Abendschein über Ernst: Das Rumoren der Archive

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Hartmut Abendschein

Immer auf Sendung?
Wolfgang Ernst prognostiziert eine
Medienkultur der permanenten Übertragung

Kurzrezension zu
  • Wolfgang Ernst: Das Rumoren der Archive. Ordnung aus Unordnung (Internationaler Merve-Diskurs; 243) Berlin: Merve Verlag 2002. 141 S. Kart. EUR (D) 11,-.
    ISBN 3-88396-176-0.


Interdisziplinarität wird im akademischen Diskurs immer noch groß geschrieben. Das Rumoren der Archive. Ordnung aus Unordnung bewegt sich an den Schnittstellen zwischen physischen Archiven, den Sprach- und Zensurregeln der Repräsentation von Archiven und den "Theorien des Speicherns". Der dabei von Wolfgang Ernst gewählte Ansatz ist der einer stark assoziativen Umsetzung größtenteils diskursanalytischer Methoden in diesem Feld, läßt dabei aber nur geringen Raum für eine stringente theoretische Auseinandersetzung mit seinem Thema, sodass außer einer Zitatkolonne wichtigster Vertretertexte dieser Ansätze und einer Sensibilisierung auf archivübergreifende Instrumentalisierungsmechanismen nur wenige seiner Skizzierungen folgenreich bleiben.

Was ist ein Archiv?

Wenn im Dokumentationswesen von >Archiv< die Rede ist, so wird meist mit einem engeren Begriffsverständnis gearbeitet: Gesprochen wird über reale Archive, Sammelstellen und -apparate, physische Textkörper, Fragen ihrer systematischen und technischen Repräsentation, Konservation und Bearbeitbarkeit und natürlich über einen fachspezifischen Komplex theoriebildender Elemente.

Einen seinerzeit neuen Akzent des Begriffs >Archiv< schlug Michel Foucault in seiner Archäologie des Wissens vor. Er verstand darunter Aussagesysteme, also Ereignisse und Dinge, die nicht zu verstehen sind als die Summe aller Texte, die eine "Kultur als Dokumente ihrer eigenen Vergangenheit oder als Zeugnis ihrer beibehaltenen Identität bewahrt" habe, sondern vielmehr als ein "System der Diskursivität", der "Aussagemöglichkeiten und -unmöglichkeiten, die es ermöglicht". Eine Aussage ist demnach "das Gesetz dessen, was gesagt werden kann, das System, das das Erscheinen der Aussagen als einzelne Ereignisse beherrscht". 1 Wolfgang Ernsts jüngste Publikation schließt sich dieser Begrifflichkeit an – ohne jedoch stärker auf theoretische oder methodologische Probleme einzugehen –, variiert sie und bearbeitet ein Gebiet auch jenseits
eines Begriffsverständnisses von >Archiv< als "kulturtechnische[r] Universalmetapher" (S. 7).

Archivbegriffe

Den Fundus und die Repräsentation des Archivs werden heute natürlich vor allem ökonomische Erfordernisse diskursiv mitbestimmen. Ernst schreibt aber "aus der Ahnung heraus, dass die Epoche der Archive gerade zuende geht". Das Archiv als Ort des Verschwindens macht den "elektronische(n) Speichermedien" Platz, "welche die althergebrachte Differenz zwischen Archiv, Bibliothek und Museum unter dem Stichwort Information virtuell löschen" (S. 13).

Ein weiterer Blick fällt damit auf eine Analyse des Archivs als Denkfigur für die Potentialität von Aussagen in einer diskursiven Formation, also eines
"allgemeine[n] System[s] der Formation und der Transformation von Aussagen" (S. 18). Der Medien- oder Wissensarchäologe macht sich demnach auf die Suche nach Möglichkeitsbedingungen bestimmter Rede-, Schreib- und Speicherformen und deren Auseinandersetzung innerhalb bestimmter vorhandener oder nicht vorhandener Ordnungen.

Ordnungskriterien sind u.a. die Adressierungen der Texte in einer diskursiven Formation, womit sie verantwortlich sind für die Bündelung von Einzelereignissen zu Einheiten (genau so, wie die Autorfunktion verantwortlich ist für die Bündelung von Texten zu einer qua Autorschaft der Texte homogenisierten Wertigkeit). Eine Konsequenz daraus ist im Kapitel Archive fingieren (S. 53ff.) eine kurze Untersuchung Friedrich Nietzsches als Funktion im Diskurs der Editionspraxis, die wiederum einen praktischen und theoretischen Werkbegriff problematisiert.

Das Archiv redet oder schweigt, macht also – qua (An-)Ordnung – die immer als eine "Präfiguration von Wirklichkeit" (S. 24) angesehen werden muss, Aussagen zu Ereignissen und Personen, stellt Beziehungen her oder eben nicht und oszilliert – metaphorisch gesprochen – zwischen einem "Garten der Fiktionen" und einem "Friedhof der Fakten" (S. 60). Das Archiv als Fiktion und die "archivische Fiktion" werden kurzgeschlossen über die bekannte Autor- bzw. Subjektbegrifflichkeit Foucaults bis hin zur "Geburt fiktiver Identitäten von Usern im Internet" (S. 62). Diese Analogien sind zwar konsequent, doch leider nimmt hier und in den restlichen Kapiteln eine fundiertere Untersuchung wenig bis gar keinen Raum ein; es bleibt bei Andeutungen.

Textspeichergeschichten vs. Ideengeschichte

Der "new historicism" (S. 44–53) wird oftmals als theoretischer Anschluss an Foucaults Wissensarchäologie betrachtet. Eher auffällig als Paradigma der 80er- und 90er-Jahre, bildet er ebenso ein Beispiel alternativer (Archiv-)Geschichtsschreibung zur herkömmlichen Ideengeschichte, indem er neue Ver- und Zuordnungsfunktionen von Texten und Textformen vorstellt. Ernsts Lektüre der Vertretertexte des >new historicism< zeigt wiederum deren Vorstellung der >Geschichte als Text<, 2 die damit eine Kopplung heterogener Texte erlaubt und den kulturellen Resonanzcharakter der verschiedensten Textformen unterstreicht. Eine Ableitung dieses chiastischen Ansatzes legt unweigerlich den Begriff der "Textualität des Archivs" (S. 53) nahe.

Auch der kulturpoetische Ansatz Stephen Grennblatts 3 weist auf den Verhandlungs- und Korrespondenzcharakter von Texten hin. Menschen und Texte führen vor allem in kulturellen Randzonen Tauschhandlungen aus. Ein historiographischer Akt wird von Greenblatt damit weniger mit dem Blick auf eine emphatische Machtkonstellation beschrieben, sondern erfasst diesen vielmehr als Ausdruck eines anthropologischen Bedürfnisses nach Verzeitlichung der Erfahrung. Das Archiv wird damit zum räumlichen und zeitlichen Kulturhandlungsspeicher, der das Nachzeichnen sowohl von Einzelschicksalen als auch kultureller Großtransformationen ermöglichen kann.

Die Medien- und Wissensarchäologie aber – und unter diesem Blickwinkel will Wolfgang Ernsts Text verstanden werden – "will gerade nicht den rätselhaften Punkt wiederfinden, wo das Individuelle und das Soziale sich eines ins andere umkehren" (S. 50). Interessant wird aus dieser Perspektive vor allem eine Analyse der "Aufschreibe- und Speichertechniken des Archivs als Agenturen der Repräsentationspraxis" (S. 50) bzw. als Machtoperatoren.

Die Gewalt der verwaltenden Notation

Der Archivbegriff in obigem Sinne wird von Ernst im Sinne Foucaults auf die Lesbarkeit des Verhältnisses von Macht und der Repräsentation der Dinge justiert. Im Anschluss an Gerhard A. Auers Vorschlag eines kybernetischen Archivbegriffs, der diesen nicht mehr mit der Vorstellung einer universalen Metapher für alle Formen der Speicherung verbindet, sondern eher die Datenspeicherung (S. 39) ins Visier nimmt, analysiert Ernst den Begriff als "Faktor im strategischen Spiel einer Definitionsmacht von Gegenwart".

Das Archiv als Ort des gleichzeitigen Ungleichzeitigen, als >Chronotop<, wird durch die Wirkform (historiographischer) Autorschaft aus seiner Synchronizität befreit. Damit bedeutet Historiographie eine "Transformation der Räumlichkeit des Archivs in den Effekt einer Temporalisierung (Erzählung). Die Ordnung des Archivs folgt einer Logistik (Register), die eher auf Seiten der Infrastruktur von Macht (Verwaltung) denn auf Seiten anthropologischer Bedürfnisse nach Verzeitlichung der Erfahrung steht". Wiederzuerkennen hinter gefundenen Handlungen und Dingen ist weniger eine Anthropologik, die eine Spur des Menschen (in der Geschichte) unterstellt, als eine Systemlogik (S. 49f.), deren Analyse sich mit Foucault'schen Machtbegrifflichkeiten auseinander setzen müsste:

Nicht der, sondern was erinnert heißt Macht [...]. Die Macht des Archivs liegt in seiner postalischen Struktur; doch was, wenn Übertragung immediat geschieht? Mit dem Internet, also der unverzüglichen Aktualisierbarkeit von Speichern, wird diese Nachträglichkeit als Bedingung jeder emphatischen Geschichtsphilosophie gegen Null verkürzt. Gegenüber der Echtzeit von Datenverarbeitung und -speicherung bringt das Archiv den Begriff der Nachhaltigkeit ins Spiel, die Wiedereinführung einer Blockade namens Archivsperre als Schutz von Ressourcen, als Blockade von Information oder als Nachrichtensperre – die katechontische Macht des Archivs, die mit dem psychoanalytischen Begriff der Verdrängung selbst korrespondiert. (S. 74)

Das dynamische Archiv

An genau dieser Stelle wird ein begrifflicher, aber auch konkreter Übergang der kontemporären Speichervorstellung festgestellt. Im Moment des "eigenen Verschwindens als klassischem Wissens- und Kulturspeicher durch elektronische Speichermedien" (S.13) entsteht die Befürchtung einer Bewegung von der "alteuropäischen Kultur, die das Speichern privilegiert, hin zu einer Medienkultur der permanenten Übertragung" (S. 14) – und damit eine Akzentverschiebung "vom emphatischen End- zum dynamischen Zwischenarchiv, von der Speicherung in Permanenz (ROM) zur permanenten Übertragung (RAM)" (S. 111). Waren also ehemals Archive weniger als Orte diskursiver Wirklichkeit beschreibbar, d.h. wurden sie zwar motivierter- oder nichtmotivierterweise mit einem Ordnungssystem versehen und konnten damit Abbildungs- und somit Herrschaftspraktiken veranschaulichen, so kann diese Vorstellung im "Medienzeitalter" mit den Medienarchiven und dem Internet nicht mehr gelten (S. 14f.).

Diese These hat weit reichende Konsequenzen. Sie impliziert die Aufgabe eines (kulturellen) Gedächtnisses als Bedingung einer künftigen Geschichtsschreibung zugunsten der Nutzungsorientierung. Es wird jedoch nicht ganz klar, ob diese Beobachtung als trauriges Fazit oder nüchterne Prognose gestellt wird. Doch in Zeiten modernster Kommunikation wird eine Tendenz sichtbar: "Das Internet selbst bildet dafür das Modell mit seinen vielfach angebotenen >FAQ<-Dateien, den am häufigsten zum jeweiligen Sujet gestellten Fragen. So emergiert eine Enzyklopädie ohne Aufklärer und Autoritäten" 4 und generiert das >dynamische Archiv<
(S. 120ff.).

Ein Ziel von Ernsts Text ist eine archivbegriffliche Abgleichung u.a. vor dem Hintergrund der Denkbarkeit von Speicherprozeduren des multimedialen Raums. Mit – leider zu kurzen – Begriffsdiskussionen, aber auch vielen – teilweise gewagten und spielerisch-assoziativen – Diskursskizzierungen richtet sich der Text vor allem an diskurstheoretisch- und / oder medienarchäologisch interessierte Leser / innen. Der didaktische Minimalismus und der assoziative Charakter lassen den Text als anspielungsreiche Thesenschrift erscheinen, die allein noch nichts erklären kann oder will, sondern vielmehr weitere Fragen und Untersuchungen nach sich ziehen muss.

Das Hauptziel dieses medienarchäologischen Ansatzes ist jedoch,

den Begriff des Archivs selbst zu historisieren, der sich nach wie vor am Fluchtpunkt von alphabetischen Texten und papierenen Formaten orientiert [...] Während Archive in der Vergangenheit institutionell wie legale Datenbanken gegenüber dem öffentlichen Zugriff einer Gegenwart versiegelt haben, off-line, so kommt eine Datenbank online nicht zum Abschluss, sondern ist einer ständigen Evaluation unterworfen. (S. 132)

Hartmut Abendschein, M.A.
Westdeutscher Rundfunk Köln / Printarchiv
Appellhofplatz 1
D-50667 Köln

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Ins Netz gestellt am 05.12.2002
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Anmerkungen

1 Michel Foucault: Archäologie des Wissens. Frankfurt / M.: Suhrkamp 1981, S. 186f.   zurück

2 Ernst bezieht sich auf Hayden White: Tropics of Discourse. Baltimore u.a.: Johns Hopkins University Press 1978.   zurück

3 Ernst bezieht sich auf Stephen Greenblatt: Capitalist Culture and the Circulation System. In: Murray Krieger (Hg.): The aims of representation: subject, text, history. New York: Columbia University Press 1987, S. 257–273.   zurück

4 Zit. nach Norbert Bolz: Wirklichkeit ohne Gewähr. In: Der Spiegel, Nr. 26 (2000), 130f., hier 13.   zurück