wurzeln jenes Sujets des ›internationalen Verbrechertums‹, das die Fantasie Eric Amblers beflügelte und ihn beispielsweise zur Kriminalgeschichte Topkapi inspirierte, ist Jens Jäger nun in seiner Habilitationsschrift Verfolgung durch Verwaltung nachgegangen. Jäger verfolgt die Entwicklung von »internationalem Verbrechen und internationaler Polizeikooperation« von 1880 bis 1933. Für seine 424 Seiten starke Arbeit hat er – und das ist ein entscheidendes Verdienst – Dokumente aus Deutschland, aber auch aus London, Paris, Wien und Buren zusammengetragen. Mit diesem Sample europäischer Verwaltungsakten gelingt es Jäger, einen Strang der kriminalpolizeilichen Praxis in Europa exemplarisch zu verfolgen: die Bemühungen um internationale polizeiliche Kooperation in der Ahndung ›internationaler Kriminalität‹, die 1923 in der Gründung der Internationalen Kriminalpolizeilichen Kommission (IKPK), dem Vorläufer von Interpol, kulminierte. Der ›Delinquententypus‹ des ›internationalen Kriminellen‹ sei dabei im spezifischen historischen Kontext von Urbanisierung, Technisierung und allgemein gestiegener Mobilität Ende des 19. und frühen 20. Jahrhunderts »von Juristen, Kriminologen und Kriminalbeamten als der ideale Verbrecher konzipiert worden« (S. 247).

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Er wurde gleichsam zum »Wunschgegner« (Jäger) höherer Kriminalbeamter, so wie es in der Kriminalanthropologie Lombrosos der atavistische ›geborene Verbrecher‹ war, in der Psychiatrie des ausgehenden 19. Jahrhunderts ein von ›psychopathischer Minderwertigkeit‹ gezeichneter Straftäter oder in der Kriminalbiologie der 1920er Jahre vielleicht der ›asoziale Psychopath‹.

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Die Deutung von
Kriminalität um 1880

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In einem seit den 1880er Jahren anschwellenden Kriminaldiskurs lassen sich kriminalwissenschaftliche und kriminalpolizeiliche Debatten voneinander unterscheiden; es mag zwischen beiden vielfältige Verflechtungen geben, hinzuweisen ist aber auf folgende bedeutsame Unterschiede: In der kriminalwissenschaftlichen Debatte finden sich Ansätze, Kriminalität als sozialpathologisches Phänomen zu begreifen, ›Verbrecher‹ als ›abnorm‹ zu definieren. Solche Sichtweisen scheinen im medizin-psychiatrischen Modell der ›psychopathischen Minderwertigkeit‹ oder in Konzepten, wonach ›Degeneration‹ oder eine ›ungünstige Erbanlagenkombination‹ als Ursache oder Grundlage kriminellen Handels betrachtet wurde. Kriminalität konnte, so etwas vergröbert die Prämisse dieser Ansätze, gebannt werden, wenn ›erblich belastete‹ Delinquenten aus der Gesellschaft ausgeschlossen, die ›Gelegenheitstäter‹ zur Abschreckung bestraft würden. Von diesen Denkrichtungen zu unterscheiden sind solche Bemühungen, insbesondere innerhalb der Kriminalpolizei, die ›Berufsverbrecher‹ unter den Straftätern dingfest zu machen, um das Phänomen ›Kriminalität‹ in den Griff zu bekommen. Dem Konzept des ›Berufsverbrechers‹ lag nicht eigentlich ein sozialpathologisches Modell zugrunde. Es basierte vielmehr auf dem Ansatz, wonach das Gros der Kriminalität auf eine Gruppe häufig hoch spezialisierter, intelligenter und rational handelnder Delinquenten zurückgeführt werden könne, die gewerbsmäßig Straftaten begingen.

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Mit seiner Untersuchung des Phänomens ›internationales Verbrechen‹ und dessen Verfolgung hat sich Jäger dem zweiten Strang zugewandt, wobei er seinen Blick immer wieder – international vergleichend – auf die kriminalwissenschaftliche Entwicklung und jene dort dominierenden psychopathologischen Ansätzen ausweitet (siehe insbesondere das Kapitel 2.1.1). Dies ist deshalb besonders verdienstvoll, weil kriminalwissenschaftliche und kriminalpolizeiliche Felder nicht trennscharf voneinander abgesteckt waren. 2

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Die ›Elite der Verbrecher‹
als bürgerliche Inversion

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Jens Jäger macht deutlich, dass der um die Jahrhundertwende entstandene Typus des ›internationalen Verbrechers‹ durchaus eine Erweiterung und Zusammenführung älterer Vorstellungen eines regionen- und länderübergreifend agierenden Delinquenten war, der jedoch mit neuen Elementen versehen worden sei. Jäger begreift – methodisch am kriminalsoziologischen Labeling Approach orientiert – den ›internationalen Verbrecher‹ nicht als ›Abbild der Wirklichkeit‹. Er geht vielmehr davon aus, dass er aus einer spezifischen kriminalpolizeilichen Wahrnehmung hervorging; er habe zur Selbstvergewisserung und internen wie öffentlichen Selbstlegitimation gedient. Handlungsleitend sei »der feste Glaube an ein sich vergrößerndes, mehrheitlich aus Männern bestehendes Berufsverbrechertum sowie die Professionalisierung auf beiden Seiten des Gesetzes« gewesen (S. 114). Hatte man es mit der Elite des Verbrechertums zu tun, so war es auf Seiten der Kriminalpolizei nur logisch zu glauben, man bräuchte entsprechend geschultes und ausgebildetes polizeiliches Elitepersonal und modernste technische Ausrüstung. Einbindung ständiger technischer Innovation – Fotografie, Anthropometrie oder Daktyloskopie – war die Konsequenz. Aus dieser Perspektive kann die Konstruktion des ›Internationalen Verbrechers‹ und die damit einhergehende Fortentwicklung kriminaltechnischer Verfahren als spezifische Reaktion auf die Moderne schlechthin gedeutet werden.

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Der ›internationale Verbrecher‹ verhielt sich komplementär zur bürgerlichen Elite. Die kriminalistische Typisierung brachte somit auch ein gesellschaftliches Selbstverständnis der höheren Polizeibeamten zum Ausdruck: »Für viele Experten«, so Jäger, »waren die Hochstapler oder die Hoteldiebe auch deswegen die Elite der Verbrecher, weil sie dort aktiv waren, wo die bürgerliche Elite sich aufhielt« (S. 250). Der 1914 in Monaco ausgetragene »Congrès de Police Judicaire« – Jäger beschreibt ihn als Meilenstein auf dem Weg zur internationalen polizeilichen Kooperation – habe nicht von ungefähr eine mythenbildende Kraft entfalten können. Hier, an der mondänen Côte d’Azur, wo zum Beiprogramm der Konferenz beispielsweise ein Empfang im Palast, ein Galaabend in Monte Carlo und eine Kreuzfahrt gehörten – sei in den Augen der Tagungsteilnehmer die bürgerliche und verbrecherische Elite virtuell aufeinander getroffen wie sonst nirgendwo.

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Pazifizierung Europas durch
internationale Polizeikooperation?

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Durch seinen international vergleichenden Zugriff zeigt Jens Jägers nicht nur, wie sich kriminalpraktische Überlegungen in Europa synchron entwickelten; er eröffnet auch eine neue Perspektive auf die transnationalen Beziehungen in der Zwischenkriegszeit. Mit dem Ersten Weltkrieg wurden die Fäden der polizeilichen Kooperation zwischen den Ländern unterbrochen; in den Nachkriegsjahren war die Zusammenarbeit mit Deutschland von europäischen Partnern nicht immer erwünscht (vgl. insbesondere S. 310–312). Das Feld der internationalen polizeilichen Kooperation bot die Möglichkeit, nationale Abwehrhaltungen zu überwinden. Kern war die Einsicht, dass ›internationales Verbrechertum‹ schlechterdings nicht lokalisiert werden könne und transnationale Zusammenarbeit in seiner Bekämpfung deshalb unabdingbar sei. »Beamte aus Staaten der ehemaligen Kriegsgegner, aber auch aus neutralen Staaten sahen in den Problemen nach 1918 Schwierigkeiten, die nur gemeinsam zu lösen waren« (S. 50). Vor dem Hintergrund nationaler Aversionen der Zwischenkriegszeit ist dies kein unerheblicher Befund.

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Die IKPK, ein grandioses
potemkinsches Dorf?

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Der Erfolg der IKPK bestand darin, ein belastbares, kommunikatives Netzwerk in Europa zu schaffen, das über die politischen Verwerfungen hinweg (zumindest latent) Bestand hatte. Doch Jäger zeigt, wie sehr sich die Institution – die über »keinerlei eigene Mitarbeiter« (S. 368) verfügte – bürokratisch selbst beschäftigen konnte; ja, dass ein »großer Teil der Arbeit der IKPK [...] im Ausbau ihres eigenen Mythos« bestand (S. 386). Mit Blick auf die Netzwerkbildung kann die IKPK zwar nicht als Maschine des Stillstands beschrieben werden; sie war kein grandioses potemkinsches Dorf. Allerdings waren messbare, auf die IKPK zurückgehende Fahndungserfolge offenbar rar. Es ist ein weiteres Verdienst Jägers, dies zu thematisieren und keine affirmative Erfolgsgeschichte der IKPK geschrieben zu haben.

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An einem signifikanten Beispiel verdichtet der Autor, wie »die Fiktion der eigenen Tätigkeit [...] die erfahrene Praxis« überlagerte (S. 348). In den Jahren 1925 bis 1933 sei in dem Publikationsorgan der IKPK, der Internationalen Öffentlichen Sicherheit, nur ein »größerer Fall« – nämlich »die Verhaftung des so genannten Eisenbahnattentäters Sylvester Matuschka« – als »Beispiel [...] funktionierender Polizeikooperation« einzeln vorgestellt worden.

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Matuschka hatte im Winter 1930/31 D-Züge in Torbagy (Ungarn) und Jüterbog (Deutschland) durch Bombenexplosionen zum Entgleisen gebracht. Fieberhafte Ermittlungen folgten. Verhaftet wurde Matuschka schließlich nicht aufgrund überragender, international koordinierter Polizeiarbeit, sondern weil er sich aufgrund unvorsichtigen Verhaltens selbst in Verdacht gebracht hatte (S. 347).
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Man denkt an Arthur Simpson. Die geraubten Juwelen waren in die Hände des türkischen Sicherheitsdienstes gelangt; doch nicht durch gelungene Kooperation zwischen Geheimdienst – mit dem Simpson gezwungenermaßen hatte zusammenarbeiten müssen –, Kriminalpolizei oder Interpol, sondern durch seinen wahnwitzigen Alleingang. Zufall und Eigensinn waren zusammengekommen. Es ging ihm darum, seinen Kopf vor dem kaltblütigen und erpresserischen Harper zu retten.

 
 

Anmerkungen

Eric Ambler: Topkapi. München: Süddeutsche Zeitung 2006, S. 5. Die englische Originalausgabe erschien 1962 unter dem Titel »The Light of Day«.   zurück
So gab es zumindest personell Überschneidungen zwischen den polizeilichen und kriminologisch-kriminalbiologischen Bereichen: Dies wird deutlich, wenn man die Zusammensetzung der jeweils zentralen Organisationen miteinander vergleicht: Wichtige IKPK-Funktionäre waren etwa der 1927 gegründeten Kriminalbiologischen Gesellschaft beigetreten. Der langjährige IKPK-Vorsitzende Hans Schober (von 1923 bis 1932) wurde gar zum Ehrenpräsidenten ernannt. Auch Franz Brandel, der 1932 den IKPK-Vorsitz von Schober übernahm, war Mitglied der ›ersten Stunde‹. Er hatte 1929 auf einer Tagung der Kriminalbiologischen Gesellschaft über »Die kriminalbiologische Untersuchungsstelle der Wiener Polizeidirektion« referiert. Auch Steinhäusel, IKPK-Vorsitzender von 1938 bis 1940, gehörte der Kriminalbiologischen Gesellschaft an, ebenso wie die Gremienmitglieder Palitzsch und Weiß. Daneben waren im Lauf der Jahre zahlreiche weitere höhere Polizeiangehörige der Kriminalbiologischen Gesellschaft beigetreten. Die engen Verflechtungen zwischen IKPK und Kriminalbiologischer Gesellschaft thematisiert Jäger kaum. (Eine Ausnahme bilden Erwähnungen von Vorträgen einiger Protagonisten der Kriminalbiologischen Gesellschaft auf IKPK-Tagungen; S. 348, Fn. 964, und S. 349, Fn. 968.) Er klammert diesen Aspekt jedoch nicht zu Unrecht aus, denn alles entscheidend war die polizeiliche Stimme in der Kriminalbiologischen Gesellschaft wohl eher nicht.   zurück