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Literarische Remigration: Ein Suchprogramm

  • Irmela von der Lühe / Claus D. Krohn (Hg.): »Fremdes Heimatland«. Remigration und literarisches Leben nach 1945. Göttingen: Wallstein 2005. 240 S. 7 Abb. Kartoniert. EUR (D) 29,00.
    ISBN: 3-89244-836-1.
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Die Hälfte der jungen Schriftsteller, die Hermann Kesten 1929 in seiner Anthologie 24 neue deutsche Erzähler vorgestellt hatte, musste nach 1933 aus Deutschland flüchten, unter ihnen Anna Seghers, Ernst Toller, Joseph Roth und Ödön von Horváth. Anna Seghers kehrte nach dem Exil dauerhaft nach Berlin zurück – und fühlte sich dabei nach eigenem Bekunden wie eine »Marsbewohnerin«. 1 So wenig hier von einer kollektiven Wanderungsbewegung die Rede sein kann, so undeutlich muss der Begriff einer literarischen Remigration bleiben. Gehört dazu die Wahl des ständigen Wohnsitzes in Deutschland – und in welchem Deutschland? Gibt es eine »innere« Remigration? Was konnten Remigranten zum literarischen Leben der Nachkriegszeit beitragen? Wie verhält es sich mit der Rückkehr ihrer einst verbotenen Bücher auf den deutschen Buchmarkt, der Vor-Exil-Bücher, wie der im Exil geschriebenen?

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Eine von der Herbert und Elsbeth Weichmann Stiftung geförderte Tagung im März 2004 hatte sich die Aufgabe gestellt, diese Fragen zu untersuchen. Die ebenfalls von der Stiftung geförderte Dokumentation liegt hier vor. In den zwölf Beiträgen von Wissenschaftlern, jüngeren wie längst als Exil-Experten ausgewiesenen, meist Germanisten west- wie ostdeutscher Provenienz, finden sich die verschiedensten Suchansätze: Analysen und Literaturberichte, Begriffsdeutungen und Archivforschungen. In der Einleitung sind die Herausgeber bemüht, Zusammenhänge herzustellen.

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Spurensuche

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Eines der auffallendsten Phänomene des Sammelbandes ist eine Leerstelle: Keiner der Beiträge beschreibt den Fall einer eindeutigen und endgültigen, persönlichen wie literarischen Rückkehr. Das gilt auch für den anhaltenden Versuch einer Reintegration, wie ihn Bernhard Spies am Beispiel von Hans Sahl detailliert darstellt. Zwischen New York, Zürich und der Bundesrepublik folgen wir einem wechselvollen Reiseverkehr, der 1953 mit einem westdeutschen Wohnsitz Sahls noch keineswegs beendet ist, sondern fünf Jahre später wieder in die USA führt und erst 1989 in Tübingen sein letztes Ziel findet – »in einer deutschen Provinzstadt [...], in die er von Berlin aus nie gezogen wäre« (S. 168). Dieser Reiseverkehr ist die Widerspiegelung eines immer neu begonnenen Bemühens, im literarischen Leben der Bundesrepublik einen Platz zu finden, eines Bemühens, das mit der hochproduktiven Tätigkeit Sahls als Übersetzer, also als Vermittler zwischen den beiden Sprachwelten des »doppelten Exils«, seine charakteristische Erfüllung findet. Die besonderen Hindernisse für eine Annäherung jüdischer Überlebender der Lagerwelt an das Deutschland »nach Auschwitz« macht der leidenschaftliche Beitrag von Irene Heidelberger-Leonard (Brüssel) über Jean Améry deutlich, ein Auszug aus ihrer Biographie von 2004. Wenn es eine explizite Negation des Weltvertrauens gibt, dann ist sie hier zu suchen. – Von Améry führt eine direkte Spur zu Alfred Andersch, den Dieter Lamping, der Herausgeber des Gesamtwerkes, in seinem persönlichen und (komplizierten) schriftstellerischen Verhältnis zur Literatur des Exils vorstellt. Immerhin konnte sich Andersch, seit 1957 selbst in der Schweiz lebend, von Exilanten wie Jean Améry, Robert Neumann und Ludwig Marcuse verstanden und bestätigt sehen. Eine Lösung des Problems hat auch er nicht gefunden.

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Dabei geht es nicht nur um den Wohnsitz. Entscheidend für die reale wie symbolische Rückkehr älterer Schriftsteller ist die Rückkehr ihrer Bücher nach zwölfjähriger gewaltsamer Trennung vom Primärpublikum. Ernst Fischer widmet dieser Frage eine ebenso materialreiche wie sachverständige Untersuchung, die den vielfach aufgeladenen Begriff der Exilliteratur auf seine nüchterne Aktualität im westdeutschen Buchmarkt der Nachkriegsjahre zurückführt. Die Bilanz der immer wieder unternommenen Anstrengungen von Verlagen und Herausgebern zwischen 1945 und 1999, teils marktopportun, teils – wie im Fall der »Bibliothek Exilliteratur« der Büchergilde Gutenberg – mit selbständigem editorischen Konzept unternommen, ist insgesamt enttäuschend und lässt Zweifel an Strategien aufkommen, denen keine Rezeptionsmuster im Lesepublikum entsprechen: »Verlage schaffen mit ihren Büchern die Bedingungen der Möglichkeit der Rezeption« nicht mehr (S. 91). Eine künftige Geschichte des deutschen Buchhandels nach 1945 findet hier reichlich Stoff und hat dann auch die ganz anderen Vorbedingungen und Ergebnisse ostdeutscher Buchproduktion zu berücksichtigen. Von Ernst Fischers Arbeit führt schließlich ein direkter Weg zum Beitrag von Regina Nörtemann »Zur Wiederentdeckung und Rezeption des Werks von Gertrud Kolmar in der BRD und DDR«, der die Geschichte eines neu zu lesenden lyrischen Œuvres bis hin zur dreibändigen kritischen Ausgabe im Jahre 2003 bei Wallstein verfolgt.

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Ermittlungen

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Verlässt man den kaum erschlossenen Raum der lebens- und publikationsgeschichtlichen Tatsachen und betritt den der scharfsinnigen Rückschlüsse und allgemeinen Begriffe, dann verliert die Vorstellung von einer literarischen Remigration noch weiter an Kontur. Verständlich daher, dass Georg Bollenbeck unter Zitatengewittern nach begriffsgeschichtlichen Deutungsmustern sucht. Hilfreicher erscheint eine Analyse des in jüngster Zeit sehr beachteten Ersten Deutschen Schriftstellerkongresses vom Oktober 1947, der trotz seiner gemeinschaftsstiftenden Absicht (»Wiedersehen in Berlin«) sowohl die Konfrontation zwischen den aus Deutschland geflohenen und den in Deutschland gebliebenen Schriftstellern wie die zwischen Ost und West erkennen lässt – ein Problem gerade für Autoren wie Alfred Kantorowicz, der noch die literarische Welt des »alten« Europa vor Augen hatte (Hermann Haarmann). Scheitern also die Schriftsteller und unter ihnen vor allem die bisherigen Exilanten mit dem Anspruch, auf die Bildung einer neuen, humanen Gesellschaft Einfluss zu nehmen, oder beginnt hier vielmehr ihre eigentliche Wirkungsgeschichte? Das eine meint die westdeutsche Literaturgeschichtsschreibung, das andere meinte die ostdeutsche Staatsdoktrin. Misstrauisch gegenüber solchen Vereinfachungen benutzt Leonore Krenzlin denselben Ausgangspunkt, um aus der Geschichte des Scheiterns eine Geschichte des Lernens zu machen. In einer sorgfältigen und detaillierten Untersuchung der »Großen Kontroverse« zwischen »innerer« und äußerer Emigration nach 1945 sieht sie darin nicht nur Rechtfertigungskämpfe, sondern auch die konkurrierende Verfolgung materieller Interessen auf dem wieder in Gang kommenden, wenn auch zunächst von den Siegermächten kontrollierten Buchmarkt. Sie beschreibt zugleich die diskreten Verständigungsversuche, die dann zum gesamtdeutschen Schriftstellerkongress von 1947 führten.

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So weit die allgemeinen Einsichten in die Situation, die jeden von außen Kommenden erwartete. Wesentlich vehementer geht Klaus Briegleb vor, dessen »Mikroanalyse« zu bereits diskutierten, scharfen Vorwürfen an die Gruppe 47 führt, und dem der veröffentlichte Briefwechsel von Hans Werner Richter als Vorlage dient, um Hans Mayer und Marcel Reich-Ranicki als Fremde in einer generationsbedingten Gesellschaft von Kriegsteilnehmern erscheinen zu lassen. Verdrängungen und Deckerinnerungen der Gruppenmitglieder können, wie der Verfasser meint, nur im analytischen Verfahren durchschaut werden. Umgekehrt betrachtet Helmut Peitsch, wie sich dieselbe Gruppe 47 in den Aussagen zweier Exilanten in der DDR ausnimmt, die den Westen aus eigener Anschauung kannten und von denen einer auch wieder dahin zurückkehrte: Hans Mayer und Stephan Hermlin. (Inzwischen bietet der Leipziger Briefwechsel Hans Mayers weiteres, reiches Material zum Thema. 2 ) Die faktische Bedeutung der Gruppierung für das differenzierte literarische Leben wird jedenfalls auch im Gegenbild deutlich.

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Befunde

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Der oft beklagte Synthese-Mangel wissenschaftlicher Tagungen muss kein Nachteil sein, wenn er unzulässige Verallgemeinerungen verhindert. Im vorliegenden Fall ist es jedenfalls gelungen, den generalisierenden Begriff der literarischen Remigration in seine konkreten Aspekte aufzulösen und so zum historischen Verständnis beizutragen. Dabei wird klar, dass Schriftsteller – wie übrigens auch Literaturwissenschaftler – durch die jahrelange Entfernung aus dem Sprach- und Kulturraum Verluste erleiden, die über den Verlust von Heimat (»Fremdes Heimatland« sagt nicht genug), Bürgerrechten, Freundschaften und Einkünften noch hinausgehen, und die durch geographische Rückwanderung nicht einfach aufzuheben sind. Also durfte der verbreitete Verzicht von Exilanten auf ein neues Leben in der alten und nun schwer belasteten Umgebung nicht auch noch den fortgesetzten Verzicht auf literarische Wirkung im ursprünglichen Sprachraum, also auf die Rückkehr der Bücher, einschließen. Die wenigen Fälle, in denen sich dieses Dilemma auflösen ließ und in denen eine neue, bedeutenden Karriere im Literaturbetrieb mit der Präsenz auf dem Buchmarkt verbunden war, sind individuell zu betrachten und so verschieden, wie die Lebensgeschichten von Anna Seghers oder Peter de Mendelssohn, Ludwig Renn oder Hilde Domin.

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So sprechen die Beiträger des Sammelbandes mit wenigen Ausnahmen selbst dann zur Sache, wenn sie sich scheinbar nicht ans Thema »Remigration« halten. Deutlich wird jedenfalls, dass die oft verborgenen Beziehungen zwischen publizistischer und persönlicher Remigration, zwischen neuem jüdischem Selbstbewusstsein und alten antijüdischen Ressentiments, zwischen den (transkulturellen) Erfahrungen des Exils und den (nationalen) Erfahrungen des Nicht-Exils eminent wichtige Faktoren der deutschen Literaturgeschichte nach dem Krieg darstellen. Schon deshalb ist jeder Versuch verdienstvoll, Licht ins Halbdunkel zu bringen.

 
 

Anmerkungen

Christiane Zehl-Romero: Anna Seghers. Eine Biographie 1947–1983. Berlin: Aufbau 2003, S. 14.   zurück
Hans Mayer: Briefe 1948–1963. Herausgegeben und kommentiert von Mark Lehmstedt. Leipzig: Lehmstedt 2006.   zurück