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»Daß ich den nicht hab gemördert«.
Bemerkungen zur Sequenzanalyse eines
historischen Fall von Delinquenz

  • Michael Niehaus: Mord, Geständnis, Widerruf. Verhören und Verhörtwerden um 1800. (Schriften zur historischen Kommunikationsforschung 1) Bochum: Posth 2006. 237 S. Kartoniert. EUR (D) 24,90.
    ISBN: 3-9810814-0-4.
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Der Fall und seine Bedeutung

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Am Heiligen Abend des Jahres 1787 wird der Wagnermeister Jakob Sauter des Meuchelmords an dem im Konstanzer Spital arbeitenden Gesellen Johann Baptist Fromlet verurteilt – zu einer zwanzigjährigen Ankettung im Gefängnis und zu einer jährlich, in aller Öffentlichkeit zu vollziehenden Züchtigung durch 40 Stockstreiche. Der Urteilsbegründung vorausgegangen sind neun Verhöre des Angeklagten durch eine dreiköpfige Untersuchungskommission unter dem Vorsitz des Rats von Albini und in der Anwesenheit eines Gerichtsschreibers, des Kanzlisten Rosenlächer. Insgesamt zweihundertdreiundneunzig sogenannte ›Interrogatorien‹ – »Fragstücke« (S. 18) – werden Jakob Sauter zu seinem Aufenthalt in Konstanz, zu seiner Arbeit im Spital, zu seinem Verhältnis zum Ermordeten, zur Tat und deren potentiellen Täter wie Motive vorgelegt.

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Ausführlich hält Rosenlächer Fragen und Antworten fest, und zwar nicht nur die sprachlichen Ausführungen Sauters, sondern auch alle paralinguistischen Zeichen – noch das Schweigen des Befragten wird notiert. Ziel ist es, den Wagnermeister zum Geständnis zu bewegen, Fromlet am frühen Morgen des 22. November in einer Diele über der Werkstatt mit sieben Beilhieben erschlagen zu haben. In die Enge getrieben und eingeschüchtert, nach dem zweiten Verhör unter verschärften Haftbedingungen in seiner Zelle eingeschlossen, gesteht Sauter im Verlauf des vierten Verhörs den Mord: Er ordnet sich als Täter der Tat zu, ohne dass irgendwelche Indizien, geschweige denn Zeugen ihn als den Mörder identifizieren. Doch beim sechsten Verhör tritt Sauter mit einem Kruzifix in der Hand dem Gericht entgegen und widerruft in Namen des Gekreuzigten sein zuvor abgelegtes Geständnis, indem er darauf insistiert, »daß ich den nicht hab gemördert« (S. 136). An der Einstellung des Gerichts ändert dies indes nichts: Sauter bleibt der Schuldige und sein Widerruf stellt lediglich eine weitere Lüge dar, die seine noch den Mord provozierende Bösartigkeit unterstreicht. Und auch wenn der Wagnermeister bis zur letzten Frage des Gerichts die Tat bestreitet, so wird sie ihm – trotz mangelnder Indizien, trotz fehlender Zeugen und trotz eines ausdrücklichen Widerrufs – aus bloßen Verdachtsgründen zugerechnet und das Urteil gefällt.

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Der Fund dieses historischen Rechtsfalls ist dem Literaturwissenschaftler Michael Niehaus zu verdanken. Niehaus, der sich dem juristischen Verfahren des Verhörs bereits in verschiedenen Publikationen, vor allem in seiner Habilitationsschrift Das Verhör, zugewendet hat, 1 macht es sich in seiner nun publizierten Studie zur Aufgabe, das im Stadtarchiv Konstanz aufbewahrte Gerichtsprotokoll über den Fall des Wagnermeisters Sauter in einer Sequenzanalyse zu präsentieren und zu kommentieren. 2 Doch nicht nur das: »Es soll hier zugleich das Schicksal eines verhörten Subjektes erzählt werden. Es soll erzählt werden als eine Geschichte, die zu denken gibt.« (S. 13) Im Wechselspiel von Protokollzitat und Deutung gelingt es Niehaus, die zwischen den Zeilen versteckten Strategien, Vermutungen und Unterstellungen des Gerichts ebenso zu entfalten wie die Ängste, Verunsicherungen und Ausweichmanöver des Angeklagten – gelingt es ihm einen historischen Fall ins Leben zu rufen.

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Dabei kommt dem Fall Sauters, wie Niehaus in seiner Einleitung betont, exemplarische Bedeutung zu. Denn zum einen erweist sich Sauter in der Verhörsituation als der »›paradigmatische Inquisit‹, der die Symptome seiner Stellung als Inquisit mustergültig reproduziert« (S. 11). Und zum anderen ist das Protokoll, das all diese »Symptome« vom erschreckten Schweigen bis zum trotzigen Antworten verzeichnet, »ein mustergültiges Protokoll« (S. 11). Niehaus‘ Fundstück bietet damit einen Einblick sowohl in das juristische Verfahren des Verhörs als auch in die juristische Praktik des Protokollierens. Seine folgende Sequenzanalyse der überlieferten Protokolle liefert darüber hinaus einen präzisen Aufschluß über eine spezifische Form der face-to-face-Kommunikation.

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Der Fall und seine Auswertung

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Die face-to-face-Kommunikation, die Niehaus minutiös wie plastisch aus den Protokollen rekonstruiert, ist nicht nur eine formal spezifizierte, insofern die Gerichtssituation den kommunikativen Rahmen bildet und damit die Sprechpositionen von Fragendem und Antwortenden hierarchisch festgelegt sind. Sie ist auch eine historisch spezifizierte, insofern das Verhör erst allmählich im Verlauf des 18. Jahrhunderts von der Folter als einem es begleitenden wie unterstützenden Mittel der ›Wahrheitserpressung‹ 3 abgekoppelt wird und allein sprachlich noch ein Geständnis erzielt werden darf.

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Die Auswertung der Verhörprotokolle durch Niehaus betont durchgängig diesen historischen Index und benennt die geschichtliche Schwelle, von der das Verhör zeugt. Denn seit der 1769 erlassenen Theresiana Constitutio Crimnalis, deren Verordnungen für die Konstanzer Untersuchungskommission verbindlich sind, ist es gesetzlich schon geboten, das Geständnis ausschließlich in einem Frage-Antwort-Spiel zu produzieren. Doch noch fehlt es den Richtern sowohl an praktischer Erfahrung, wie in der konkreten Verhörsituation das Geständnis sprachlich herbeizuführen ist, als auch an Lehrbüchern sowie Abhandlungen, die Strategien an die Hand geben, wie die kommunikative Situation am effektivsten zu steuern ist (vgl. S. 229-232). In den Worten von Niehaus dokumentieren damit die Protokolle des Falls Sauters eine »Auffassung vom Verhör, die ›noch nicht‘‹die Folgerungen daraus gezogen hat, daß es nach Abschaffung der Folter zu einer unhintergehbaren Kommunikationssituation geworden ist.« (S. 227)

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Eine rechtshistorische Schwelle markiert das Verhör Sauters durch von Albini auch mit Blick auf sein Aufzeichnungsmedium. Der geflissentliche Rosenlächer vermerkt eben nicht nur die Aussagen des Angeklagten, sondern gleichfalls deren Modus. Diese sogenannten Gebärdenbemerkungen, die Stocken, Stammeln und Schweigen ebenso notieren wie etwa Zittern, Erbleichen und Erröten finden sich in den Verhörprotokollen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts relativ selten. 4 Sie werden erst ab dem Moment eingefordert, da das Geständnis sprachlich zu erzielen ist und zur Sprachlichkeit des Angeklagten, die dessen Schuld oder Unschuld offenbart, auch die in der kommunikativen Situation des Verhörs erzeugten gestischen und mimischen Reaktionen gerechnet werden. Für diese Neuausrichtung der gerichtlichen Praxis zeichnet gleichfalls die Theresiana mitverantwortlich, insofern sie von den Gerichtsschreibern ausdrücklich eine Ergänzung ihrer Verhörprotokolle um die differenten Gebärden des Verhörten einklagt (vgl. S. 29f.)

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In seiner Auswertung des Falles kontextualisiert Niehaus stets zentrale Auffälligkeiten des gerichtlichen Verfahrens – die ausschließlich sprachliche Evokation des Geständnisses, das Verzeichnis der Gebärden, die Verordnung einer Lügenstrafe (S. 63-67), der Widerruf des Geständnisses (S. 137-142), die Qualitäten eines vollständigen Geständnisses (S. 221-223) –in den zeitgenössischen Ausführungen zu den Rechtspraktiken, wie sie von Gesetzgebern und Juristen vorgelegt werden. Durch diese ausführliche rechtshistorische Einbettung leistet seine Studie zugleich einen Beitrag zur Geschichte gerichtlicher Praktiken und deren Modifikationen am Ende des 18. Jahrhunderts.

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Das Hauptaugenmerk seiner Auswertung richtet Niehaus indes auf die einzelnen ›Interrogatorien‹ und ihr Zusammenspiel, in dem zunächst ein Geständnis erzielt wird, das dann widerrufen wird und schließlich neuerlich gewonnen werden soll. Abwechselnd nimmt Niehaus die Perspektive des Richters und die des Beschuldigten ein, führt sie gegeneinander und wägt sie in ihrer Intentionalität wie Argumentationskraft ab. Dabei ist es durchweg beeindruckend, wie Niehaus aus einer noch so kurzen und scheinbar beiläufigen Frage des Vorsitzenden von Albini den gesamten Komplex strategischer Gesprächsführung und ein ganzes Netz richterlicher Vermutungen und Antizipationen herausarbeitet. Und es ist ebenso faszinierend, wie Niehaus noch aus dem Schweigen des Angeklagten Sauter ein plastisches Portrait von dessen psychischer Befindlichkeit zwischen Ohnmacht und Selbstvertrauen, zwischen Furcht und Erleichterung erstellt.

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Durch die Konfrontation beider Perspektiven weist Niehaus eindrücklich nach, wie der Verhörende Blockaden beim Verhörten provoziert, wie er das Geständnis generiert und noch zu dessen Widerruf anreizt. Und er führt vor, wie das einmal abgelegte Geständnis nicht zurückgewonnen werden kann, da sich der Verhörte »auf den isolierten, einsamen Punkt des Widerrufs zurückgezogen (hat)« (S. 181) und da für den Verhörenden »nichts mehr da (ist), was man dem Inquisiten vorhalten könnte«, er mithin in einer »Wiederholungsschleife« der›Interrogatorien‹ gefangen ist. (S. 196) In seiner Auswertung des Falls Sauters erzählt Niehaus, wie er es in seiner Einleitung versprochen hat, nicht nur eine Geschichte, die sich spannend wie ein Roman liest. Er erzählt sie zugleich so, daß er zu bedenken gibt, daß die juristische Wahrheit, die das Gericht seinem Urteil zugrunde legt, Effekt eines Frage-Antwort-Spiels ist –eine durch und durch sprachliche Konstruktion darstellt.

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Der Fall und die Literaturwissenschaft

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Die Studie von Niehaus ist für Rechtshistoriker wie Literaturwissenschaftler gleichermaßen interessant. Für Rechtshistoriker ist sie lesenswert, da sie ausgehend von einem historischen Einzelfall von Delinquenz Einsicht bietet in juristische Verfahren und Techniken. Dabei veranschaulicht die Studie, wie fruchtbringend es sein kann, wenn sich ein Literaturwissenschaftler einer Textgattung zuwendet, dem Gerichtsprotokoll, die nicht in sein angestammtes Betätigungsfeld fällt. Denn gerade der philologische Blick von Niehaus läßt die rhetorischen Strategien und Argumentationsfiguren, die Brüche und Verwerfungen in der Gesprächssituation plastisch hervortreten.

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Für Literaturwissenschaftler ist die Studie lesenswert, da sie am Fall Sauters immer auch »die allgemeinen Implikationen einer diskursiven Wahrheitssuche« (S. 9) erörtert und problematisiert. Eben damit – mit der sprachlichen Herstellung von Wahrheit und Wirklichkeit – ist der Literaturwissenschaftler permanent konfrontiert. Niehaus nun liefert mit seiner Untersuchung ein Musterbeispiel dafür, wie diese sprachliche Evokation aufzuschlüsseln und zu verstehen ist. Mit Blick auf die interpretierte gerichtliche Kommunikationssituation kommt hinzu, dass die sprachliche Herstellung von Wahrheit und Wirklichkeit an ein Machtverhältnis gebunden bleibt, so dass die von Niehaus praktizierte Satz-für-Satz-Analyse des Protokolls zugleich den Konnex von Gewalt und Sprache entfaltet.

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Historische Anknüpfungspunkte ergeben sich dadurch für den Literaturwissenschaftler auch konkret mit Blick auf seinen Textkorpus. Denn zum einen kann die Untersuchung von Niehaus dafür sensibilisieren, nicht nur literarische Texte, die explizit eine Kommunikationssituation vor Gericht thematisieren –wie etwa Heinrich von Kleists Zerbrochner Krug oder E.T.A. Hoffmanns Ignaz Denner –, sondern auch literarische Texte, die dialogische Kommunikationssituationen zur Herstellung von Wahrheit einsetzen – wie dies etwa zahlreiche Dramen von Friedrich Schiller und Kleist betreiben – auf vergleichbare Verhörstrukturen, hierarchische Verhältnisse und den ihnen inhärenten Konnex von Macht und Sprache zu überprüfen. Und zum anderen bietet der Fall des Wagnermeisters Sauter in seinem Täterprofil weiteres Material für eine sozialgeschichtliche Situierung der deutschen Kriminalgeschichten, wie sie gerade zeitgenössisch zu dem von Niehaus verhandelten Fall von Schiller über August Gottlieb Meißner und Karl Friedrich Müchler bis Hoffmann boomen.

 
 

Anmerkungen

Michael Niehaus: Das Verhör. Geschichte – Theorie – Fiktion. München: Fink 2003; ferner: M.N.: »Geständniszwang«. Überlegungen zu einer Theorie des Geständnisses. In: Kriminologisches Journal 32 / 1 (2000), S. 2-18; M.N.: Das ideale Verhör. Ein theoretischer Klärungsversuch. In: Zeitschrift für Rechtssoziologie 24 / 1 (2003), S. 71-93; M.N.: Wort für Wort. Zu Geschichte und Logik des Verhörprotokolls. In: M.N./Hans-Walter Schmidt-Hannisa (Hg.): Das Protokoll. Kulturelle Funktionen einer Textsorte. Frankfurt/M./New York/Zürich: Peter Lang, S. 27-47.   zurück
Vgl. zur Sequenzanalyse vor allem: Ulrich Oevermann: Die Methode der Fallrekonstruktion in der Grundlagenforschung sowie der klinischen und pädagogischen Praxis. In: Klaus Kraimer (Hg.): Die Fallrekonstruktion. Sinnverstehen in der wissenschaftlichen Forschung. Frankfurt/M.: Suhrkamp2000, S. 58-156.   zurück
Vgl. zu dieser Formulierung die Ausführungen zur Folter von Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1976, S. 54-57.   zurück
Vgl. hierzu auch Manfred Schneider: Die Beobachtung des Zeugen nach Artikel 71 der ›Carolina‹. Der Aufbau eines Codes der Glaubwürdigkeit 1532-1850. In: Rüdiger Campe/Manfred Schneider (Hg.): Geschichten der Physiognomik. Text – Bild – Wissen. Freiburg: Rombach 1996, S. 153-186.   zurück