
- Stefan Grissemann: Mann im Schatten. Der Filmemacher Edgar G.
Ulmer. Wien: Paul Zsolnay Verlag 2003. 400 S. mit 40 Abb. EUR (D) 24,90.
ISBN 3-552-05227-5.
Eine ausführliche Biographie des in Olmütz
geborenen Filmregisseurs Edgar G. Ulmer (1904–1972) ist schon lange
überfällig, denn wie Stefan Grissemann feststellt, müßte
"Ulmer, der, gäbe es Gerechtigkeit, längst den Rang eines Sam
Fuller oder Jacques Tourneur haben." Immerhin haben jedoch die
Bewunderung von Truffaut, das mehrfach wiederabgedruckte Interview
Bogdanovichs mit Ulmer sowie jüngste Veröffentlichungen und
Retrospektiven durchaus dafür gesorgt, dass Ulmer kein ganz
"Vergessener der Filmgeschichte geblieben" (S. 11) ist, wenngleich
bislang eine umfangreiche Studie über Ulmers Leben und seine Filme
fehlt. Das liegt wohl auch daran, dass es eine "Herausforderung"
(S.16) ist, den Spuren Ulmers zu folgen, denn Ulmer war "ein Mann mit
Lust an der Legendenbildung, an der Heiligsprechung seiner selbst"
(S. 15), dessen eigene "Angaben zu Leben und Werk" in zahlreichen
Interviews "nachweislich weit übertrieben" und sogar
"schlicht erlogen" (S. 15) sind, wie Grissemann eingangs
konstatiert.
Ein zweiter Münchhausen
Dieser nicht wegzuleugnende Umstand – Ulmer schreckte
z.B. auch nicht davor zurück, sich selbst den Doktortitel zuzulegen
– macht es seinem Biographen nicht gerade leicht, Wirklichkeit und
Legende auseinanderzuhalten. Dabei zeigt sich – und dies macht das Buch
äußerst problematisch – dass sich Grissemann trotz
eigentlich besseren Wissens doch immer wieder auf Ulmers
Lügengeschichten einlässt und dessen Aussagen und denen von Ehefrau
Shirley und Tochter Arianné Ulmer Cipes, die das Erbe ihres Vaters verwaltet,
entschieden zu unkritisch gegenübersteht und sich entweder gar nicht
bemüht, andere, gesicherte Quellen heranzuziehen oder aber Dokumente
abqualifiziert und Ulmers Versionen favorisiert.
"Phantombild"
Das macht sich vor allem störend bemerkbar in den
biographischen Abschnitten und hier ganz besonders in der Darstellung der
sehr in Nebeldunst gehüllten Anfängerjahre Ulmers. So glaubt
Grissemann z.B. Ulmers Behauptungen über seine angebliche Arbeit als
Assistent bei Max Reinhardt und seine Teilnahme an der Amerika-Tournee
Reinhardts 1924, obwohl es dafür überhaupt keinen Beweis gibt.
Reinhardts Theater ist minutiös bis zum letzten Mitarbeiter erforscht,
aber Ulmer ist nirgends erwähnt. Grissemann fällt auch nicht auf,
dass Ulmers belegbare Einreise in die USA am 12. April 1924 (die Grissemann
als zweite USA-Reise Ulmers bezeichnet, obwohl eine frühere Reise
überhaupt nicht nachweisbar ist) mit den Daten der Amerika-Tournee
Reinhardts gar nicht zusammenstimmt, dessen Mirakel-Inszenierung schon
am 15. Januar 1924 (bei Grissemann S. 37 fälschlich "Februar")
in New York Premiere hatte.
Ulmer hat am Deutschen Theater in Berlin lediglich nach
seiner Rückkehr aus den USA 1928 bei Heinz Hilperts Inszenierung Die
Verbrecher als Bühnenbildassistent von Rochus Gliese mitgewirkt
– aber ausgerechnet diese belegbare Tätigkeit erwähnt
Grissemann nicht, der es dagegen "für nicht ganz
unwahrscheinlich" (S. 32) hält, dass Ulmer 1919 – also im
Alter von 15 Jahren! – bei Der Golem wie er in die Welt kam als
"Assistent beigezogen wurde" wobei er groteskerweise als Beleg mit
anführt, dass Ulmer später in The Black Cat einer Figur den
Namen des Filmarchitekten Poelzig gibt.
Auch die angebliche frühe Bekanntschaft mit Murnau
"um 1920 / 21" für die nichts spricht außer
"Baron" Ulmers Phantastereien, lässt er
unverständlicherweise gelten, und es stört ihn offenbar nicht, dass
der Bühnen-und Filmarchitekt Rochus Gliese, der die beiden
"miteinander bekannt" (S. 34) gemacht haben soll, überhaupt
erst 1923 erstmals für Murnau einen Film ausstattet. Immerhin stolpert
er darüber, dass Ulmer 1925 sowohl in Berlin an Murnaus Faust
mitgewirkt und zur gleichen Zeit in Hollywood Western gedreht haben will.
Anfänge in Hollywood
Die wirklich beweisbaren Fakten legen nahe, dass Ulmer vor
1924 in Deutschland so gut wie nicht im Theater und Film gearbeitet hat,
jedenfalls nicht in verantwortlichen künstlerischen Positionen,
dafür gibt es bislang keinen wirklichen Anhaltspunkt. Seine Karriere
beginnt erst in Hollywood und auch seine Beziehungen zu deutschen
Filmkünstlern wie Murnau, Gliese und auch Eugen Schüfftan sind
anscheinend dort zustande gekommen. Nach Aussage von Carl Laemmle jr. (dessen
Zitat S.39 Grissemann leider nicht nachweist) hat Ulmer sich bei Universal
hochgedient, was viel wahrscheinlicher ist als Ulmers eigene Version, der
gleich als "Assistant Chief Art Director" angefangen haben will,
was Grissemann unverständlicherweise glaubt, obwohl er selbst Ulmers
Karriere vom 2. zum 1. Assistenten bei Universal nachzeichnet.
Bei Murnaus Sunrise arbeitete Ulmer dann
tatsächlich als Assistent von Rochus Gliese am Bühnenbild mit und
es ist ja auch nachvollziehbar, dass der ehrgeizige junge Mann die Chance
nutzt, sich für diese Filmproduktion bei der Fox anheuern zu lassen,
für die es wiederum von Vorteil ist, einen Assistenten zu engagieren,
der Deutsch und Englisch spricht. Aber wie nachlässig Grissemann
recherchiert, zeigt seine Bemerkung, dass Murnau auch "Drehbuchautor
Carl Mayer [...] mit nach Amerika genommen" habe, der jedoch bekanntlich
eben nicht mit nach Hollywood gekommen war und es spricht auch nichts
dafür, dass Murnau "für seinen ersten amerikanischen Film
wieder Ulmer als Assistenten heranzieht" (S. 42, Hervorhebung von
mir, H.G.A.) und Ulmer "[s]echs Jahre lang Murnaus Arbeit
begleitet" (S. 44) hat, denn bis dahin hatte Ulmer an keinem Film Murnaus
mitgearbeitet. Auch Grissemann kann weder für diese Behauptungen Beweise
vorlegen, noch für Bildunterschriften wie "Ulmers und Glieses
modernistischer Architektur in Sunrise" (S. 43), mit denen er Ulmer ohne
jede Begründung eine Mitautorschaft an der Erfindung zuschreibt.
Auch die Schilderung der Entstehung von Menschen am
Sonntag (S. 47 ff.) – Grissemann nennt Ulmer als Regisseur in der
Filmografie an erster Stelle vor Robert Siodmak (S. 371) – folgt Ulmers
völlig unglaubwürdigen Erzählungen, wobei Grissemann die
Quellen gar nicht gegeneinander abwägt: auf S. 48 entsteht die Idee zu
dem Film im Kaffeehaus, beteiligt sind Ulmer, Moriz Seeler, Robert Siodmak
und Billie Wilder, S. 49 ist der Film für Rochus Gliese "geschrieben
worden", S. 50 ist der Ausgangspunkt "eine Reportage von Curt
Siodmak" gewesen und S. 53 hat von Sternbergs Film The Salvation
Hunters Ulmer ganz allein auf die Idee zu Menschen am Sonntag
gebracht. Dass Ulmer die Dreharbeiten bereits nach wenigen Tagen verlassen
hat, wie mehrere Quellen belegen, erwähnt Grissemann gar nicht und
laviert sich geschickt über die Frage hinweg, wann genau Ulmer 1929
wieder in die USA zurückgekehrt ist.
Dieser unkritische Umgang mit den Quellen – auch in
späteren Abschnitten stößt man immer wieder auf
ungeprüfte Aussagen aus Ulmers Legendenfabrikation - bleibt
problematisch und schränkt den wissenschaftlichen Nutzen des Buchs
erheblich ein. Der Filmkritiker Grissemann ist ein Ulmer-Aficionado, der von
der zweifellos facettenreichen Persönlichkeit Ulmers so fasziniert ist,
dass er keine kritische Distanz zu ihm und seinen Werk hat.
Ulmers Filmschaffen von 1926 bis 1965
Auch in den ausführlichen Filmanalysen Grissemanns, die
ein Schwerpunkt des Buches und eine Stärke des Autors sind, macht sich
diese fehlende Distanz störend bemerkbar, etwa wenn Grissemann Ulmers
Filmen dadurch größere Bedeutung zu verleihen sucht, dass er auf
Parallelen oder Ähnlichkeiten mit Regisseuren des Film-Olymp hinweist
wobei er gar nicht kleinlich ist. Zu dem bescheidenen jiddischen Film
Grine Felder (1937) fallen ihm Griffith, Ozu und Renoir ein (S. 108 f.),
bei Detour Buñuel und Club Havana ernennt er zur "Quintessenz
[...] des amerikanischen B-Picture an sich."
Trotz solch unkritischer, wenngleich nicht unsympathischer
Begeisterung ist positiv hervorzuheben, dass Grissemann sich nicht auf die
wenigen bekannten Filme Ulmers beschränkt wie The Black Cat
(1934), Detour (1945) oder The Naked Dawn(1954), die zum festen
"B-Pictures"-Kanon gehören, sondern dass er Ulmers weit
verstreutes und auch breit gefächertes Gesamtwerk untersucht. So stellt
er im 3. Kapitel ausführlich Ulmers jiddische Filme dar, die in den
dreißiger Jahren abseits von Hollywood in New York bzw. New Jersey
entstanden sind. Er schreibt über Ulmers semidokumentarische
TBC-Aufklärungsfilme, die er im Auftrag der amerikanischen Regierung ab
1938 gedreht hat, und er stellt auch ausführlich Ulmers spätes
Filmschaffen in USA und Europa nach seiner Trennung vom PRC- Studio dar, dem
das ausführlichste Kapitel gewidmet ist.
King der B-Pictures
In den nur vier Jahren 1942–1946, in denen Ulmer
für das Poverty Row-Studio PRC gearbeitet hat, hat er elf Filme gedreht,
darunter Bluebeard, Club Havana, Strange Illusion,
Detour, die seinen Nachruhm ausmachen und die Grissemann
ausführlich darstellt, wobei er auch über die B-Picture-Produktion
und das PRC-Studio eingehend informiert. Leider stützt er sich bei der
Darstellung der Filmproduktion auch hier immer wieder auf die doch nur mit
allergrößter Vorsicht zu benutzenden Interviews Ulmers, dessen
Behauptungen über Budgets und Drehzeiten er unverständlicherweise
mehr Glauben schenkt als den erhaltenen Akten, die teilweise erheblich
längere Drehzeiten ausweisen als die von Ulmer stets behaupteten
legendären sechs Tage (S. 198): Danach waren für Bluebeard
vierzehn Drehtage vorgesehen, die Ulmer noch um weitere 5 Drehtage
überzogen hat. Grissemann glaubt aber weiter an Ulmers Versionen und
hält auch bei Detour entgegen den im Budget vermerkten 14
Drehtagen stur an Ulmers Sechs-Tage-Version fest (S. 219).
Auch die Rolle des Kameramanns Eugen Schüfftan bei
Ulmers Filmen ist so, wie Ulmer sie zurecht fabuliert hat, nicht haltbar.
Obwohl Grissemann weiß, dass Schüfftan in Amerika nicht in die
Gewerkschaft aufgenommen wurde, deshalb nicht als Kameramann arbeiten sondern
nur in anderen Funktionen beschäftigt werden durfte, bezeichnet er ihn
im Text und in der Filmografie als "director of photography" und
geht davon aus, dass die in den credits der Filme genannten Kameramänner
lediglich Strohmänner (S. 212) gewesen seien, was schon wegen der
Kontrolle, die die Gewerkschaft damals bei den Studios ausübte,
völlig unwahrscheinlich ist und überdies durch Schüfftans
eigene Aussagen über seine Tätigkeit z. B. in den Akten der Agentur
Kohner widerlegt wird.
Diese hat Grissemann jedoch nicht herangezogen. Dabei zeigt
die Passage über den 1946 in New York gedrehten Musikfilm Carnegie
Hall, wie problematisch auch die Erinnerungen von Ulmers Tochter Arianné
Ulmer Cipes sind. Sie behauptet, dass Schüfftan mit Carnegie Hall
"nichts zu tun" gehabt habe (S. 193), das fällt Grissemann aber gar nicht
auf, der eine Seite vorher Ulmer zitiert, der Schüfftans Mitwirkung an
diesem Film ausdrücklich erwähnt, mit Recht, denn Schüfftan
hat hier einen credit für "production technique" bekommen und
mit Hilfe von Zeichnungen die Einstellungen und den Stil des Films
entscheidend prägen können.
Abstieg
Die Akten der Agentur Kohner, deren Klient auch Ulmer seit
1948 war, hätten auch noch weiteren Aufschluss über Ulmers
zahlreiche Pläne und ihr Scheitern in den 50er und 60er Jahren gegeben,
die Grissemann schildert, wobei er noch auf einige der späteren
Produktionen wie I Pirati di Capri (1948), The Naked Dawn
(1954) und The Naked Venus (1958) näher eingeht. Die Kapitel
über Ulmers Abstieg in den letzten Jahren sind traurig zu lesen. Trotz
mehrerer Schlaganfälle versucht er immer wieder, in der Filmindustrie zu
arbeiten, schreibt an Drehbüchern und stellt Budgetkalkulationen auf, um
Geld zu verdienen. Diese wirklich erbärmlichen Lebensumstände muss
man wohl berücksichtigen, wenn man Ulmers Interviews aus diesen Jahren
liest, in denen sich der weitgehend vergessene und wenig anerkannte Regisseur
gänzlich neu erfand, Wien als seinen Geburtsort nannte, sich mit
illustren Künstlern umgab und sich zum Genie nicht nur der Filmkunst
stilisierte. So verständlich das ist, der Biograph hätte erheblich
entschiedener Legende und Wirklichkeit trennen müssen.
Das Buch wird ergänzt mit einer Filmografie, deren
Angaben – siehe oben – manchmal etwas zweifelhaft erscheinen.
Leider gibt Grissemann auch nicht an, welche Filmkopien er in den
amerikanischen Filmarchiven gesichtet hat und welche Filme Ulmers auf DVD
vorliegen. In die "Ausgewählte Bibliographie" sind nicht alle
benutzten Werke aufgenommen, einige muss man in den – leserunfreundlich
an den Schluss gesetzten – Anmerkungen etwas mühsam nachschlagen.
Auch hier sind Daten z.T. unvollständig, bei Hoberman, Bridge of
Light vergißt Grissemann, Jahr und Ort (New York 1991) anzugeben,
bei zwei unveröffentlichten Ulmer-Skripten teilt er nicht mit, wo sich
diese befinden und auch diese Versäumnisse sind einem wissenschaftlichen
Gebrauch abträglich.
Die breitere Leserschaft, die anscheinend mit diesem immerhin
solide gebundenen Buch angesprochen werden soll, wird wohl einen
ausführlichen Bildteil vermissen, denn entgegen heutigen Standards ist
das Buch äußerst spärlich mit nur ca. 40 Abbildungen auf den
400 Seiten illustriert, die z.T. noch ziemlich schlecht reproduziert sind.
Bei einem Regisseur wie Ulmer, dessen visuelle Erfindungen Grissemann zu
Recht nicht müde wird zu preisen, ist diese knauserige Bebilderung
– bei einem gar nicht knausrigen Preis – denn doch ein
schwerwiegender Mangel. Vor allem die ausführlichen Filmbeschreibungen
Grissemanns hätten durch eine großzügigere Bebilderung
ergänzt werden müssen.
Dr. Helmut G. Asper
Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft
Universität Bielefeld
D-33501 Bielefeld
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Ins Netz gestellt am 13.05.2003

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