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Hitlers Leser

Mein Kampf zwischen Parteibibel und Peinlichkeit

  • Othmar Plöckinger: Geschichte eines Buches. Adolf Hitlers »Mein Kampf«. 1922-1945. Eine Veröffentlichung des Instituts für Zeitgeschichte. München: Oldenbourg 2006. IX, 632 S. 19 Abb. Gebunden. EUR (D) 49,80.
    ISBN: 3-486-57956-8.
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Selten ist ein Buch fesselnder als das Buch, von dem es handelt. Welche Welten liegen oft zwischen dem attraktiven Originalwerk und der Dissertation darüber oder zwischen Primärliteratur, wie Literaturwissenschaftler es nennen, und der sie sezierenden Sekundärliteratur. Eine krasse Ausnahme bildet Othmar Plöckingers Studie über Hitlers Mein Kampf. Sie ist von der ersten Seite an packend zu lesen, was nicht darauf zurückgeführt werden darf, dass er leichtes Spiel hatte, das Original, Hitlers Buch, zu übertreffen, das schon Zeitgenossen ungenießbar fanden. Plöckingers Arbeit fasziniert, weil sie die Lesenden mit liebgewonnenen Legenden konfrontiert, um sie zu ihrer anhaltenden Überraschung eine nach der anderen zu zerstreuen, dies alles überzeugend belegt, präzise und detailgenau wie eine Dissertation, dabei aber in leserfreundlicher Wissenschaftsprosa vorgetragen.

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Legenden über Hitlers Mein Kampf

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Um welche Legenden geht es? Die wichtigste ist gewiss die vom »ungelesenen Bestseller«. Viele lernen sie schon in der Schule. Hinter der Unterstellung, die Deutschen hätten nicht gewusst, was in dem Buch stünde und was auf sie zukomme, verbirgt sich der Wunsch, ansonsten hätten sie Hitler bestimmt verhindert. Mein Kampf hätte zwar eine Millionenauflage erlebt, sei aber, als obligatorisches Hochzeitsgeschenk verbreitet, kaum studiert worden. Seit 1936 »erhielt jedes Hochzeitspaar zur Trauung ein Exemplar der einbändigen Volksausgabe«, heißt es in der unübertroffenen Hitlerbiographie von Ian Kershaw. 1 Sogar höchste NS-Führer hätten, wie sie im Nürnberger Prozess beteuerten, Mein Kampf nie wirklich gelesen.

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Andere Legenden beziehen sich auf den Produktionsprozess des Buches. Hitler habe es in der Landsberger Haft 1924 Rudolf Heß diktiert. 2 Außerdem seien viele Hintermänner an dem Text beteiligt gewesen, als eigentlicher Einflüsterer habe Karl Haushofer fungiert, angeblich »Hitlers Lehrmeister« 3 . Solchen und anderen Fragwürdigkeiten fühlt der österreichische Historiker auf den Zahn.

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In allen drei Teilen des über 600 Seiten starken Buches dürfen sich nicht nur Zeithistorikerinnen angesprochen fühlen, sondern auch Buchwissenschaftler. Plöckinger verzichtet darauf, Hitler erneut hermeneutisch auszudeuten. Vielmehr legt er eine vorbildhafte Geschichte der Produktionskontexte, der verlegerischen und politischen Interessen, der Distribution und der Rezeption in drei allerdings sehr ungleichen Teilen vor. Der erste Teil (S. 9–164) geht der Entstehungsgeschichte nach, der kleinste Teil (38 Seiten) der Publikationsgeschichte, aber fast zwei Drittel des Textes (S. 203–577) widmen sich der Rezeptionsgeschichte von Mein Kampf.

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Die Abfassung des Buches
und die angeblichen Mitarbeiter

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Vorstufen von Mein Kampf lassen sich schon für Frühjahr 1924 nachweisen, als der Prozess wegen des Putschversuches lief. Die Redundanzen und die chaotische Struktur des Textes erklären sich daraus, dass Hitler kein geschlossenes Werk verfasste, sondern ständig auf tagespolitische Diskussionen und innerparteiliche Querelen etwa mit den Völkischen reagierte, aber auch auf eigene finanzielle und rechtliche Probleme. Kurz nach dem Gerichtsurteil im April 1924 lässt sich Hitlers Vorhaben nachweisen, eine »Abrechnung« mit den »Verrätern« des 8./9. November 1923 zu schreiben, wobei es ihm auch ums Geldverdienen ging. Erst im Juli wollte Hitler die Rechtfertigungsschrift durch einen biographischen Teil ergänzen.

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Die vielen heimlichen Mitarbeiter, die in der Literatur kursieren, erweisen sich nach Plöckingers Recherchen als Chimären. Dass Rudolf Heß an der Schreibmaschine saß, in die ihm Hitler sein Manuskript diktierte, entpuppt sich als Missverständnis der Gefängniswärter. Hitler hielt Vorlesungen aus seinen Texten, später nur noch für Heß, dieser schrieb jedoch an einer eigenen Arbeit. Beide Tätigkeiten verschmolzen bei den Wärtern zur Legende vom Hitler-Heß-Diktat. Die Briefe im Nachlass von Heß bestätigen, dass Hitler ihm fertige, selber verfasste Kapitel vorgelesen hat. Auch der Mithäftling Emil Maurice, der Hieronymiter-Pater Bernhard Rudolf Stempfle sowie der Verleger Max Amann und andere lassen sich nicht als Mitarbeiter nachweisen. Der Geopolitiker Haushofer hat zwar über Heß einen mittelbaren Einfluss auf Hitlers Weltbild ausgeübt, seine regelmäßigen Besuche bei ihm indes sind eine freie Erfindung. In keiner der Besucherlisten taucht Haushofer auf, der überdies damals mit Hitler ein gespanntes Verhältnis hatte.

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Neukonzeption und Titelfrage 1925

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Mehrfach musste die Publikation des bereits im Druck befindlichen Buches gestoppt werden, da es unklug erschien, angesichts des durch die bayerische Regierung im März 1925 erteilten Redeverbots für Hitler und seiner drohenden Ausweisung mit einer republikfeindlichen »Abrechnung« aufzufallen. Jetzt entschloss man sich, das Buch in zwei Bände zu spalten. Die kritischen Jahre ab 1920 sollten lieber einem späteren zweiten Band vorbehalten sein.

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Die Neukonzeption erforderte auch eine veränderte Namensgebung des Buches. Aus dem gespreizten Titel Viereinhalb Jahre Kampf gegen Lüge, Dummheit und Feigheit. Eine Abrechnung, der damals durchaus verständlich war – viereinhalb Jahre Kampf galt als gängige Formel für die Dauer des Ersten Weltkriegs, von Hitler umgemünzt auf seine viereinhalb Kampfjahre von 1919 bis 1923 – wurde schlicht Mein Kampf. Der alte Titel hatte keinen Sinn mehr, wollte der erste Band doch vorsichtshalber gerade dort aufhören, wo Hitlers viereinhalb Kampfjahre begannen. Plöckinger subsumiert die These, der Kampftitel stamme von Amann, zwar unter »reine Spekulationen«. Es habe sich um ein »Zufallsprodukt« gehandelt. Gleichzeitig aber weist er nach, dass dieser Kurztitel erstmals in einer vom Verlag geschalteten Anzeige im Februar 1925 auftaucht, was durchaus für einen verlegerischen Einfluss spricht. Jedenfalls erschien im Juli 1925 der erste, im Dezember 1926 der zweite Band.

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Auflagen und Absatz

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Der erste Band, in 10.000 Exemplaren gedruckt, war trotz der Bücherkrise, trotz seines hohen Preises von 12 Reichsmark, aber angekurbelt von massiver Werbung des Eher-Verlages binnen Jahresfrist fast verkauft, während der Absatz des Folgebandes schleppend verlief. Die Leser waren eher auf die »Biographie« neugierig als auf politische Auslassungen. In den folgenden Jahren kam der Verkauf fast zum Erliegen. Erst Anfang 1930, noch vor dem großen Wahlerfolg der NSDAP im September, schnellten die Absatzzahlen in die Höhe. Der Verlag entschloss sich zu einer einbändigen Volksausgabe.

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Obwohl mit acht Reichsmark recht teuer, reüssierte diese Standardausgabe rasch. 1930 verkaufte sich Mein Kampf in 54.086 Stück. Bis Ende 1932 waren insgesamt von allen seit 1925 erschienenen Ausgaben fast eine Viertelmillion Exemplare verkauft worden. Solche Zahlen erreichten nur Bestsellerautoren wie Erich Maria Remarque, Stefan Zweig oder Thomas Mann, dessen Buddenbrooks sich im November 1932 der Millionenschwelle näherten, nachdem sie seit 30 Jahren auf dem Markt und seit drei Jahren für knapp drei Mark zu haben waren. 4 Im Vergleich zum Buch seines beneideten Konkurrenten dümpelte Alfred Rosenbergs Mythus des 20. Jahrhunderts (1930) vor sich hin. Er brachte es bis August 1933 nur auf eine Gesamtstückzahl von 17.000, während Hitler jetzt über eine Million verkaufte. Die letzte Auflage 1944 zählte 12.450.000 gedruckte Exemplare von Mein Kampf, das keineswegs »unverändert« blieb, sondern unterwegs über 2.000 Abänderungen erfuhr.

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Die Rezeption von Mein Kampf

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Bereits 1933 also erlebte die freiwillige Wahrnehmung des Buches einen Höhepunkt. Plöckinger interessiert vor allem, welche Aufnahme das Buch vor dem Regimewechsel erfuhr (S. 203–403). Dafür untersucht er verschiedene Akteure, vor allem Staat und Justiz, die Publizistik, evangelische, katholische und jüdische Stimmen, völkische Gruppierungen, die Nationalsozialisten selber, die Parteien sowie Wirtschaft und Gewerkschaften. Wie fällt das Ergebnis dieser umfangreichen Rezeptionsforschung aus?

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Leider fehlen in dieser Ausgabe zwanzig Seiten. Es handelt sich um das Resümee. Das müssen sich die Leserinnen und Leser wohl selber schreiben. Plöckingers Befunde in den einzelnen Kapiteln fallen heterogen aus. Um so wünschenswerter wäre es gewesen, hätte er selber eine Synthese gewagt und Schlussfolgerungen für die NS-Forschung gezogen, etwa für die Frage nach dem Stellenwert von Mein Kampf und der Bedeutung seiner Diagnose für eine intentionalistische Interpretation. Waren »Hitlers willige Vollstrecker« auch Hitlers willige Leser? Welcher Konnex ergibt sich zwischen Lektüre und Praktiken ganz gewöhnlicher Deutscher?

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Staat, Medien, Parteien

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Wie also fallen die Beobachtungen in diesem dritten Teil, dem Herzstück der Studie aus? Verschiedene Ministerien wie etwa das Preußische Innenministerium beschäftigten sich spätestens seit 1930 mit dem Buch. Basierend auf dem Programm der NSDAP und auf Hitlers Mein Kampf verbot das Preußische Staatsministerium im Juni 1930 den Beamten in Preußen die Mitgliedschaft in allen staatsfeindlichen Organisationen, gemeint war primär die NSDAP. Die Presse interessierte sich rege für die autobiographischen Teile und nahm den Antisemitismus wenig ernst. 1932 kam es zu einer »Flut von Publikationen über Hitler«, in denen Mein Kampf zu einer der wichtigsten Quellen avancierte (S. 232). Jetzt war das Buch »zum Allgemeingut« geworden (S. 240).

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Die selben Aufmerksamkeitsphasen gelten auch für die christliche Publizistik, die sich seit 1930 mit Rosenberg wie mit Hitler beschäftigte, wobei man im Protestantismus geteilter Meinung war, während sich die meisten katholischen Stimmen ablehnend aussprachen. Immerhin erkannte der evangelische Herausgeber der Christlichen Welt, Martin Rade, aus der Lektüre von Mein Kampf im Juli 1932, dass Hitlers offen gelegten »Grundtriebe«, wenn es Ernst werde, zur »Ausrottung der Juden und der Novemberverbrecher« führen müssten. Andere waren begeistert. Der evangelische Pfarrer Wilhelm Meyer dankte 1931 Gott »für die Stunden, in denen ich Adolf Hitlers ›Mein Kampf‹ studierte. Denn in diesem Werke trat mir die Frömmigkeit einer großen christlichen Seele entgegen, ausgewertet für den politischen Werdegang [...] der nordischen Rasse.«

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Auf katholischer Seite wurde der Rassenantisemitismus, wenn er überhaupt auffiel, verworfen, stattdessen für einen »richtigen, geistigen Antisemitismus« oder einen »stillen Antisemitismus« plädiert. Am meisten interessierte man sich aber für das Verhältnis der Nationalsozialisten zur Religion. Plöckinger hält fest: Die »wesentlichen Inhalte« von Mein Kampf konnten »Ende 1931 auch denen nicht mehr unbekannt sein, die es nicht selbst gelesen hatten« (S. 301). Juden dagegen scheinen das Buch eher verachtet als gelesen zu haben.

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Nationalsozialistische Autoren wie Goebbels und Rosenberg vermieden es, in ihren Schriften Mein Kampf zu zitieren, das um 1930 immer höher in der Hierarchie der NS-Bücher aufstieg. Hitler selber distanzierte sich gelegentlich von seinem Werk. Französische Nachfragen etwa suchte er durch die ›Historisierung‹ seines Buches zu zerstreuen. Die besorgniserregenden Passagen über Frankreich, erklärte er, seien angesichts des Ruhrkampfes und »mit der Empörung eines verfolgten Apostels« geschrieben worden (S. 555). Umschreiben bräuchte er sein Buch nicht, er schreibe in das Buch der Geschichte. Den Spagat zwischen Gültigkeit und Ungültigkeit, zwischen »Parteibibel« und vertuschten Peinlichkeiten mussten die Zeitgenossen und müssen die Forscher bis heute ertragen. Regelmäßige Leseabende machten das einfache Parteimitglied mit den Inhalten des zum »Evangelium« aufgestiegenen Werkes vertraut.

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»Zwiespältig« fällt das Resultat bei der Zentrumspartei aus. Sie beschäftigte sich intensiv mit dem Nationalsozialismus. Hitlers Buch wurde dabei zwar zur Kenntnis genommen, stand aber nicht im Mittelpunkt. Auch in der Faschismusdebatte der SPD und beim Reichsbanner spielte es eine untergeordnete Rolle. Für die KPD blieb die SPD der Hauptfeind. Auch die Gewerkschaften unterzogen Mein Kampf keiner eingehenden Analyse.

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Kurzum: Einerseits kommt Plöckinger nicht umhin, nachzuweisen, dass Mein Kampf tatsächlich vielfach ungelesen blieb, zumindest kaum ernst genommen wurde, etwa in den Parteien, andererseits nennt er die These vom ungelesenen und unbeachteten Bestseller eine der »hartnäckigsten Verallgemeinerungen und Fehleinschätzungen zur Geschichte des Nationalsozialismus«, gegen die er energisch und wiederum mit guten Belegen vorgeht. Das Fehlen einer abwägenden Betrachtung seiner widersprüchlichen Befunde im nicht vorhandenen Resümee öffnet eigenen Deutungen Tür und Tor.

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Überhaupt sind Zusammenfassungen willkürlich in den Text eingestreut. In manchen Kapiteln und Unterabschnitten tauchen welche auf, in anderen gar nicht. Im entscheidenden Teil III sind Kapitel 1 bis 8 gleichrangig, werden aber ungleich mit Resümees bedacht. Kapitel 1 (»Staat und Justiz«) hat keine Zusammenfassung, aber Kapitel 2 (»Publizistik«); in 3 (»christliche Publizistik«) ist sie plötzlich wieder verschwunden (aber in zwei von drei Unterkapiteln), bei 4 (»Jüdische Publizistik«) findet sich eine, die resümeelose Durststrecke von Kapitel 5 bis 8 wird lediglich von einer Zusammenfassung für ein Unterkapitel von 7 (»SPD und Reichsbanner«) unterbrochen – und so geht es in den folgenden Kapiteln weiter (dem Kapitel zur Rezeption in Großbritannien werden zwei Zusammenfassungen gegönnt, der sowjetischen eine, Frankreich und Österreich keine).

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Mein Kampf ab 1933

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Fest steht, dass Mein Kampf schließlich von 1933 an weder Zwangslektüre für jedermann noch Ladenhüter wurde. Vielmehr weiß Plöckinger auch hier genau zu differenzieren und einigen Klischees entgegenzutreten. Das Buch wurde auf verschiedenen Wegen verbreitet. Das Preußische Innenministerium ordnete im Juli 1933 an, jedem Beamten müssten die wichtigsten Werke des NS-Schrifttums zugänglich gemacht werden. Die Schutzpolizei sollte mit Exemplaren von Mein Kampf ausgestattet werden. Es fand Eingang in die Erziehungsarbeit der Wehrmacht, keineswegs aber in alle Schulen, wo eher mit zusammenfassenden Textbüchern und Spruchsammlungen gearbeitet wurde.

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Den Umgang mit dem Buch in den Kirchen, den Plöckinger bis 1933 ausgiebig studiert hat, blendet er für die Zeit ab 1933 leider aus. Für seine unterschwellige These der freiwilligen Lektüre bieten sich jedoch besonders die deutschen Christen an. Manche Pfarrer fanden es eminent männlich, in ihren Kirchen regelmäßige Vortragsabende über Mein Kampf zu veranstalten. Selbst spätere Lichtgestalten der Bekennenden Kirche wie Pastor Martin Niemöller hatten sich einst anstecken lassen. 1931 soll der ehemalige NSDAP-Wähler Hitlers Buch »fasziniert« gelesen haben. 5

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Die Mär vom unvermeidlichen Hochzeitsgeschenk
und vom ungelesenen Buch

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Vor allem die Geschichte vom unvermeidlichen Hochzeitsgeschenk kann endlich als aufgeklärt gelten. Oft muss sie als Beweis herhalten, dass das Buch zwangsverordnet und mithin nicht gelesen wurde. In Wirklichkeit ging die Aktion nicht von der Partei aus, war sie weniger eine Machtfrage als vielmehr eine Marktfrage. Der Eher-Verlag saß 1935 auf einem Überproduktionsberg von Mein Kampf. Um den Absatz zu steigern, kam er auf die Idee, deutsche Städte anzuschreiben, ob sie nicht jedem Brautpaar das »Werk des Führers« überreichen wollten, wie es in Pössneck (Thüringen) schon Brauch sei.

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Die Resonanz blieb zunächst bescheiden, zumal der Verlag den vollen Preis für die Volksausgabe verlangte, was viele Kommunen in eine prekäre Lage gebracht hätte. Obwohl sich ein Jahr später das Innenministerium einmischte und per Erlass ein Fiasko zu vermeiden und die Geschenkkampagne anzukurbeln versuchte, nahmen Mitte 1937 erst 12.000 bereitwillige Gemeinden daran teil. Das waren jedoch nur 24 Prozent aller Gemeinden; 1938 waren schließlich 50 Prozent erreicht. Ausgerechnet Berlin und München, aber auch andere große Städte wie Köln, Leipzig, Nürnberg weigerten sich lange. Keineswegs also wurde »jedes Hochzeitspaar« (Kershaw) mit dem Buch bedacht.

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Rezeptionsforschung ist immer schwierig. Was wurde wirklich gelesen, verarbeitet und wie verstanden? Immerhin prüft Plöckinger die Ausleihzahlen in Bibliotheken. In den ersten Jahren der Diktatur (1933–1937) »scheint das Interesse an Hitlers Buch ganz erheblich gewesen zu sein«, folgert er aus den Zahlen. Tatsächlich wurde in der Landesbibliothek Coburg 1935 das Exemplar des zweiten Bandes 21 Mal entliehen. Die anderen Zahlen bleiben aber weit hinter diesen Möglichkeiten zurück und meist im einstelligen Bereich. In einigen Bibliotheken wiederum führte Mein Kampf die Ausleihliste an wie in Eppendorf (Hamburg). Ein Zwischenresümee hält fest, dass Hitlers Buch »in Literatur und Wissenschaft, Schule, Verwaltung und Militärforschung omnipräsent war«, und sei es vermittelt durch Zitate (S. 443).

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Wie konnte angesichts der nachgewiesenen Rezeption und Fehlrezeption des Buches vor und nach 1933 die Legende entstehen, es sei nicht gelesen worden? Auch diesen Spuren geht Plöckinger nach. Ehemalige Anhänger, die sich vom Nationalsozialismus abgewandt hatten, Arthur Dinter etwa, vor allem aber Otto Straßer und sein Umfeld, führten schon früh eine Kampagne, in der sie das Buch lächerlich machten und behaupteten, nicht einmal das Gefolge Hitlers kenne es. An diese Legende knüpften viele nach 1945 dankbar an. Endlich heißt es Abschied nehmen von ihr. Hitlers Buch wurde gelesen, was bei 12 Millionen Exemplaren nicht nur wahrscheinlich anmutet, sondern für viele Bereiche und Ebenen plausibel aufgezeigt werden konnte.

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Dafür hat der Autor, Gymnasiallehrer in Salzburg, bewundernswert viel Material verarbeitet, zahlreiche Schriften, Zeitungen und Nachlässe ausgewertet, die Besucherliste des Landsberger Gefängnisses, Archive im In- und Ausland befragt sowie etliche Funde aus kleinen Stadtarchiven und Bibliotheken ans Tageslicht gefördert. 1850 Archive, Bibliotheken, Einrichtungen und Privatpersonen hat er kontaktiert und insgesamt mit den Unterlagen und Informationen von 400 Einrichtungen gearbeitet. Selbst monumentale Qualifikationsschriften warten oft mit weniger auf. Um eine Dissertation handelt es sich jedoch nicht – die hatte der Autor schon 1998 über Hitler als Redner vorgelegt – ,sondern einfach um solide, bodenständige, quellennahe Grundlagenforschung, von der man sich nur mehr Mut zur Synthese gewünscht hätte.

 
 

Anmerkungen

Ian Kershaw: Hitler (Bd. 1: 1889–1936) Stuttgart: DTV 1998, S. 301.   zurück
Vgl. ebd., S. 300.   zurück
Vgl. Bruno Hipler: Hitlers Lehrmeister. Karl Haushofer als Vater der NS-Ideologie. St. Ottilien: EOS 1996.   zurück
Vgl. Reinhard Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels. München: Beck 1999, S. 339, 354 f.   zurück
Vgl. Manfred Gailus: Protestantismus und Nationalsozialismus. Studien zur nationalsozialistischen Durchdringung des protestantischen Sozialmilieus in Berlin. Köln: Böhlau 2001, S. 295, 319.   zurück