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»De l'esprit«

Jost Schillemeit über Goethe, Bonaventura und mehr

  • Jost Schillemeit: Studien zur Goethezeit. Hg. von Rosemarie Schillemeit. Göttingen: Wallstein 2006. 620 S. 2 Abb. Gebunden. EUR (D) 45,00.
    ISBN: 978-3-8353-0027-9.
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Inhalt

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Der von Rosemarie Schillemeit herausgegebene Band enthält 25 zwischen 1964 und 2001 entstandene und größtenteils bereits an anderer Stelle publizierte Aufsätze sowie den Wiederabdruck einer (vergriffenen) Monographie von Jost Schillemeit (1931–2002), Ordinarius für Deutsche Literaturwissenschaft an der TU Braunschweig. Fünf Kapitel systematisieren die Arbeiten chronologisch und thematisch:

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»I. Poetik und Hermeneutik« (S. 9–112) – mit Studien zu Lessings und Mendelssohns Diskussion über das Trauerspiel (1984), zur Konzeption der »›triadischen‹ Gattungspoetik« (S. 28) um 1800 (1989), zu Friedrich Schlegels Literaturtheorie (1972) und mit einer Interpretation von Hölderlins »Friedensfeier« (1977),

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»II. Goethe« (S. 115–307) mit dem Schwerpunkt Faust,

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»III. Bonaventura« (S. 311–437), die bereits 1973 erschienene Monographie, in der Schillemeit das Pseudonym des Verfassers der Nachtwachen lüftet,

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»IV. Heine, Mörike, Gutzkow, Fontane, Raabe« – mit Arbeiten zu Heines Buch Le Grand (S. 441–461; 1975) und seinem Verhältnis zur Geschichte (S. 462–475; 1976), zur »Licht- und Klangmetaphorik in Mörikes Lyrik« (S. 476–491; 1967), zu Gutzkows Wally, die Zweiflerin (S. 492–497; 1965), zu Fontanes Einstellung zum Judentum (S. 498–518; 1988) und »Zur Entstehungsweise Raabescher Erzählungen« (S. 519–538; 1981), sowie

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»V. Philologische Streifzüge« (S. 541–615) – mit ausführlichen Rezensionen zu Herman Meyers Das Zitat in der Erzählkunst (1964) und Hendrik Birus’ Poetische Namengebung (1982) sowie einer sprachhistorischen Studie zum Begriff »Erlebnis« (2001) und Überlegungen zum »Geometer und die Dichtung« (1977), einer rätselhaften Anekdote über literarische Wertungen eines nicht zweifelsfrei zu identifizierenden französischen Mathematikers.

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Der titelgebende Epochenbegriff »Goethezeit« erscheint angesichts dieses nicht nur thematisch weiten Spektrums problematisch. Die Herausgeberin betont jedoch in einer editorischen Notiz (S. 616) ausdrücklich, dass der Titel nur einen Schwerpunkt des Bandes benennt und freilich kaum diejenigen Studien zu Autoren umfassen kann, die »höchstens zur Nachhut der Goethezeit zu zählen sind« (ebd.). Der Verfasser, so Rosemarie Schillemeit, habe an eine Veröffentlichung seiner Studien in dieser Form nicht gedacht. Für die Zusammenstellung und den Titel zeichne sie allein verantwortlich (ebd.).

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Wege zu Goethe und Faust

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Goethe steht mit insgesamt elf Aufsätzen im Zentrum des Bandes. Um fünf Studien zur Faust-Dichtung, die im Folgenden näher vorgestellt werden, da ihre Ergebnisse vielfach Nachhall in der fachwissenschaftlichen Diskussion fanden, gruppieren sich Untersuchungen, die – wie auch Schillemeits Arbeiten zu Faust II – vor allem dem Werk, der Ästhetik und der Poetologie des späten Goethe gewidmet sind: Überlegungen zu den Wanderjahren (»›Historisches Menschengefühl‹. Über einige Aphorismen in Goethes ›Wanderjahren‹, S. 235–253; 1976) und eine frühe begriffshistorische Analyse (»Zum Begriff des ›Erlebten‹ beim späten Goethe«, S. 268–274; 1967), Studien zu Goethes nicht nur literarischen Beziehungen zu Polen und Frankreich (»Goethe und Radziwill«, S. 214–234; 1988; »›Le Globe No. 43, sehr bedeutend‹. Ein Beitrag zum Thema ›Der späte Goethe und Frankreich‹«, S. 254–267; 1982) und zu »Montan«, ein »Versuch eines Überblicks über Goethes geognostische Studien« (S. 289–307) von 1977, als Forschungen zu Goethes Naturlehre(n) und naturwissenschaftlichen Arbeiten noch am Anfang standen. Nur »Goethe und Heinrich Meyer« (S. 275–288) von 1993 widmet sich mit »den römischen Anfängen der klassischen Weimarer Kunstlehre« dem »vorklassischen« Goethe.

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Laut einer literarischen Anekdote, deren Ursprung, Weg und Bedeutung Schillemeit vom 18. bis ins 20. Jahrhundert nachzeichnet (S. 541–560), fragt sich ein »berühmter« Mathematiker, Goethes Geometer (S. 541), 1 nach der Lektüre von Racines Iphigénie: »Qu’est-ce que cela prouve?« (S. 544) – Schillemeit liest Goethe und beweist einiges. Die Goethe-Studien sind in der Darstellung von Problemen und Fragen zur Entstehungsgeschichte und zur Konzeption des Faust beispielhaft für Methode, Vorgehensweise und Darstellung von Schillemeits philologischer Forschung. Auch für Schillemeit wurde die Beschäftigung mit Faust II, besonders seit den 1980er Jahren, zum »Hauptgeschäft« seiner literarhistorischen Arbeit. 2

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Eine detaillierte Darstellung der »Entstehungszusammenhänge« (S. 115) des »Vorspiel[s] auf dem Theater zu Goethes Faust« (S. 115–137; 1986) führt Schillemeit zu einer neuen Datierung und gleichzeitig zu einer Antwort auf die Frage, warum das Vorspiel in einem so offensichtlich formal wie inhaltlich disparaten Verhältnis zum folgenden Dramentext steht. Bereits Momme Mommsen datierte 1953 das Vorspiel – entgegen früheren Datierungen – auf das Jahr 1798 und gab überzeugende Argumente dafür, den Text in die Nähe zu Goethes in dieser Zeit intensiven kunst- und theatertheoretischen Beschäftigungen zu rücken, wie Schillemeit referiert (S. 118–123). Tatsächlich fehlen in Goethes Zeugnissen eindeutige Hinweise zur Arbeit am Vorspiel. Ausgehend von Mommsens Untersuchung entfaltet Schillemeit alle relevanten Kontexte um 1798, einem Jahr, in dem es für Goethe »eine ganze Reihe von konkreten Anlässen gab, sich mit praktischen Fragen des Theaters zu befassen« (S. 122), wie das Gastspiel Ifflands, die Leitung der Arbeiten am Umbau des Weimarer Theaters oder die Pläne zur Erstaufführung von Wallensteins Lager. Ausschlaggebend für die Datierung auf das zweite Halbjahr, präziser August / September 1798, sei jedoch die Einleitung in die Propyläen (1798), 3 in der Goethe nicht nur das Programm der Zeitschrift vorstellt, sondern »im Medium allgemeiner, kunsttheoretischer Reflexion« (S. 130) auch Fragen der künstlerischen Produktion in ihrem Verhältnis zum Publikum erörtert, die in großer thematischer Nähe zum Vorspiel stehen (S. 130 f.). Bereits Oskar Seidlin legte 1949/1952 dar, das Vorspiel sei ursprünglich gar nicht für Faust, sondern für Goethes (geplante) Fortsetzung von Mozarts Zauberflöte entstanden. Schillemeit ist anderer Ansicht. Er ordnet das Vorspiel Goethes Kasualpoesie zu – eigens verfasst zur Wiedereröffnung des Weimarer Theaters. Dadurch erklärten sich neben den thematisch-inhaltlichen Diskrepanzen zum Dramentext auch metrische Besonderheiten: Die »Stanzenform« (S. 136) zu Beginn des Vorspiels »ist ein überaus charakteristisches Formelement dieser Art von Gelegenheitsdichtung« (ebd.). Zur Aufführung am 12.10.1798 kam es nicht – es wurde 1808 zu einem der drei Einleitungstexte des Faust.

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Entstehungsgeschichte und Datierungsprobleme, Fragen der Zuordnung und daran anschließend Interpretationsmöglichkeiten eines Faust-Textes stehen auch in »Faust und der tragische Trimeter. Zur Vorgeschichte der ›Klassischen Walpurgisnacht‹« (S. 156–173; 1985) im Mittelpunkt. Das Faust-Paralipomenon 158, 4 ein sechzehnzeiliger Dialog zwischen Faust und »M«, unmittelbar vor dem Abstieg in die Unterwelt, um Helena loszubitten – eine Szene, die dann nicht ausgeführt wurde –, ist ein Beispiel für ein »Stilphänomen« (S. 156) mit »ironisch-kritische[n] Reflexionen über den jambischen Trimeter« (S. 159), das in den Vorarbeiten zu Faust II wesentlich stärker hervortritt als im ausgeführten Text (S. 156–158). »M« wurde mit Rückgriff auf das »Antecedenzien«-Schema (1827) und andere Quellen bisher stets als »M(anto)« aufgelöst, zuletzt auch im Artikel »babylonisch« im Goethe-Wörterbuch, hier sogar ohne Klammerzusätze. 5 Was als unbedeutend innerhalb der Pläne und Skizzen zu Faust II gelten könnte – ob »Manto« als Auflösung der Abkürzung stehen darf oder nicht – erweist sich durch Schillemeits Ausführungen als wichtiges Detail für das Verständnis der Konzeption, aber auch für den »stilistischen Habitus« (S. 172) der »Klassischen Walpurgisnacht«. Drei Gründe sprechen für Schillemeit gegen »Manto«: 1. der parodistisch-ironische Stil der Szene, der mit Mantos Sprechen nicht vereinbar sei (S. 158 f.), 2. die schwierige Identifizierung der von »M« als »Allerälteste« apostrophierten Figur, eine Bezeichnung, die aus dem Mund Mantos mythologisch nicht zu erklären sei (S. 159), und 3. entstehungsgeschichtliche Details des Paralipomenons, das bisher in die Nähe der »Antecedenzien« gerückt wurde, aus formal-stilistischen Gründen jedoch mit großer Wahrscheinlichkeit früher entstanden sein müsse (S. 159 f.).

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Eine Synopse der Handschriften, besonders der im Umkreis des Paralipomenons 158 entstandenen Skizzen sowie der entsprechenden Szenen des ausgeführten Textes zeichnet einen großen Teil der Entstehungsgeschichte und Planung der »Klassischen Walpurgisnacht« nach und erlaubt Schillemeit, als Dialogpartner Fausts eindeutig Mephisto zu überführen (S. 165–169). 6 Damit klären sich auch die Fragen um die stilistischen Abweichungen und das mythologische Rätsel um die »Allerälteste«: Manto wird – so zeigen es die Überlieferungsverhältnisse und die benachbarten Texte des Paralipomenons, das Schillemeit auf April 1826 datiert – erst im Spätherbst 1826 von Goethe nach gründlichen mythologischen Recherchen genannt (S. 169–172):

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Nicht Manto also, die Ernste, Schweigsame, »Sinnige« und »Wohldenkende«, die hier noch gar nicht aufgetaucht ist im Horizont der sich allmählich ausgestalteten Dichtung, sondern Mephisto ist es, der hier mit Faust redet und ihn belehrt über Wesen und Form des jambischen Trimeters, dabei parodisch aus der Rolle fallend wie auch sonst öfter, auch im ausgeführten Text der Dichtung [...] (S. 168 f.).
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Auch theoretische Schriften Goethes führen Schillemeit zu Faust II: »Produktive Interpretation. Goethes ›Nachlese zu Aristoteles Poetik‹« (S. 138–155; 1981) und »Satyrspiel und tragische Tetralogien. Zum Kontext eines philologischen Themas beim späten Goethe« (S. 174–192; 1987) zeigen Rezeption und »Anverwandlung« antiker Poetik im Zusammenhang mit dem »Hauptgeschäft«.

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Ebenso wie Goethes Farbenlehre gehört auch die Nachlese zu Aristoteles Poetik (1827) 7 »zu den Goetheschen Schriften, die für den Autor mehr bedeuteten als für das Publikum« (S. 138). Schillemeits Titel »Produktive Interpretation« meint somit auch nicht eine »philologische ›Rettung‹ der Goetheschen Auslegung« (S. 138), sondern die Folgen von Goethes (Fehl-)Deutung des Begriffs »Katharsis« für seine Dichtung, speziell für Faust II. Goethe versteht unter »Katharsis« nicht die durch Mitleid und Furcht herbeigeführte Reinigung der Zuschauer von ebensolchen Leidenschaften. Für ihn bezieht sich Aristoteles’ »Katharsis« auf Wesen und Konstruktion der (antiken) Tragödie selbst: »Er [Aristoteles] spricht ganz klar und richtig aus: wenn sie [die Tragödie] durch einen Verlauf von Mitleid und Furcht erregenden Mitteln durchgegangen, so müsse sie mit Ausgleichung, mit Versöhnung solcher Leidenschaften zuletzt auf dem Theater ihre Arbeit abschließen.« 8 Entstehungszeit und poetischer Kontext, Briefdokumente und die Antezedenzien zeigten den produktiven, »poetisch-praktische[n]« (S. 154) Zusammenhang von Goethes Beschäftigung mit Aristoteles’ Poetik mit der endgültigen Konzeption für den zweiten Teil des Faust. Goethe finde in der Auseinandersetzung mit Aristoteles, vor allem in seinem »eigenen, vermeintlich aristotelischen Katharsisbegriff« (S. 148) – mit zum Teil »leicht polemischer Wendung gegen die bisherigen Auslegungsversuche« (S. 149) –, Klärung poetologischer Fragen, die ihn während der Pläne zur Fortsetzung des Faust beschäftigten. Die für die Zeitgenossen lediglich falsche Deutung von »Katharsis« verwandele Goethe in poetische Produktion: Für ihn stelle sie in seiner Interpretation eine ›ästhetische Rechtfertigung‹ (S. 153) dar für eine Konzeption von Faust II, die »offenbar als ›Versöhnung‹, als ›aussöhnende Abrundung‹ [...] nach den ›Greueln‹ und besonders dem ›jammervollen Abschluß‹ des ersten Teils« (S. 152) gedacht war. Die poetologische »Formel, die er brauchte« (S. 153) und die er bei Aristoteles fand, erkläre somit auch, warum Goethe sich in seiner Deutung trotz der stichhaltigen Argumente seiner »Gegner« nicht beirren ließ: »Ich aber muß bei meiner Überzeugung bleiben, weil ich die Folgen die mir daraus geworden nicht entbehren kann«. 9

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Mit dem »Faustparalipomenon 164a« 10 (S. 193–213; 1987) – einem zwar wenig beachteten, jedoch »besonders aufschlußreiche[n] Zeugnis aus einer bestimmten Phase der Entstehungs- und Konzeptionsgeschichte des Faust II« (S. 194) – zeichnet Schillemeit die »Arbeit Goethes an der ›Helena‹-Dichtung« (S. 193) nach. Die inhaltliche Analyse im Zusammenhang mit benachbarten Paralipomena und den »Reinschrift(en)« des Helena-Aktes erklärt »Sinn, Ort und Anlage« (S. 205) des schwer verständlichen Textfragments; gleichzeitig ergibt sie eine nahezu exakte Datierung auf Anfang April 1825 (»wahrscheinlich am 2. April«, S. 213) und deutet den weiteren Verlauf der Handlung an – Andeutungen, die zu einer Korrektur der bisherigen Lesart führen: Die vermeintlich poetologischen Überlegungen, angedeutet in der letzten Zeile des Paralipomenons, entpuppen sich als Stichpunkte für die inhaltliche Konzeption der Handlungsfortsetzung und geben somit auch Anhaltspunkte für eine Rekonstruktion der Faust II-Entwürfe. Gemeint sei, wie in der Handschrift durch die Einrückung der letzten beiden Zeilen erkennbar ist, nicht der die Struktur des Dramas betreffende Grundsatz von den »Drey Einheiten«, sondern »Drey Einheit« oder »DreyEinheit« mit deutlichem Bezug auf die Verbindung von Faust, Helena und Euphorion (S. 208 f.).

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Ein Indizienprozess

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In der Monographie »Bonaventura. Der Verfasser der Nachtwachen« (S. 311–437; 1973) fällt Schillemeit nach Abschluss eines philologischen Indizienprozesses das Urteil über ein bis 1973 trotz vieler (ungesicherter) Annahmen nicht gelüftetes Pseudonym: Als Verfasser der 1804 erschienenen Nachtwachen des Bonaventura, einem in sechzehn einzelnen Stücken erzählten fingierten, abenteuerlichen, von skurrilen Ereignissen ausgeschmückten Lebenslauf, der in satirisch-kritischem Gestus als Persiflage auf zeitgenössisches bürgerliches Leben und dessen kulturell-ästhetische Vorlieben gilt, identifiziert Schillemeit Ernst August Friedrich Klingemann (1777–1831), Theaterdirektor in Braunschweig, unter dessen Leitung 1829 in Braunschweig die Uraufführung von Goethes Faust stattfand. Das Urteil in Schillemeits Indizienprozess blieb nicht unumstritten. In der Fachdiskussion wurden nicht nur das Ergebnis, sondern auch die Zuverlässigkeit seiner Methode bezweifelt. 11 Zuschreibungen zu weit namhafteren Persönlichkeiten als Klingemann gab es bereits kurz nach Erscheinen des Buches: Schelling, E.T.A. Hoffmann, Karl Friedrich Gottlob Wetzel, Jean Paul, Clemens Brentano und schließlich auch Caroline Schlegel (S. 315–331) standen in der Diskussion. Bis über die Mitte der 1980er Jahre hinaus galt die Verfasserfrage weiterhin als unentschieden.

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Die »Methode der [...] Verfasserbestimmung« (S. 311), die Schillemeit anwendet, ist »die des Indizienbeweises« (ebd.). Auf die Spur Klingemanns führen Schillemeit ein Vorabdruck eines Teils der Nachtwachen in der damals viel beachteten Zeitung für die elegante Welt von 1804 und ein ebenfalls dort 1805 publizierter Artikel, der mit »Bonaventura« gezeichnet ist (S. 332 f.). Die Fährte zum Verfasser verfolgt Schillemeit auf zwei Wegen: Er wertet diejenigen Artikel der Jahrgänge 1804/1805 aus, die in – so die Analysekategorien – »Wortlaut« (S. 334), »Motive[n]« (ebd.), Themen und stilistischen Zügen Übereinstimmungen zum Text der Nachtwachen aufweisen. Die Entsprechungen, die Schillemeit findet, lassen Klingemann »in eine beträchtliche Nähe zum Verfasser der Nachtwachen« (S. 340) rücken. Der zweite Schritt ist eine exemplarische Analyse der »kritische[n] und erzählende[n] Schriften« (S. 365) Klingemanns. Der Vergleich zeigt eine Vielzahl formaler und inhaltlicher Parallelen, die Schillemeit letztlich als beweiskräftig genug erscheinen, Klingemann als den Autor der Nachtwachen zu identifizieren und gleichzeitig – auf akribischer Analyse aufbauend – in seinem Fazit nicht nur eine literarische Wertung des Werkes, sondern auch Gründe für die anonyme Veröffentlichung zu geben. Der Beweis für Schillemeits Indizienurteil tauchte 1987 auf: In der Amsterdamer Universitätsbibliothek entdeckte man in der»Sammlung Diederichs« Briefe Klingemanns und ein Manuskript mit biographischen Notizen und einer Liste seiner Werke, von Klingemann eigenhändig vervollständigt: »Nachtwachen von Bonaventura, Penig Dienemann 1804.« 12

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Literarhistorisches Panorama

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Die induktive Vorgehensweise Schillemeits zeichnet auch die anderen Arbeiten des Bandes aus. So bleiben die Überlegungen zu Heine und Mörike oder Fontane und Raabe, um nur noch die »Nachhut der Goethezeit« zu nennen, ebenfalls nicht bei der Betrachtung eines einzelnen Aspektes stehen. Den Einzelanalysen, für deren Beweiskraft die Ergebnisse der Goethe-Studien stehen, folgen werkübergreifende Interpretationen, die Kontexte, oft auch die Voraussetzungen, sprachliche Eigenheiten und Begriffsverwendungen, aber auch Kontinuitäten und Entwicklungen innerhalb des ganzen Werks einbeziehen, um literarhistorische Besonderheiten, Brüche oder Parallelen benennen und einordnen zu können.

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Der philologischen Akribie entspricht Struktur und Stil der Arbeiten. Fragen und Erkenntnisinteresse sind, um die eigene Position ab- und einzugrenzen, stets eingebettet in ein ebenso kritisches wie – was nicht selbstverständlich ist – würdigendes Resümee der Forschungsliteratur, das zugleich jeweils den aktuellen Forschungsstand zusammenfasst. Durch die geschliffene, von terminologischem Ballast freie Diktion, die nicht theoretisiert, sondern schrittweise am Material entlangführt, hat auch der Leser die Möglichkeit, an Schillemeits Spurensuche und Entdeckungen teilzuhaben. Schillemeits Studien öffnen ein weites literarhistorisches Panorama nicht nur zur Goethezeit: comme cette étude le prouve.

 
 

Anmerkungen

Schillemeit vermutet, dass es sich bei dem von Goethe erwähnten »Geometer« (Goethes Werke. Hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. [Weimarer Ausgabe], I. Abt., Bd. 36. Weimar 1893, S. 289) um Gilles Personne Roberval (1602–1675) handelt (S. 559).   zurück
So Goethes wiederholte Bezeichnung für seine Arbeit am Faust. Vgl. z.B. Tagebuch vom 29.6.1831. Goethes Werke (Anm. 1), III. Abt., Bd. 13. Weimar 1903, S. 102. Vgl. hierzu auch Schillemeits Rezension von: Anne Bohnenkamp: »...das Hauptgeschäft nicht außer Augen lassend«. Die Paralipomena zu Goethes ›Faust‹. Frankfurt/M. 1994. In: Arbitrium 3 (1996), S. 362–365. – 2002 waren, so Rosemarie Schillemeit, die sehr umfangreichen Vorarbeiten für eine Darstellung der »Entstehungs- und Konzeptionsgeschichte des Faust II« von Jost Schillemeit abgeschlossen, »zur Darstellung selbst aber ist der Verfasser nicht mehr gekommen.« (S. 213, Anm. 26).   zurück
Goethes Werke (Anm. 1), I. Abt., Bd. 47. Weimar 1896, S. 5–32.   zurück
Goethes Werke (Anm. 1), I. Abt., Bd. 15/2. Weimar 1888, S. 225.   zurück
Goethe-Wörterbuch. Hg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, der Akademie der Wissenschaften in Göttingen und der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Bd. 2. Stuttgart 1989, Sp. 3.   zurück
So dann auch Albrecht Schöne in Darbietung und Kommentar der Faust-Paralipomena mit Verweis auf Schillemeits Deutung. Vgl. Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. [Frankfurter Ausgabe]. Hg. von Friedmar Apel u.a. 40 Bde. in 43 Teilen. Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag 1987–1999. Bd. 7/1: Faust. Texte. Hg. von Albrecht Schöne, S. 625; Bd. 7/2: Faust. Kommentare. Von Albrecht Schöne, S. 992.   zurück
Goethes Werke (Anm. 1), I. Abt., Bd. 41/2. Weimar 1903, S. 247–251.   zurück
Ebd., S. 248.   zurück
An Zelter, 31.12.1829. Goethes Werke (Anm. 1), IV. Abt., Bd. 46. Weimar 1908, S. 200. Vgl. Schillemeit 2006, S. 140.   zurück
10 
Goethes Werke (Anm. 1), I. Abt., Bd. 53. Weimar 1914, S. 369 f. Textwiedergabe nach dem Abdruck von Morris und Reproduktion des Handschriftenfotos: Schillemeit 2006, S. 194 und 209.   zurück
11 
Vgl. hierzu die Überblicksdarstellung zur Rezeption von Schillemeits Untersuchung bei Ruth Haag: Noch einmal: Der Verfasser der Nachtwachen von Bonaventura. In: Euphorion 81 (1987), S. 286–297.   zurück
12 
Vgl. Ruth Haag (Anm. 11), S. 294–296. Vgl. Schillemeit 2006, S. 437, Anm. 34.   zurück