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Von Achill zu Al-Qaida

Sloterdijks Essay zur politischen Ökonomie des Zorns

  • Peter Sloterdijk: Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer Versuch. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2006. 365 S. Gebunden. EUR (D) 22,80.
    ISBN: 9783518418406.
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Von der Zornanleihe zur Zornzentrale, von der Zornbewirtschaftung zur Zornverwertung, vom Zornhandwerk zur Zornsparkasse, so weit (und noch viel weiter) reicht das Metaphern-ABC des Zorns, mit dem Peter Sloterdijk in seinem neuen Buch Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer Versuch anhebt, die psychopolitische Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts neu zu schreiben. Dem gegenwartsdiagnostischen Ausgangspunkt von islamistischem Terror und brennenden Autos in den französischen Vorstädten steht in diesem Versuch ein weites Ausgreifen in die Anthropologie und Psychologie bei den frühen Griechen, bei Juden und Christen gegenüber. Der Zorn, so will es Sloterdijk, ist der vergessene Schlüssel zum Verständnis der psychopolitischen Geschichte des Abendlandes und insbesondere der Katastrophengeschichte des 20. Jahrhunderts.

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Sloterdijks Buch, dessen stringente und (historisch-chronologisch) aufeinander aufbauende Argumentation in eine Einleitung und vier Abschnitte gegliedert ist

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1. »Zorngeschäfte im Allgemeinen«

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2. »Der zornige Gott«

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3. »Die thymotische Revolution«

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4. »Zornzerstreuung in der Ära der Mitte«

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wird im Folgenden einer ausführlichen Kritik unterzogen. Zur besseren Übersichtlichkeit folge ich dabei der Abschnittsgliederung, die Sloterdijks Versuch vorgibt.

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Die wie so oft bei Sloterdijk im doppelten Sinne blendenden metaphorischen Effekte resultieren in diesem Essay aus der Interferenz zweier aufeinander projizierter Begriffsreihen: der affektischen des Zorns und der ökonomischen des Kapitals. Sloterdijk hat »vor dem Hintergrund einer allgemeinen Phänomenologie der Schatzbildungen und ihrer Überführung in regionale Kapitalprozesse« (S. 221) den Zorn als »Rohstoff« und »Betriebskapital« für politische »Dissidenzsammelstellen« entdeckt.

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Das eigentliche argumentative Zentrum ist daher auch das dritte Kapitel, in dem Sloterdijk vom Kommunismus als einer »Weltbank des Zorns« erzählt und von ihr aus den Versuch macht, die gesamte Gewalt- und Katastrophengeschichte des 20. Jahrhunderts nicht nur zu beschreiben, sondern begründend herzuleiten.

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Will man, wie Sloterdijk, eine Theorie der Psychopolitik plausibel machen, in der der Zorn die Hauptrolle spielt, dann ist klar, dass nicht der Holocaust die Perspektive auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts dominieren kann. Denn gerade die nationalsozialistische Massenvernichtung ist das beispiellose Beispiel eines dezidiert affektlosen Genozids. Man kommt dem Holocaust nicht mit dem Affekt des Zorns bei. Revolutionen dagegen (wie die Russische) und die verschiedenen »linksfaschistischen« Versuche, sie im Namen eines Kampfes für kommende Gerechtigkeit auf Dauer zu stellen (Lenin, Stalin, Mao), machen einen Konnex zum Zorn und seiner politischen Verwertung schon plausibler.

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Dennoch, und darauf wird zurückzukommen sein, hat Sloterdijk im Durchgang seines Essay (unausgesprochene) Schwierigkeiten, die Politik des 20. Jahrhunderts konsequent auf den Zorn zu beziehen. Sloterdijk versucht sie zu lösen bzw. zu verdecken, indem er seinem psychopolitischen Versuch eine Anthropologie unterlegt, die den aus der Antike hergeleiteten Begriff des thymos ins Zentrum rückt. Die begriffliche Setzung bzw. Wiederentdeckung des ›Thymotischen‹ gegen eine Reduktion des Menschen auf das Erotische ist die grundlegende Leistung des Einleitungskapitels und zugleich ein produktiver Kerngedanke des Buches.

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Zorn, Thymotik und Francis Fukuyama:
Sloterdijks »Einleitung«

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Sloterdijk wirft der Anthropologie der Moderne vor, den Stolz, das Anerkennungsstreben und, mit beiden, den Zorn marginalisiert und pathologisiert zu haben (S. 29 f.). Das ›Thymotische‹ sei zugunsten des Erotischen vergessen worden. Den vom griechischen thymos her gebildeten Begriff des ›Thymotischen‹, den Sloterdijk demgegenüber als zweiten anthropologischen Grundbegriff gegen das Erotische setzt, entlehnt er weniger bei den Griechen selbst, als vielmehr aus Francis Fukuyamas Buch Das Ende der Geschichte. Denn sieht man nach, was thymos im Griechischen ursprünglich bedeutet, dann findet man gerade zusammen, was nach Sloterdijk getrennt werden soll: Thymos nennen die Griechen sowohl Wunsch, Begierde, Verlangen als auch Gemüt, Leidenschaft, Aufregung, Zorn. 1

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Für Fukuyama dagegen bezeichnet thymos ein Streben bzw. eine Regung, die nicht im Verlangen aufgeht, sondern als Anerkennungsstreben auch gegen das eigene sinnliche Begehren arbeiten kann. Fukuyama rekurriert dabei auf Platons Begriff des thymos, wie dieser ihn im vierten Buch des Staates als jenen Seelenteil entwickelt, der zwischen Begehren und Vernunft steht – und aus dem ein Zorn entspringt, der mit Selbstachtung und Sinn für Gerechtigkeit zusammenhängt. 2 »Thymos«, so heißt es bei Fukuyama, ist »nichts anderes als der psychologische Sitz des Hegelschen Strebens nach Anerkennung« 3 , und dieses wiederum ist der »eigentliche Motor der Menschheitsgeschichte«. 4 Der Mensch, so könnte man Fukuyama verstehen, ist das Tier, das vergleicht. Das, was er ist und kann, vergleicht er mit der Anerkennung, die er dafür bekommt, und sich selbst vergleicht er mit anderen, die er übertreffen will.

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Diese platonisch-hegelianische Begriffskonstruktion Fukuyamas (der sich wiederum auf Leo Strauss und Alexandre Kojève bezieht) legt nun auch Sloterdijk, in allerdings modifizierter Form, seiner gesamten Theorie einer Psychopolitik als eine Grundenergie unter, die den Menschen von »seinem Stolz, seinem Mut, seiner Beherztheit, seinem Geltungsdrang, seinem Verlangen nach Gerechtigkeit, seinem Gefühl für Würde und Ehre, seiner Indignation und seinen kämpferischen Energien« (S. 27 f.) her denkt. Sloterdijks Buch ist im Kern eine (als solche auch deklarierte) mitunter anspielungsreiche Amplifikation jener »gedankenreichsten Abschnitte des ungelesenen Bestsellers ›Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?‹ « (S. 41) über den Thymos. 5

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Während allerdings Fukuyama den »thymotischen Teil der Seele« 6 vor allem vom Pol des Wertvergleichs, des Anerkennungsstrebens und seiner Übersteigerungen (»megalothymia«) her denkt, das heißt als ein Verlangen, das als Katalysator in politischen Konflikten immer mit wirksam ist, so stellt Sloterdijk demgegenüber den Pol des Protests und des Widerstands, des Zorns und der Rache ins Zentrum, das heißt einen Affekt, den er als verwertbaren und speicherbaren »Rohstoff« des Politischen zur Geltung bringen will. Sloterdijk substantiviert den ›thymotischen Seelenteil‹ Fukuyamas zum ›Thymotischen‹.

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Den Zorn auf das ›Thymotische‹ zu beziehen, auf Stolz, Selbstaffirmation und Geltungsdrang, ist in der Tat insofern antikes Denken, als der Zorn hier als eine Reaktion auf Ehrkränkung gedeutet wird, als Rachewunsch angesichts einer schmerzenden Geringschätzung. Allerdings vermisst man bei Sloterdijk (und Fukuyama) eine Unterscheidung von Ehre und Stolz. Denn weder in der untergegangenen Welt des homerischen Achills, in der der Zorn laut Sloterdijk noch »Primärenergie« (S. 17) war, noch auch in der Zorntheorie von Aristoteles, die Sloterdijk leider unerwähnt lässt, geht es um Stolz im Sinne einer subjektiven Gewissheit des eigenen Werts oder des Gefühls einer Zufriedenheit mit sich selbst (und auch nicht um Geltungsdrang), sondern um Ehre, also um die Zirkulation von Anerkennungszeichen im Rahmen von Gruppenkommunikationen.

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Richtig sieht Sloterdijk aber, dass der Konnex von Zorn und Ehre, der bis ins 18. Jahrhundert das Verständnis des Zorns prägt und seine Definition als Rachewunsch grundiert, in den Psychologien der Moderne stark in den Hintergrund tritt. Während aber Fukuyama dieses Phänomen (einmal mehr plausibler) als einen Prozess der Modernisierung beschreibt und an den liberalen Theorien von Hobbes und Locke festmacht, die den Menschen auf das Ökonomische und den verlangenden und vernünftigen Teil der Seele reduzieren, spricht Sloterdijk von einer verschwörungsähnlichen Verdunkelung des ›Thymotischen‹ durch eine psychoanalytische Anthropologie, die den Menschen auf das Erotische beschränken will.

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Doch der aufklärerische Feldzug gegen Begriffe wie Ehre und Rache sowie die in der Tat im 18. Jahrhundert beobachtbare Abkehr von der antiken Psychologie ist m.E. nicht zu deuten als der konspirative Versuch, »den Menschen ab ovo als Hampelmann der Liebe zu portraitieren«, um ihn zu einem »Patienten ohne Stolz« (S. 30) zu machen, sondern als ein Korrelat der biopolitischen Wende der Politik und ihrer Ausrichtung auf das Leben. Im Kampf gegen die Ehre (Kindsmörderinnen, Duelle) oder die Rache (im Diskurs des Strafrechts) geht es um das Gewaltmonopol des biopolitischen Zugriffs auf die Ressource des menschlichen Lebens. Dabei wird das ›Thymotische‹ auch nicht einfach vom Erotischen verdunkelt und verdrängt, sondern es wird spezifisch modernisiert.

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Wo etwa noch Thomasius in seiner Theorie des Zorns diesen, wie in der Antike, mit Ehrstreben koppelt und ihn als Wunsch nach Rache definiert, da fällt bei den Zorndiskursen seit Mitte des 18. Jahrhunderts das Moment von Ehre und Rache zunehmend aus. Der Zorn, der immer als dezidierter Affekt des Herrschers und des Mächtigen galt, wird nun gewissermaßen demokratisiert und als Reaktion auf eine energetische Blockade gedeutet, d.h. als Selbstbehauptung eines lebendigen Organismus reformuliert. »Zorn«, so kann man etwa bei Kant lesen, »ist ein Schreck, der zugleich die Kräfte zum Widerstand gegen das Übel schnell rege macht«. 7

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Am Leitfaden von Energie und Widerstand werden um 1800 Vorformen des Begriffs der Aggression entwickelt, der in Analogie zur Autopoeisis des Organismus auch die Anerkennung des Selbst oder der eigenen Gruppe mit einschließt. Das kann man im Übrigen gut an Schillers Verbrecher aus verlorener Ehre studieren, der gerade – entgegen der Sloterdijkschen Behauptung – ganz dezidiert kein »Wüterich« (S. 94) ist, sondern um Anerkennung ringt. 8 Und diese Hindernisüberwindungs-Energie wird durchaus in intensiver Weise zur Mobilisierung von militärischen und politischen Kampfenergien genutzt, allerdings jetzt nicht mehr unter primärem Rekurs auf Zorn und Rache, sondern auf Interesse und biologisches Leben.

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Hass und Krieg zwischen Familien bzw. Nationen, so sagt es etwa Johann Gottfried Herder in seiner berühmten Schrift über den Sprachursprung, können nicht erschöpfend mit der Konkurrenz um die gleichen knappen Güter erklärt werden: »Ein viel heißerer Funke glimmt ihr Feuer an – Eifersucht, Gefühl der Ehre, Stolz auf ihr Geschlecht und ihren Vorzug.« 9 Herder erklärt daher den »Familien«- und »Nationalhaß« damit, dass es dieselbe Kraft ist, die nach innen konstitutiv und nach außen destruktiv wirkt. In die Argumentationslinie eines solchen gruppenkohäsiven, aggressiven und identitätsstiftenden Ehrstrebens gehört im Grunde auch Sloterdijks Begriff des ›Thymotischen‹, da auch er den punktuellen Affekt des Zorns an eine dauerhaft treibende Selbst-Geltungs-Energie rückkoppelt.

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In seiner überspitzten Kritik an der modernen, ja an der christlich-abendländischen Thymosvergessenheit und ihrer Versessenheit aufs Erotische vergisst Sloterdijk also, dass im Kontext organologischen Denkens seit Ende des 18. Jahrhunderts durchaus energetische Konfliktmodelle entwickelt werden, ohne die im Übrigen der Hegelsche Begriff der Anerkennung (und Fukuyamas Begriff des Thymos) gar nicht denkbar wäre.

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Das entscheidende zorngeschichtliche Ereignis der Moderne jedenfalls, die Ablösung des alteuropäischen Modells des Zorns durch eine dauerhaft treibende Energie, die – unter Berufung auf die Lebenskraft – Selbstkonstitution und Fremdabwehr gleichermaßen leisten soll, bleibt unter Sloterdijks Begriff des ›Thymotischen‹ verdeckt. Zumindest wenn man allein auf die platonische Begriffsverwendung rekurriert, denn ursprünglich, lange vor Platon und Aristoteles, bezeichnete thymos tatsächlich die »Lebenskraft« 10 . Und Sloterdijk greift zur Beschreibung des ›Thymotischen‹ selbst auf die biologische Metaphorik des Organismus und des von seiner Umwelt entkoppelten »Warmblüters« zurück, der sein »mentales Gegenstück in den thymotischen Regungen der Einzelnen wie der Gruppen« (S. 38) habe, d.h. sein Begriff des Zorns und des ›Thymotischen‹ ist trotz seines antiken Gewandes untrennbar gebunden an das Epistem der Moderne.

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Dennoch und bei aller Kritik im Einzelnen, die Wiederentdeckung des ›Thymotischen‹ neben dem Erotischen (bzw. dem Ökonomischen) ist der wohl wichtigste Ertrag des Buches von Sloterdijk, da er eine echte Alternative zum Begriff der Aggression darstellt und ermöglicht, die (zumeist völlig unverstandene) Modernität von Ehr- und Wutphänomenen jenseits von Narzissmustheorien (und ihren Zwängen) und auch jenseits von Destruktionstrieben zu denken.

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Sloterdijk und insbesondere Fukuyama ist vorbehaltlos darin zuzustimmen, dass politische Prozesse nicht zureichend von einer Anthropologie des Verlangens verstanden werden können. Gerade die jüngste Zeit bietet eine erschlagene Fülle an Beispielen für die Rolle, die Ehre, Anerkennung und Geringschätzung in politischen Konflikten und als Faktor ihrer Eskalation spielen.

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1. Zur Theorie der »Zorngeschäfte« –
von der Fülle des Schmerzes

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Sloterdijks erstes Kapitel (»Zorngeschäfte im allgemeinen«), auf der die gesamte psycho-politische Argumentation des Folgenden basiert, entwickelt den Gedanken einer politischen Zornbank von einer originellen Psychologie des Zorns her, gemäß der der Zornige nicht als zerstörungswütiges Mängelwesen und der Hassende nicht als alles verachtender Nihilist, sondern beide als Geber zu denken seien, die den Zorn als Energie verausgaben.

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Die zu verausgabende Überfülle des Zornigen ist sein Schmerz, den er nun zum Ausgleich der Verhältnisse an eine bestimmte Stelle der Welt zu bringen gewillt sei, wo seinem Empfinden nach zuwenig Schmerz vorhanden ist. Zorn heißt Schmerzvermehrung an einer bestimmten Stelle der Welt. Der Zorn erscheint so als generöse Geste der Gabe, als »Schmerzspende« (S. 91).

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Denkt man den Zorn in diesem Sinn als Energie der Fülle, als Ressource oder »Rohstoff« (S. 97), dann, so Sloterdijk, ist plausibel zu fragen, wie es um die Endlichkeit, die Steigerbarkeit und die Umwandelbarkeit von solchen »Vorräten, Schätzen oder Guthaben« (S. 95) bestellt ist. Sloterdijk nimmt dabei eine Art Entwicklungs- bzw. Fortschrittsgeschichte des Zorns an, in der sich der Zorn von der primitiven Form seiner momentanen »thymotischen Abreaktion« zum Hass erweitert und von da in die »Projektform« (S. 96) der Rache und schließlich in die »Bankform« (S. 99) der Revolution überführt wird:

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Die Zornmassen durchlaufen die Metamorphose von der blinden Verausgabung im Hier und Jetzt bis zum hellsichtig geplanten weltgeschichtlichen Projekt einer Revolution zugunsten der Erniedrigten und Beleidigten. (S. 96)
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Und das setzt voraus, dass der Zornige seinen Zorn aufschiebt, dass er eintritt in die, wie Sloterdijk in Anlehnung an Heidegger formuliert, »existentiale Zeit« (S. 97), in der das Dasein hingespannt ist auf den Tag des Zorns. In diesem Sinne ist es der Zorn, der als Projektform zur Rache und zur »Bankform der Revolution« wird, der allererst das erzeugt, was wir Geschichte nennen, und was nach dem Zusammenbruch des Kommunismus zu Ende gegangen ist.

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Das Faszinierende der Konstruktion von Sloterdijk ist die gleitende Übergängigkeit von Zorn zu Rache bis zur Revolution, vom Individuum zum Kollektiv und von da zur politischen Organisation, die es ihm ermöglicht, den Zorn des Achill auf die Agenten der Russischen Revolution zu beziehen. Genau das aber ist auch das Problematische: Denn die These –»alle Geschichte ist die Geschichte von Zornverwertung« (S. 100) – hängt am Paradox, dass der Zorn auf der Ebene seiner bankförmigen Verwertung durch Parteien und Organisationen alles Zornhafte gerade verliert.

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Jene politischen Zornsammelstellen, die den Zorn der Einzelnen als Anleihe sammeln und in eine historische Perspektive ein- und unterordnen, arbeiten laut Sloterdijk gerade daran, den spontanen und momentanen Ausdruck des Zorns zu verhindern, ja zu unterdrücken. Die revoltischen Affekte müssen auf der Ebene der Bankform den strategischen Zielen völlig untergeordnet werden. Sloterdijk beschreibt das als Transformation von der Schatzform in die Kapitalform des Zorns, in der es nicht mehr um Emotion, sondern um Kalkulation geht, in der es auf Seiten der Bankleiter gerade um eine Askese des Zorns und den permanenten Kampf gegen das eigene Gefühl geht.

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Es bleibt aber im Wesentlichen unklar, wie dieser Wechsel von der spontanen Emotion zur gründlichen Kalkulation in einem System der Zornbank zu denken sei. Gerade weil richtig ist, dass Politik immer auch das Arbeiten mit und Verwerten von Emotionen bedeutet (wenn wohl auch nicht nur des Zorns, sondern auch der Angst, der Hoffnung, des Neids, der Habgier etc.), wäre zu fragen, von welchen Emotionen her denn die Bankgründer die Verwertung ihrer Emotionsanleihen betreiben? Den Zorn zu verwerten setzt ja gerade voraus, nicht zornig zu sein. Wie kann es sein, dass sich aus dem Zorn bankförmige Zorngeschäfte entwickeln, die auf Leitungsebene jenseits des Zorns und gegen den Zorn funktionieren?

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Auf diese Frage antwortet Sloterdijk eher vage mit einem Prozess historischen Lernens. Lenin habe eben gesehen, dass spontane Verausgabungen des Zorns zu nichts führen und sich daher vom eigenen Zorn distanziert (S. 108). Und so beschreibt Sloterdijk dann das Jahrhundert der »linksfaschistischen« Revolutionen als ein Zugleich von Zornmanipulationen und Askese des Zorns.

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Indem Sloterdijk so den Versuch macht, auf jeden Fall – und auch noch in der Umkehrung – den Bezug zum Zorn als entscheidendes Element des Politischen festzuhalten, entgeht ihm aber, dass in der Moderne jenes Modell des Zorns längst eine entscheidende Transformation erfahren hat, eine Transformation im Übrigen, der Sloterdijk seine gesamte energetische Metaphorik verdankt.

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Anstatt wie Sloterdijk moderne Politik und Revolution als evolutionäre Weiterentwicklungen und quasi-ökonomische Sublimierungen des antiken Zorns zu begreifen, kann man umgekehrt zeigen, wie politische Feindschaftsbildungen sich in der Moderne gerade abkoppeln vom Modell des Zorns mit seinem Plot von Beleidigung und Rachewunsch, und wie dieses narrative Grundmodell zugleich auf die Ebene der Propaganda und der Mobilisierung kurzfristiger Affekte verschoben wird.

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Instruktiv ist hierzu ein Vergleich zwischen der Herrmannsschlacht von Klopstock, in der Feindschaft auf allen Ebenen Sache des Zorns ist und der Herrmannsschlacht von Kleist, in der Zorn und Hass von Herrmann manipuliert werden, dessen eigene Feindschaft aber nicht mehr vom Zorn begründet, sondern als bloße Entscheidung vom Zorn bewacht wird. 11 Um das deutlich zu machen, muss man Zorn, Wut, Hass und Ressentiment allerdings nicht, wie Sloterdijk das tut, als Entwicklungsformen des ›Thymotischen‹ zusammenfassen und konfundieren, sondern unterscheiden. Denn wesentliche Attribute, mit denen Sloterdijk den individuellen Zorn über die Projektform der Rache bis hin zur Bankform der Revolution beschreibt, die Entladung von Energie, das Ressentiment, der Wunsch nach einer totalen Vernichtung des Bestehenden, kommen im alteuropäischen Modell des Zorns nicht vor.

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Erst Ende des 18. Jahrhundert beginnt jene energetische Reformulierung des Zorns, die ihn vor dem Hintergrund organologischer Lebenswissenschaft und später der Thermodynamik mit physikalisch-psychischen Energiephänomenen, etwa der Auslösung und der Entladung, verkoppelt. Dieser Zorn heißt dann auch zunehmend Wut. Eine Unterscheidung, die bei Sloterdijk ebenfalls keine Erwähnung findet. Ihre Entladungen sind ganz ohne Rache beschreibbar, als bloße Abreaktionen von Energie. Johann Christian Reil, berühmter Psychiater und später Professor an der Berliner Humboldt-Universität, beschreibt die Wut 1803 so: »Im Seelenorgan und im ganzen Nervensystem tobt ein wilder Orgasmus, der zum Handeln zwingt, um sich seiner überspannten Kraft, die in jeder Faser zittert, zu entladen.« 12 Und Robert Julius Mayer, einer der Begründer der Thermodynamik, beschreibt den Zorn in einem kleinen Text Über Auslösung (1876) als ein Beispiel für solche Auslöse-Ereignisse, in denen das postulierte Äquivalenzverhältnis von Ursache und Wirkung aufgehoben ist. Eine bestimmte chemische Verbindung, etwa das Knallgas, wird durch einen kleinen »Funken« zur Reaktion bzw. zur Entladung gebracht. 13

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Ein Weiteres ist zu beachten: Der Zorn, wie er im Abendland von Homer bis Thomasius diskursiviert wurde, setzt eine gültige Ordnung als Rahmung seines Auftretens immer voraus: Im Schmerz der Beleidigung und dem Wunsch nach Rache zum Ausgleich und der Genugtuung steht die Ordnung selbst nie mit auf dem Spiel – im Gegenteil der Zorn setzt eine metaphysisch garantierte Ordnung voraus, in der lokale Störungen und Ungleichgewichte qua Zorn und Rache ausgeglichen werden.

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In der modernen Wut aber steht diese Ordnung selbst immer mit auf dem Spiel. Der abwesende Gott wird zum Adressaten von Wutexzessen, die ihn zugleich als abwesenden und nicht eingreifenden adressieren und – auf paradoxe Weise – zugleich provozieren sollen. Es geht hier nicht mehr darum, Ausgleich zu schaffen im Rahmen einer prinzipiell ausgleichsfähigen Ordnung, sondern – auch und gerade in der genozidalen Politik des Totalitarismus – darum, angesichts fehlender metaphysischer Ordnung selbst neue Welten zu schaffen bzw. zu zerstören. Gerade der von Sloterdijk den Revolutionsführern Lenin und Mao konzedierte Wille zur totalen Vernichtung des Alten (S. 103) sowie zur »Rache an den Verhältnissen« (S. 107) lässt sich in keiner Weise mit dem alteuropäischen Modell des Zorns und der Rache (und ihrer Logik der Umkehrung: »die Letzten würden wirklich die Ersten sein« [S. 171]) zureichend erklären.

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2. »Der zornige Gott«

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Ohne Zweifel ist das Kapitel über den Zorn Gottes (»Der zornige Gott: Der Weg zur Erfindung der metaphysischen Zornbank«) das Glanzstück der geistesgeschichtlichen Zorn-Erkundung von Peter Sloterdijk. Etwas Schärferes und Treffenderes und Erfrischenderes über die Paradoxien des jüdisch-christlichen Gottes und seines Zorns hat man lange nicht gelesen. Hier wird das Ressentiment Sloterdijks gegen das jüdisch-christliche Ressentiment, das gewissermaßen die Vorform der Zornschatzbildung durch den Kommunismus bildet, derart schöpferisch, dass man sich ob mancher gelungenen Formulierung vor Lachen den Bauch halten muss.

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Allerdings münden die ausgesprochen gut informierten Überlegungen zum Theologoumenon des Zorn Gottes, die Interpretation der Hass- und Rache-Psalmen, der »autoaggressiven« Propheten, der Doppelseitigkeit von makkabäischer und apokalyptischer Lösung und der Kritik der christlichen Versuche, den mit der Versöhnungslehre nicht mehr kompatiblen Zorn Gottes zu erklären, in die psychologisch schlichte These, die Rede vom Zorn Gottes sei nichts als die Projektion der gehemmten Zornimpulse der Menschen auf eine göttliche Instanz, die diese Zorneinlagen zur finalen Auszahlung inflationsgesichert (= Ewigkeit) aufbewahre. Der Zorn Gottes ist einfach das Ressentiment der Menschen.

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Einmal mehr – nach Friedrich Nietzsche und Max Scheler – zitiert der Ressentiment-Kritiker Sloterdijk wollüstig den Kirchenvater Tertullian, der in De spectaculis (Von den Schauspielen) »obszön offen« (S. 164) die Entschädigung für irdischen Racheverzicht durch das Anschauen jenseitiger, göttlicher Strafexzesse ausgesprochen hat. Und auch Lactantius, so kann man ergänzen, gebraucht die ökonomische Metapher des Lohns (praemium) für das Dabeisein bei der göttlichen Rache an den Christenverfolgern.

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Geradezu genial ist vor diesem Hintergrund dann Sloterdijks »Lob des Purgatoriums« (S. 162). Hier zeigt er, dass die binäre Härte von Verdammung oder Rettung, wie sie die Kirchenväter installiert hatten, seit dem 11. Jahrhundert durch die Erfindung eines dritten Ortes, eben der Vorhölle als Zeit und als Geschichtsort der Läuterung, abgemildert wurde. Und hier greift nun auch Sloterdijks ökonomische Metaphorik von der Zornschatzbildung und der Anleihe im Hinblick auf den finalen Tag der Abrechnung und der Heimzahlung treffend durch, indem er den Ablasshandel als ein auf die Moderne vorausweisendes Kreditsystem deutet, dass ermöglichte, »mit irdischem Geld transzendente Schulden abzuzahlen« (S. 168). Demgegenüber erscheint Luther als »Partisan des Entweder-Oder«, der die »Modernität des dritten Weges verabscheute«.

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Sloterdijk versteht das jüdisch-christliche Ressentiment, wie es in Racheverzicht und Projektion der Rache auf den göttlichen dies irae ausgestaltet ist, als eine Form des Zorns bzw. der »Zornverwertung« oder des »Zornmanagements«. Das ist sicherlich nicht falsch, aber die Rede von der ressentimenthaften Zornverwertung verdeckt doch die Möglichkeit, Zorn und Ressentiment zu unterscheiden und die jüdisch-christliche Erfindung des Ressentiments als spezifischen Umbau des griechisch-römischen Zornmodells zu lesen. Denn das Ressentiment ist nicht einfach der aufgeschobene oder zur Zornsparkasse Gottes getragene Zorn.

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Der Zorn, das vergisst Sloterdijk zu erwähnen, ist in der Antike, wie bereits erwähnt, wesentlich Affekt des Herrschers und des Mächtigen. Und zwar schon deshalb, weil der Affekt des Zorns – laut Aristoteles – nur entsteht, wenn dem Schmerz über die erlittene Beleidigung zugleich die Lust innewohnt, die in der Hoffnung auf Rache liegt. Hat jemand aber keine realistische Aussicht auf Rache, weil er schwach ist oder ein Sklave, so entsteht auch kein Zorn, denn: »Niemand aber strebt nach dem, was ihm unerreichbar erscheint.« 14 Der Schmerz der Ohnmächtigen ist daher ohne Lust der Rachehoffnung und daher auch ohne Zorn. Und genau deshalb kreist die intensive antike Debatte um den Zorn und seine Bedrohlichkeit ausschließlich um den Herrscher oder den pater familias, thematisiert aber nicht den Zorn des Sklaven.

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Indem nun der alleinige Gott als allmächtig fantasierte Racheinstanz diese Hoffnung auch den Ohnmächtigen ermöglicht, wird aber der Schmerz und die Lust, die im Subjekt des Zorns zusammenfallen, getrennt. Das Subjekt des Schmerzes ist nicht mehr das Subjekt der Rache, sondern nur mehr ihr Zuschauer. Und die Lust erwächst nicht mehr aus der Hoffnung auf die eigene Vergeltung, sondern ist nun der Lohn für ausgehaltene Schmerzen in Form des Anblicks fremder Schmerzen.

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Erst in diesem Modell, das durch die Einführung eines Dritten (Gott) als Agent der Rache das Zugleich von Lust und Schmerz im Zorn auftrennt, wird jene prinzipiell unendliche (ökonomische) Konvertierbarkeit von Schmerzen und Lüsten möglich, die das Ressentiment begründet und es in ganz anderer Weise (als den Zorn) politisierbar macht. Jetzt nämlich, da die Lust, wie eine Art generalisiertes Kommunikationsmedium im Sinne Luhmanns, der Lohn und die Entschädigung für alle Arten von Schmerz und Entbehrungen ist, können alle möglichen Schmerzen durch alle möglichen Zuschauerlüste bezahlt werden. Jetzt erst geht es nicht mehr allein um die konkrete Beleidigung und die konkrete Rache an ihr, sondern ganz generell um die erlittenen und sozial-realistisch in der Bibel geschilderten Schmerzen der Armut, des Mangels, der schlechten Verhältnisse etc., die als Schmerzquantum eine Art negative Einlage bilden und somit das Anrecht auf zukünftige Entschädigungen begründen. Erst jetzt kann man sich als Armer über den qualvollen Tod eines Reichen freuen, der einem nie etwas getan hat. Erst jetzt kann es überhaupt so etwas geben, was Sloterdijk den »Zorn auf die Verhältnisse« nennt, und die Grundlage seiner zornpolitischen Deutung des 20. Jahrhunderts liefert.

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»Die thymotische Revolution« –
Weltbank des Zorns ohne Zorn

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Die theologische Konstellation von Zorn und Ewigkeit, die durch die Erfindung des Purgatoriums eine Verzeitlichung erfuhr, wird, so Sloterdijk, in der Moderne als Konstellation von Zorn und Zeit zum Inbegriff der Geschichte. Dies geschieht, indem Rache und Immanenz fusionieren: An die Stelle des göttlichen dies irae tritt als das Ende der Geschichte der Zahltag des von der Weltbank des Kommunismus gesammelten Zorns. Diese Geschichte von der »thymotischen Revolution« (S. 170) und der kommunistischen Weltbank des Zorns ist Gegenstand des dritten Kapitels (»Die thymotische Revolution. Von der kommunistischen Weltbank des Zorns«) und bildet, wie bereits erwähnt, den Schwer- und Zielpunkt, gewissermaßen die Achse der Argumentation. Sloterdijks Hauptkapitel folgt damit der von Historikern seit dreißig Jahren immer wieder gestellten Forderung, die Emotionen bei der politischen Geschichtsschreibung einzubeziehen.

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Nach dem Tod Gottes ist die Position der Zornsammelstelle als eines Exekutors des Weltgerichts vakant. In diese, so Sloterdijk, rückt nun der Kommunismus ein, der einerseits als Weltbank den Zorn der Unterdrückten sammelt und andererseits auf den Tag der Abrechnung, der Auszahlung, der »thymotischen Rendite« (S. 222) und das »letzte Gefecht« (S. 198) hinarbeitet. Sloterdijk unterscheidet dabei drei Stile der »Zornbewirtschaftung«, den anarchistischen, den sozialdemokratischen und den kommunistischen und konzediert allein letzterem die Fähigkeit, »mit einem effektiven Weltbankanspruch aufzutreten« (S. 226). Nacheinander bespricht Sloterdijk dann Politik und Programmatik von Lenin, Stalin und Mao.

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Während der Kommunismus so als die eigentliche Zornsammelstelle, als Weltbank der Rache erscheint, die in der Lage ist, den Zorn der Massen aufzufangen und politisch zu instrumentalisieren, deutet Sloterdijk im Rahmen seiner programmatischen Holocaust-Dezentrierung die im Vergleich zur Kulakenvernichtung quantitativ geringere Rassenvernichtung der Nationalsozialisten – ganz im Sinne der Thesen Ernst Noltes – als Reaktion und (weitgehend) als Nachahmung der, so Sloterdijk mit Blick auf die Dekrete zum ›roten Terror‹, initialen kommunistischen Herausforderung.

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Bei diesem Durchgang durch die Geschichte des 20. Jahrhunderts als einer »Kette von Thymos-Katastrophen« (S. 45) gerät Sloterdijk im Hinblick auf seine zentrale These von der alles dominierenden kommunistischen Zornweltbank allerdings in eine Reihe von Widersprüche, die m.E. daher rühren, dass sich die entscheidende Voraussetzung der Gewalt- und Massenvernichtungsorgien des 20. Jahrhunderts, die ungeheure »Mobilisierung der Tötungsbereitschaft« (S. 233), über den Rekurs auf den Affekt des Zorns bzw. das Thymotische oder die Politik seiner Verwertung nicht zureichend erklären lässt.

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Immer wieder verwickelt sich Sloterdijk in den Widerspruch, dass er einerseits Politik als »Zorn- und Protestbewirtschaftung« (S. 222) deutet, als investiven Umgang von politischen Organisationen mit eingesammeltem Zornkapital, aber andererseits immer wieder vom fehlenden Zorn sprechen muss. So geht es an mehreren Stellen ganz explizit um die Tatsache des für die Politik Lenins, Stalins oder Maos fehlenden Zorns der Massen, der dann mittels Terror und Angst künstlich erzeugt werden muss, damit die Eliten ihre Macht erhalten können:

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Das Managementgeheimnis der Russischen Revolution bestand darin, die fehlenden Zornmengen, durch Zwangskredite aufzutreiben. Man erzeugte folglich enorme Mengen an ausbeutbarer Angst – verbunden mit der erpreßten Bereitschaft, Unterstützung für die Projekte der revolutionären Zornpolitik zu heucheln. (S. 244)
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Die Einlagen des Zorns, die von der Kommunismus-Weltbank laut Sloterdijk in politisch-thymotisches Kapital verwandelt werden sollen, sind demnach über weite Strecken gar nicht vorhanden. Diesem fehlenden Zorn versucht Sloterdijk mit der Metapher der »unterkapitalisierten Bank« beizukommen, die den Affekt des Zorns »künstlich« durch »Zwangskredite« (= Terror) herstellt, so dass »die Früchte des Zorns in Wahrheit Früchte der Angst sind« (S. 245).

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Angesichts solcher argumentativer Volten verwandelt sich so manches Mal der mitunter erhellende und genialische metaphorische Effekt von Sloterdijks psychopolitischer Konstruktion in eine bloße über die machtpolitischen Kalküle des Kommunismus gegossene Metaphernsoße, von der fraglich ist, was sie – jenseits der Abwatschung NS-fixierter »Sonderschüler der Geschichte« (S. 291) – für das Verständnis der Gewaltexzesse des 20. Jahrhunderts bringt.

[61] 

Noch widersprüchlicher aber wird die Sache, wenn nun dieser wesentlich fehlende Zorn ein paar Seiten weiter auf die Kulaken umgelenkt werden soll: »Wir sprechen von der mutwilligen Umlenkung des ›Massenzorns‹ gegen die wohlhabenderen Bauern der Sowjetunion«. (S. 252) Umgelenkt wird der Zorn in seiner Form des Ressentiments (»der Neid, das Erniedrigungsbedürfnis in bezug auf scheinbar oder wirklich Bessergestellte« [S. 254]), das Sloterdijk dann als die »dunklen Seiten des populären Thymos« mit dem nicht vorhandenen Zorn wieder verquickt und mit dem Namen des »kalten Furor« (S. 238) belegt.

[62] 

Immer wenn der Zorn, als Affekt der Rache, als Protest- oder »Dissidenzquanten« (S. 282) in den Erklärungen nicht mehr weiterführt, verwischt Sloterdijk die Begriffe, oder er springt sich selbst helfend mit dem Begriff des »Thymotischen« bei, so dass dann auch das in ihm enthaltene Ressentiment oder der kalte Furor oder auch der Nationalismus irgendwie mit dem Zorn zu tun haben.

[63] 

So kann gerade auch der Erste Weltkrieg mit seiner »populär-thymotischen« (S. 225) und nationalistischen Kriegseuphorie mit dem Zorn (im engeren Sinne) nicht erklärt werden, aber Sloterdijks Bankmetaphorik ist dehnbar genug, um auch dieses Phänomen als »Bankenkrise« und »Veruntreuung der angesparten Zornmengen« im Hinblick auf den Zorn zu deuten, nämlich als seine »massive Veruntreuung«. Der erste Weltkrieg erscheint so als »Wirtschaftsverbrechen« (S. 223) der Sozialdemokratie an dem ihr anvertrauten Zorn und als Ereignis nur soweit interessant, insofern es im Weiteren zum Versuch einer »gewaltsamen Wiederaneignung des verlorenen Zorns seitens des Leninismus« (S. 225) führt. Man sieht: dem Zorn, nicht einmal dem fehlenden, entgeht hier nichts und niemand.

[64] 

Ein weiterer Widerspruch entsteht bei der Beschreibung der politischen Führer, von denen man zunächst liest, sie müssten den Zorn in sich überwinden und gerade Askese des Zorns treiben (S. 104), dann aber wieder lernt man, dass sie sich nur durch eine »megalothymotische Grundstimmung« und eine »generöse Empörung« (S. 183) zum Führer qualifizieren und dass gerade Marx mit seiner durch »Haß und Ressentiment geprägte[n] Persönlichkeitsstruktur« für die Rolle der »Inkarnation des progressiven Weltzorns« (S. 206) geeignet war. Lernt man auf der einen Seite, dass der Kommunismus als Sammel- und Speicherort für den Zorn der Einzelnen funktioniert habe, so liest man dann wieder, dass die Zusammenfassung von zornigen Einzelwillen zu einem kollektiven Zorngroßsubjekt unmöglich sei (S. 203) und daher die Partei und letztlich ihr Führer den Zorn stellvertretend verkörpern müsse, da Zorn und Bewusstsein nur im konkreten Individuum »ihren Sitz im Realen haben« (S. 206).

[65] 

Derlei Widersprüche sind im Wesentlichen der Tatsache geschuldet, dass Sloterdijk zwei Ebenen ständig vermischt: die Ebene der tatsächlichen Zornaffekte und ihrer Bedeutung für die Politik einerseits und die Ebene der narrativen Muster, die zur Selbstdeutung des politischen Handelns bzw. der Propaganda herangezogen werden, andererseits.

[66] 

4. Zur Gegenwart der »Zornzerstreuung«:
Zorn ohne Weltbank

[67] 

Im letzten und vierten Abschnitt (»Zornzerstreuung in der Ära der Mitte«) wendet sich Sloterdijk der gegenwärtigen postkommunistischen Weltlage zu und analysiert sie als »Ära ohne Zornsammelstellen mit Weltperspektive« (S. 282). Auch wenn die zentralen Gedanken zur Beschreibung der Situation nach dem Ende der kommunistischen Ära nicht neu sind, weder der Hinweis auf die heute fehlenden Utopien oder politischen Visionen jenseits des Kapitalismus noch die Erinnerung an das Fehlen des Kommunismus als Drohpotential im Kampf um Sozialstaatlichkeit (und also die Bedingung der Möglichkeit für neo-liberale Gehirnwäschen), so ist doch Sloterdijks beißende Kritik am Zustand des gegenwärtigen Kapitalismus und seiner »gierdynamischen Systeme« (S. 302) überzeugend und lesenswert.

[68] 

Unter implizitem Bezug auf René Girards Theorie des »mimetischen Begehrens« zeichnet Sloterdijk eine postthymotische Welt, in der es um eine »Psychopolitik der Begehrensnachahmung und der rechnenden Gier« (S. 312) geht. Während Girards Theorie des mimetischen Begehrens allerdings den Zweck hat zu erklären, wie es zu einer grundlegenden Verknüpfung von Gewalt und Begehren kommt 15 , zeigt Sloterdijk, wie der »erotische« Konsumismus eine »Aufhebung des fünften Gebots« nun gerade nicht mehr braucht.

[69] 

Dass der Zorn der Verlierer und der Überflüssigen in dieser entfesselten Konkurrenz sich nicht politisch organisiert und bankmäßig stabilisiert, liegt an einer Reihe von strukturierenden Begehrens-Imperativen, dessen wichtigster lautet: ›Schreibe die Misserfolge in der Begehrenskonkurrenz niemand Anderem zu als dir selbst‹ (vgl. S. 315). So kann sich der Zorn nicht mehr sammeln, jeder Konsumbürger wird zunehmend »in die vergiftete Einsamkeit einer zum Scheitern verurteilten Begehrensaufreizung fixiert« (S. 324).

[70] 

Weil das Protestpotential nicht mehr auf narrative Strukturierungen in Form eines Kampfes für das Gute gesammelt werden kann, kommt es zu Gewaltformen, die Sloterdijk mit Enzensberger als »molekularen Bürgerkrieg« (S. 325) beschreibt. Nicht mehr Zorn und Rache im Sinne einer Widerherstellung des Gleichgewichts seien hier das Ziel, sondern es gehe um eine reine »Wut auf das Unbeschädigte« (S. 326).

[71] 

An dieser Stelle wird noch einmal rückblickend deutlich, dass die Zornbankmetapher letztlich unglücklich gewählt ist, da sie immer suggeriert, dass es um tatsächlichen Zorn geht, der politisch verarbeitet wird, während jetzt noch einmal klar wird, dass nicht das Vorhandensein von Affekten, sondern von Narrativen oder Diskursen, von Visionen und Utopien das Entscheidende ist. Vor diesem Hintergrund beantwortet Sloterdijk dann auch die Frage, ob der politische Islam eine neue Weltbank des Zorns einrichten kann, negativ (S. 338 ff.). Sloterdijk sieht nicht, wie der politische Islam das riesige Wutpotential von ökonomisch und sozial Überflüssigen in eine »Weltoppositionsbewegung« (S. 351) überführen könne – dafür sei er viel zu rückständig und außerdem fixiert auf bloßes Rächen und Strafen. Er sei eine »Ideologie, die nur strafen kann, aber nichts hervorbringt« (S. 349).

[72] 

So zeigt sich an diesem bloß negativen Befund zur Lage der Gegenwart, dass der Blick auf den Zorn als politisches Kapital zwar eine neue Erzählung des 20. Jahrhunderts ermöglicht, aber keine neue Kategorien schafft, mit denen die Lage der Gegenwart zu erfassen wäre.

[73] 

Entsprechend mager fällt dann Sloterdijks Plädoyer für eine »Weltkultur« (S. 356) am Ende aus. Die Lösung der Probleme in einer Welt, in der »keine Politik des Leidensausgleich im Großen mehr möglich ist« (S. 354), sieht Sloterdijk in einer radikalen Befreiung von allen Ressentiments und in der Schaffung einer »Ambitionskultur«, die auf den liberalen Grundrechten »Leben, Freiheit, Eigentum« (S. 354) aufbaut. Hier sollen dann Aneignungstriebe und Geltungswillen mit Selbstrelativierung und schenkender Tugend verbunden werden. Woher allerdings derartige FDP-Gutmenschen kommen sollen, die einerseits ambitioniert dem principium comparationis folgen und andererseits zugleich in ihrer ressentiment-fernen, aristokratischen Größe immer schon jenseits des Vergleichs sind (Max Scheler), weil sie ihn nicht nötig haben, ist – gerade nach der Lektüre von Sloterdijks Buch, das Menschen fast ausschließlich als Zorn- und Giersubjekte kennt – völlig rätselhaft.

[74] 

Fazit

[75] 

Sloterdijks Essay enthält viele gute und neue Gedanken. Und auch, wenn man einem alten Witz folgend, sagen muss, dass nicht alle guten Gedanken neu sind (wie etwa der von Fukuyama entlehnte und umakzentuierte Begriff des Thymotischen) und nicht alle neuen Gedanken gut (wie die zentrale Metaphorisierung des Zorns als Kapital), so kann man Sloterdijks Buch dennoch ohne Bedenken zu einer ebenso lehrreichen wie unterhaltsamen Lektüre empfehlen.

[76] 

Einerseits, weil es ein Nachdenken über das Verhältnis von Emotion und Geschichte bzw. Politik anstößt, und in diesem Sinne nicht nur dem Zorn die ihm gebührende Aufmerksamkeit schenkt, sondern auch die Kategorie des Psycho-Politischen überhaupt zur Diskussion stellt. Und weil es unter Bezug auf Fukuyama erneut die Frage aufwirft, wie in einer Welt, die ihrem Selbstverständnis nach keine Herren und keine Knechte kennt, sondern nur Gleiche, dem thymotischen Teil der Seele, dem Drang zu vergleichen (und seiner Rolle für die Politik) Rechnung getragen werden kann.

[77] 

Andererseits aber, weil Sloterdijks Buch eine so große Fülle von guten Sätzen, erhellenden Einsichten und überraschenden Blickwendungen enthält, von denen viele in einer Rezension, die dem Hauptpfad der Argumentation zu folgen hat, ungepflückt am Wegesrand stehen bleiben müssen. Sie zu lesen, ist Sache der Leser.

 
 

Anmerkungen

Vgl. Langenscheidts Großwörterbuch. Griechisch-Deutsch. Unter Berücksichtigung der Etymologie von Hermann Menge. 24. Aufl., Berlin / München / Wien / Zürich: Langenscheidt 1981, S. 335. Siehe auch: Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament. Band III. Stuttgart: Kohlhammer 1950, S. 167: Thymos bezeichnet hier »a) Verlangen, Trieb, Neigung, b.) Mut, c.) Zorn, d.) Empfindung, e.) Gesinnung, Sinn, f.) Gedanke, Erwägung«.   zurück
Platon: Der Staat. Politeia. Griechisch-deutsch. Übersetzt von Rüdiger Rufener. Düsseldorf / Zürich: Artemis und Winkler 2000, S. 356 ff. (439a-441e).   zurück
Francis Fukuyama: Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir? Aus dem Amerikanischen von Helmut Dierlamm, Ute Mihr und Karlheinz Dürr. München: Kindler 1992, S. 233.   zurück
Ebd., S. 229.   zurück
Ebd., S. 203–265.   zurück
Ebd., S. 252.   zurück
Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Hg. und eingeleitet von Wolfgang Becker. Mit einem Nachwort von Hans Belling. Stuttgart: Reclam 1983, S. 197.   zurück
Vgl. Johannes F. Lehmann: Die Erfindung der Lebensgeschichte. Friedrich Schillers Verbrecher aus verlorener Ehre. In: Roland Borgards u.a. (Hg.): Kalender kleiner Innovationen. Festschrift für Günter Oesterle. Würzburg: Königshausen & Neumann 2006, S. 87–96.   zurück
Johann Gottfried Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Hg. von Hans Dietrich Irmscher. Stuttgart: Reclam 1989, S. 109.   zurück
10 
Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament (Anm. 1), S. 167: »Die Grundbedeutung von thymos ist demgemäß wie von pneuma das Bewegte und Bewegende, die Lebenskraft.«   zurück
11 
Vgl. hierzu Johannes F. Lehmann: Zorn, Hass, Entscheidung. Modelle der Feindschaft in den Hermannsschlachten von Klopstock und Kleist. In: Historische Anthropologie 14 (2006), S. 11–29.   zurück
12 
Johann Christian Reil: Rhapsodien über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle: Curt 1803, S. 36.   zurück
13 
Vgl. hierzu und zu Nietzsches begeisterter Aufnahme des Textes »Über Auslösung« den grundlegenden Aufsatz von Armin Schäfer / Joseph Vogl: Feuer und Flamme. Über ein Ereignis im 19. Jahrhundert. In: Henning Schmidgen (Hg.): Kultur im Experiment. Berlin: Kulturverl. Kadmos 2004, S. 191–211.   zurück
14 
Aristoteles: Rhetorik. Übersetzt von Franz G. Sieveke. 5. Aufl., München: Fink 1995, S. 85.   zurück
15 
René Girard: Das Heilige und die Gewalt. Aus dem Französischen von Elisabeth Mainberger-Ruh. Zürich: Benziger 1987.   zurück