Andres über Heftchenliteratur

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Jan Andres

Heftchenliteratur zwischen
Moritat, populärer Belletristik
und Anti-Schundkampf

Kurzrezension zu
  • Populäre Lesestoffe. Groschenhefte, Dime Novels und Penny Dreadfuls aus den Jahren 1850–1950. Katalog zur Ausstellung von Heinz J. Galle (Reihe Kleine Schriften der Universitäts- und Stadtbibliothek Köln 10) Köln: Universitäts- u. Stadtbibliothek Köln 2002. 112 S. Kart. EUR (D) 10,-.
    ISBN 3-931596-19-2.


Auch heute noch findet man sie und sie wiederum ihren Abnehmer und Leser: Vor allem Bahnhofsbuchhandlungen und die immer seltener werdenden Kioske bieten billige Abenteuergeschichten und Paperback-Romane an, die als einfache Lektüre für die Reise oder für Mußestunden noch immer in großer Zahl produziert werden. Heftchen-Reihen wie "Jerry Cotton" bestehen seit Jahrzehnten und sind auch für einen großen Verlag wie Bastei-Lübbe nach wie vor ein anscheinend rentables Produkt. Der Bekanntheitsgrad dieser Hefte ist hoch, auch wenn wenige ungeniert zugeben würden, zu den Lesern zu gehören. Die Unterscheidung zwischen U- und E-Literatur drängt die populäre Belletristik ins Abseits und stigmatisiert auch heute noch. Die Parallele zu einem Gemeinplatz über die Bild-Zeitung bietet sich an: Jeder kennt sie, keiner liest sie.

Ausstellungskatalog

Das vorliegende schmale Buch ist ein Katalog, fast schon ein Führer zu einer Kölner Ausstellung über eben jene Groschenhefte, die populäre Massenliteratur und ihre Geschichte. Obwohl der Band als Katalog natürlich Abbildungen enthält, ist er – deshalb auch eher Führer – ein schriftlich kommentierter Gang durch die große private, teilweise internationale Sammlung Heinz Galles zur Heftchenliteratur, aus der die Ausstellung bestand.

Der historischen wie thematischen Spannbreite der Gattung folgte auch die Ausstellung. Die Mehrzahl der Exponate stammte aus den 100 Jahren zwischen 1850 und 1950 und vertrat die ganze Breite der Genres von den historischen Anfängen als Moritaten über die verwandte Verbrechens- hin zur Reise-, Schauer- und Kriegsliteratur. Dabei wurden nicht nur deutsche, sondern auch internationale Hefte, vor allem aus England, den USA, aber auch Indien, ausgestellt. Die Gattung erfreute sich umfassender Beliebtheit. Die Organisation des Kataloges folgt weitgehend der breiten Anlage der Ausstellung.

Populäre Genres

Ein historisch orientiertes, allerdings recht knappes Vorwort führt in die Geschichte und Entwicklung dieser Literatur ein. Es folgen dann 4–11seitige Abschnitte mit Illustrationen zu den Themen und Genres der Heftchenliteratur. Steht die Entstehung der Gattung aus der frühneuzeitlichen Moritaten- und späteren Balladentradition, die eher oral orientiert war, über die Volksbücher – bereits >technologisiertes Wort< (W. Ong) aus der Oralität in die Literalität – hin zu den ersten billigen Drucken ab etwa 1850 im Zentrum des Vorworts, werden in weiteren Kapiteln andere Aspekte thematisiert. Angesprochen werden etwa die technische Produktion, die Verlage, die Rezeption durch Leser, Kritik und Zensur und die Lage der Autoren. Schon hier zeigt sich immer wieder, daß Literaturgeschichte stets Teil umfassenderer Sozialgeschichte ist, daß Literatur – auch oder vielleicht besonders die populäre – nur in sozialen Zusammenhängen entsteht, wirkt und verstanden werden kann.

Zwar argumentiert der Katalog nicht historisch-systematisch, aber einzelne Kapitel wie "Der Lieferungsroman" (S. 39–49), "Reiseabenteuer und Robinsonaden" (S. 63–66) oder "Volks- und Jugendbibliotheken" (S. 18–21) stellen Einzelheiten und Zusammenhänge anschaulich dar, so daß langsam ein Gesamtbild entsteht. Beschrieben werden die Marktpolitik der Verlage, die erstaunlich flexibel auf die politische Wetterlage (vgl. S. 25) und aktuelle Ereignisse (S. 46) reagierten, die Erschließung neuer Leserschichten durch die Volksbibliotheken für junge und den Lieferungsroman für sozial schwache Leser, Reihenkonzepte und Autorenarbeit. Hier kann man dann Details erfahren über Karl May als Kolportage-Autor (S. 47) oder technische Tricks: War ein Roman zu lang für den geplanten Umfang, wechselte der Drucker im Textverlauf, manchmal mehrfach, einfach die Schriftgröße (S. 24).

Themen und Rezeption

Zwischen den Kapiteln treten durch den erzählenden Gestus chronologische und gelegentlich auch thematische Überschneidungen auf; die Abschnitte sind aber auch einzeln lesbar. So sieht man in "Unterhaltung auf der Eisenbahn" (S. 29–38) sehr schön, wie der literarische Markt auf die technische Entwicklung, den Ausbau der Eisenbahn mit besonderen Produktionen für die Reisenden reagiert. Die "Dime Novels" bestätigen, daß alles schon mal da gewesen ist: Pulp Fiction gab es lange vor dem Hollywood-Film; und die Produktionstechnik und Leserorientierung erweisen den Groschenroman als medialen Vorläufer der beliebten daily soaps (vgl. S. 41): Mit einer billigen und anspruchslosen Produktion wird hoher Gewinn erzielt.

Schließlich wird auch die Rezeption, die Reaktion auf die Heftchenliteratur im Schmutz- und Schundkampf beschrieben (S. 78 f.). Zensur und aufgeregte Moralapostel und Bewahrer des Anstands zogen gegen die verfemten Hefte zu Felde. Zeigt schon der Name "Penny Dreadfuls", wie kritisch die Gattung in England beäugt wurde, wetterten deutsche Gegner gern gegen vermeintliche erotisch-obszöne Reihen (dazu S. 74 ff.). Dabei kam es bis zu Autodafés, was bei kritisierten Darstellungen wie "Sie hatte die Beine übereinander geschlagen, und ganz diskret lugte ein Stück schwarzseidenen durchbrochenen Strumpfes unter dem weiß-karierten Sportrock hervor." (S. 75) doch noch überraschen kann. Von handfester Sexualität meilenweit entfernt, erweisen sich Kritik und Zensurpraxis im Kaiserreich als Einblick in den Sittendiskurs.

Abgeschlossen wird der Band mit einem Blick auf die späte Blüte der Heftchen in der Kriegsliteratur sowohl im Ersten Weltkrieg wie im Dritten Reich. Beide Male Instrument der Propaganda, endet die Produktion mit der Papierknappheit 1941 / 43, die schließlich auch die Feldpostreihen großer Verlage betraf.

Fazit

Der Katalog bietet eine angenehm flüssig geschriebene, populärwissenschaftliche Einführung in das weite Gebiet der populären Trivialliteratur – ein von der Literaturwissenschaft bis heute vernachlässigtes Gebiet. Es ist ein kleiner Beitrag zur Geschichte der deutschen "Einwegliteratur" (S. 30) mit Ausgriffen bis nach England, Amerika und sogar Indien. Durch eine quantitativ überragende Gattung gerät mit Verlagen wie Ullstein, Kröner oder Reclam die Literatur auch als Sozial- und Wirtschaftsfaktor in den Blick. Forschungslücken kann und will der Band nicht schließen, aber er kann einem größeren Publikum einen noch viel größeren Teil der Literaturgeschichte näher bringen.


Jan Andres
Universität Bielefeld
Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft
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D-33501 Bielefeld
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Ins Netz gestellt am 04.11.2002
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Diese Rezension wurde betreut von unserer Fachreferentin Dr. Christine Haug. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez–Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Katrin Fischer.


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