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»Legal Lynchings«

Über Todesstrafe und Lynchjustiz
im US-amerikanischen Süden um 1900

  • Margaret Vandiver: Lethal Punishment. Lynchings and Legal Executions in the South. (RUP Criminology) New Brunswick/NJ: Rutgers University Press 2006. 336 S. 10 s/w Abb. Paperback. USD 27,95.
    ISBN: 0-8135-3728-2.
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Fehlurteile und Rassismus in der Todesjustiz:
Eine Geschichte der Gegenwart

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Seit einigen Jahren geraten auch in den USA die Todesstrafe und ihre Verfechter zunehmend in Bedrängnis. Vor allem die Justizirrtümer und Fehlurteile dokumentieren die Unsicherheit, Unvollkommenheit und auch die Willkür der Justiz immer wieder dann in aller Deutlichkeit, wenn unschuldige, oft in letzter Sekunde freigelassene Todeskandidaten der Öffentlichkeit präsentiert werden. Die Frage, ob diese vermeintliche ›Unvollkommenheit‹ nicht vielmehr ein tragender Bestandteil des Systems ist, wird vor allem dann aufgeworfen, wenn man sich den nach wie vor evidenten Rassismus im Wirken Justitias in den USA genauer anschaut.

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Rassistische Wahrnehmungsstrukturen und Diskriminierungsmechanismen scheinen bis heute fortzuleben, und zwar seit der Sklaverei bzw. mindestens seit der Zeit der US-amerikanischen Apartheid vom späten 19. Jahrhundert bis in die ausgehenden 1960er Jahre hinein. Aus einer solchen Perspektive betrachtet ist es naheliegend, die US-amerikanische Todesjustiz in die Kontinuität der so genannten Lynchings zu stellen, und der afroamerikanische Bürgerrechtler und Politiker Jesse Jackson bringt diese Verbindung auf den Punkt, wenn er den Vollzug eines Todesurteils als »Legal Lynching« bezeichnet. 1 Rund viertausend Menschen, überwiegend schwarze Männer im US-amerikanischen Süden, sind vor allem zwischen den 1880er und den 1920er Jahren vorwiegend weißen Mobs zum Opfer gefallen, die sie zuerst malträtiert und gepeinigt und dann erhängt, mit Kugeln durchsiebt und verbrannt haben. Die rechts- und sozialwissenschaftliche Forschung versucht nun seit einigen Jahren schon, die Zuspitzung Jacksons zu differenzieren. Die Darstellungen von David Garland über Timothy Kaufman-Osborn bis zu Franklin Zimring unterscheiden sich beträchtlich, und zwar hinsichtlich von Fragestellungen, Vorgehensweisen wie Ergebnissen. Trotz aller Unterschiede besteht jedoch Einigkeit darin, dass ein Verständnis der heutigen Todesjustiz und ihrer Wirkungsweisen einer Auseinandersetzung mit der Lynchjustiz um 1900 bedarf. 2

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»Lethal Punishment«
in Tennessee und Florida um 1900

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Einen weiteren Beitrag zu dieser Debatte bietet die Studie der Kriminologin Margaret Vandiver über Lethal Punishment. Vandiver geht insofern einen etwas anderen Weg als Garland oder Zimring, als dass sie Lynchings und Todesjustiz im Süden, und hier insbesondere in ausgewählten Bezirken Tennessees und Floridas, im Zeitraum zwischen den 1880er und den 1930er Jahren zueinander in Beziehung setzt. Die heutige Todesjustiz ist also nicht explizit Gegenstand ihrer Untersuchung. Als Prämisse hebt Vandiver die Differenzierung zwischen Todesstrafe als rechtmäßiger Tötung und Lynching als unrechtmäßiger Tötung auf, indem sie beide Formen tödlicher Gewalt unter der Rubrik »lethal social control« fasst. Eine vermeintlich klar markierbare Unterscheidung zwischen Todesjustiz und Lynchmob wird durch das Selbstverständnis wie die Verfahrensweisen der Zeitgenossen aufgebrochen. Während die Verfahren der Todesjustiz vor allem dann, wenn weiße Kläger und schwarze Angeklagte im Gerichtssaal aufeinander trafen, nur äußerst selten den Standards von Rechtmäßigkeit entsprachen, empfanden sich Lychmobs in aller Regel ›im Recht‹ und nahmen für sich in Anspruch, Recht und Ordnung zu sichern und an Stelle einer defizitären Justiz zu agieren.

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Dies als Grundlage setzend, argumentiert Vandiver überzeugend, dass nur ›Nahaufnahmen‹, also genaue Blicke auf einzelne Fälle, die jeweiligen Verfahrens- und Funktionsweisen der »lethal social control«, ihre Überlagerungen und Unterscheidungen verdeutlichen können. Entsprechend sieht sie von einer quantifizierenden Betrachtung ab, wie sie etwa Franklin Zimring in seiner Studie bietet, und konzentriert sich auf beispielhafte Analysen. Gleichwohl bindet sie diese in strukturierende Betrachtungen der Todesjustiz und der Lynchings in Tennessee und Florida ein. So kommt sie zwar einerseits zu der Schlussfolgerung, dass die sozialen Funktionen von Todesstrafe und Lynching sehr ähnlich sind, dass aber etwa im Nordwesten Tennessees der Lynchmob in der Regel dann agierte, wenn das Erregungspotenzial der Öffentlichkeit höher war. Und dies war üblicherweise eben dann der Fall, wenn ein schwarzer Täter und ein weißes Opfer ausgemacht schienen. Für Teile Floridas wiederum ist feststellbar, dass mit dem Tod als Strafe – ganz gleich, ob durch die Justiz oder durch den Lynchmob herbeigeführt – ausschließlich schwarze Männer bedroht waren.

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Umbrüche der 1920er Jahre

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Eine neuralgische Zeit markierten offenbar die 1920er Jahre. Zunehmend weite Kreise des Südens empfanden die Lynchmobs offenbar als unangemessen und als Ausdruck eines Mangels an männlicher Selbstkontrolle und staatlicher Souveränität. Auch wenn, wie Vandiver zeigt, die Lynchmobs häufig bestrebt waren, den Anschein der Gerechtigkeitspflege zu erwecken und ihre scheinbare Legitimität und sogar Legalität unter Beweis zu stellen, indem sie Anhörungen vornahmen, regelrechte Verfahren durchspielten und so zu einem ›gerechten Urteil‹ fanden, verfestigte sich im Laufe der Jahre auch im Süden die Sorge vor der Herrschaft eines unkontrollierten Mobs und dem Verlust staatlicher Ordnung und Souveränität. Damit verbunden war eine zunehmende Furcht vor wachsendem schwarzem Widerstand, sollte es nicht gelingen, der »lethal social control« durch die konsequente Einbindung in das Procedere der Justiz zumindest den Anschein von Gerechtigkeit zu geben. Schließlich existierte ein zunehmend vehementer Widerstand gegen die Lynchjustiz schon seit den 1890er Jahren, der immer mehr an Fahrt gewann und im frühen 20. Jahrhundert auch mit einer wachsenden und erstmals partiell erfolgreichen Opposition gegen die Todesstrafe korrelierte. Zumindest Tennessee schaffte die Todesstrafe im Jahr 1915 für einige wenige Jahre weitestgehend ab. Bemerkenswert ist, dass sie einzig für Vergewaltigung beibehalten wurde – und der ›schwarze Vergewaltiger‹ war seit dem Ende der Sklaverei die obsessive Furcht der weißen südstaatlichen Gesellschaft und als weithin überzeugende Kollektivbegründung für die vielen Lynchmorde an schwarzen Männern in der ›white community‹ fest verankert. Dass es im Einzelfall viel eher darum ging, solche schwarzen Männer in die Schranken zu verweisen, die ökonomisch oder politische erfolgreich waren, änderte nichts an der herausgehobenen Stellung der Vergewaltigung als paradigmatischer Erklärung für die Lynchjustiz und deren Legitimität und sogar Notwendigkeit.

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Offene Ergebnisse

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Margaret Vandiver trägt mit ihrer Studie dazu bei, die Gegenwart der US-amerikanischen Todesjustiz durch den Blick in die Vergangenheit besser zu verstehen, und sie schreibt sich in eine zunehmend lebendige Debatte über diesen Konnex ein. Doch auch wenn das Buch viele erhellende Erkenntnisse bietet, wichtige Kontexte aufbereitet und Begründungszusammenhänge beispielhaft herstellt, bleibt der Leser etwas ratlos zurück. So wird der Rückgang der Lynchings ab den 1920er Jahren zwar immer wieder in Beziehung zur Todesjustiz gestellt, doch auch die ›legalen‹ Hinrichtungen nehmen ab den 1940er Jahren ab. Ähnlich werden die Einzelfälle zwar immer wieder in den breiteren Kontext des US-amerikanischen Südens und seiner Geschichte gerückt, aber zu einem Gesamtbild verdichten sie sich nicht. Dies mag an der Komplexität der Konstellation dienen, oder daran, dass Margaret Vandiver den optimalen Zugang zu ihrem Thema doch nicht gefunden hat. Ihre Bemerkung eingangs der Schlussbetrachtung, »I found no consistent patterns across the three areas that would allow me to reach broad conclusions« (S. 176), klingt denn auch ein wenig wie ein enttäuschtes Eingeständnis des eigenen Scheiterns. Weitere Geschichts-, Sozial- und RechtswissenschaftlerInnen werden sich in der kommenden Zeit an diesem Thema erproben müssen.

 
 

Anmerkungen

Jesse Jackson: Legal Lynching. Racism, Injustice, and the Death Penalty. New York: Marlow & Co. 1996; J. J.: Legal Lynching. The Death Penalty and America’s Future. New York: New Press 2001.   zurück
Franklin E. Zimring: The Contradictions of American Capital Punishment. New York: Oxford University Press 2003; Timothy Kaufman-Osborn: Capital Punishment as Legal Lynching. In: Charles J. Ogletree, Jr. / Austin Sarat (Hg.): From Lynch Mobs to the Killing State. Race and the Death Penalty in America. New York: New York University Press 2006, S. 21–54; David Garland: Penal Excess and Surplus Meaning. Public Torture Lynchings in Twentieth Century America. In: Law and Society Review 39, 4 (2005), S. 793–833; D. G.: Capital Punishment and American Culture. In: Punishment and Society 7, 4 (2005), S. 347–376; D. G.: Von den Formen und Funktionen der amerikanischen Todesstrafe. In: Susanne Krasmann / Jürgen Martschukat (Hg.): Gewalt, Ordnung, Staatlichkeit. Bielefeld: transcript 2007 (erscheint demnächst), und im selben Band Jürgen Martschukat: Strafgewalten und Zivilisationsentwürfe in den USA um 1900, ebd.; siehe auch J. M.: »Little Short of Judicial Murder.« Todesstrafe und Afro-Amerikaner, 1930–1972. In: Geschichte und Gesellschaft 30, 3 (2004), S. 490–526.   zurück