Bachleitner über Kuzmics / Mozetic: Literatur als Soziologie

IASLonline


Norbert Bachleitner

"Literatur als Soziologie"
– Rückenwind für die Literatursoziologie?

  • Helmut Kuzmics, Gerald Mozetic: Literatur als Soziologie. Zum Verhältnis von literarischer und gesellschaftlicher Wirklichkeit. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft mbH 2003. 356 S. EUR (D) 34.--
    ISBN 3-89669781-1.


Die "Frage, in welchem Verhältnis das literarische Konstrukt zur sozialen Realität steht, [ist] mitnichten anachronistisch geworden." (S. 3) - "[...] >alte< Texte verdienen, neu, und zwar mit soziologischer Brille, gelesen zu werden." (S. 6) "Die Differenz zwischen dem Fiktiven und dem Faktischen postmodernistisch-konstruktivistisch oder sonstwie völlig zu verwischen, halten wir für einen Irrweg [...]." (S. 7f.) Solche Sätze, sie sind der Einleitung des Buches von Kuzmics und Mozetic entnommen, lassen aufhorchen. Nachdem Literatursoziologie und Sozialgeschichte der Literatur, dem Ansturm diverser alternativer >Paradigmata< ausgesetzt, unter Rechtfertigungsdruck geraten und verschiedentlich schon als obsolet abgetan worden sind, gehen zwei Grazer Soziologen dem sozialen Gehalt und Erkenntniswert literarischer Texte auf den Grund. Sie wenden sich wohl in erster Linie an Vertreter ihrer eigenen Zunft, die von der Literatur nichts wissen wollen, aber ihre Ergebnisse sind ebenso von Bedeutung für eine Literaturwissenschaft, die von der Soziologie nichts (mehr) wissen will.

Grundsätzliches zum Verhältnis
von Soziologie und Literatur

Die ersten vier Kapitel behandeln das Verhältnis von Soziologie und Literatur in historischer und systematischer Hinsicht. In ihren Anfängen im 19. Jahrhundert befand sich die Soziologie in direktem Konkurrenzverhältnis zur Literatur, insbesondere zum realistischen Roman eines Balzac oder Zola, der den Vergleich mit der akademischen Soziologie nicht zu scheuen brauchte. Nach ihrer Verwissenschaftlichung distanzierte sich die Soziologie von der Literatur, bedient sich ihrer aber gelegentlich noch immer als Beleg. Grundsätzlich besteht die Möglichkeit der Verwendung von literarischen Texten als Illustration einer soziologischen Erkenntnis, als Quelle, die in Ermangelung anderer Quellen benützt wird, und schließlich als eigenständige Interpretation des Sozialen.

Auf dem Gebiet der Literatursoziologie unterscheiden die beiden Autoren empiristische (vulgo: positivistische) von gesellschaftstheoretisch fundierten Untersuchungen. Als Beispiel für erstere referieren sie unter anderem eine Studie von Dorothy Yost Deegan, die 1981 die Darstellung der alleinstehenden Frau in 125 amerikanischen Romanen, in denen sie zumeist als tragikomische Figur erscheint, mit Ergebnissen der empirischen Sozialforschung verglich, um zu zeigen, daß die Literatur von Stereotypen geprägt sei und der sozialen Realität ihrer Zeit hinterher hinke. Unter den gesellschaftstheoretisch inspirierten Studien finden sich die bekannten Analysen des realistischen Romans von Lukács und Hauser, die diesem die Fähigkeit zuerkannten, das >Wesen< gesellschaftlicher Erscheinungen zu erfassen, aber spezifisch ästhetische Fragen vernachlässigten, und Bourdieus Theorie des literarischen Feldes, die den Gegensatz zwischen externer und Werkanalyse überbrückt.

Die folgenden Abschnitte widmen sich den einzelnen soziologischen Methoden und Schulen und ihrem Umgang mit Literatur. Die empiristische Soziologie brachte eine ganze Reihe von Argumenten gegen die Verwendung von Literatur als Quelle vor (z. B. Verzerrung der sozialen Realität durch individuelle Perspektive oder Wirkungsabsicht), und tatsächlich eignet sich Literatur nicht für quantitative Befunde. Andererseits besitzen Romanciers oft erstaunlich gute soziologische Kenntnisse, wie Alison Luries Roman Imaginary Friends beweist, der die bei Feldforschungen und Versuchen teilnehmender Beobachtung auftretenden Probleme detailliert und sachkundig expliziert. Von der "textualistischen Herausforderung" (S. 92) wurde die Soziologie nur gestreift. Zwar haben der Strukturalismus eines Lévi-Strauss, Nietzsches und Wittgensteins Erkenntniskritik oder die in der Anthropologie geführte Writing Culture-Debatte auch in der Soziologie Bewußtsein für die rhetorische Verfaßtheit aller Texte und die damit verbundenen Probleme geschaffen, aber: "In der Soziologie wird nichts so heiß gegessen, wie es in der Philosophie gekocht wird." (S. 98)

Als stärker theoretisch ausgerichteten Ansatz präsentieren Kuzmics und Mozetic die systemtheoretische Literaturanalyse à la Schwanitz, um dann eigene Vorschläge zur soziologischen Literaturinterpretation einzubringen. Die Soziologie solle Literatur dort heranziehen, wo Daten aus anderen Quellen fehlen, und insbesondere idealtypische Modellierungen in literarischen Texten beachten, da diese eine differenziertere Analyse sozialer Konstellationen ermöglichen. Als erste Beispiele für diesen Zugang dienen die Figur des "Herrn Karl" von Merz und Qualtinger, die den Opportunismus gegenüber den wechselnden politischen Konstellationen im Österreich des 20. Jahrhunderts verkörpert, sowie der Bezirkshauptmann von Trotta in Roths Radetzkymarsch, dessen bürokratische Ordnungsbesessenheit und Affektkontrolle Aufschluß über den psycho-sozialen Habitus eines k. u. k. Beamten geben.

Den Tenor dieser Abschnitte des Buches bilden wiederholte Hinweise auf die von der Soziologie viel zu wenig gewürdigten analytischen Kapazitäten der Literatur. Der Wert der Literatur liege weniger in der >realistischen< Abbildung von Milieus, Klassen oder äußeren Details, sondern im Zugang zu den mit quantitativen Methoden oder abstrakten Theorien nicht erfaßbaren Innenwelten der sozialen Protagonisten, ihren Gefühlen und ihrer Mentalität. Literatur sei nicht für die gesamte Soziologie gleichermaßen relevant, sondern vor allem für eine verstehende, an der Verschränkung von psycho- und soziogenetischen Erklärungen im Sinne von Norbert Elias interessierte Soziologie.

Fontane und Trollope,
Preußisches Junkertum vs. angelsächsische Individualisierung

Verglichen wird in diesem ersten, ausführlich diskutierten Beispiel, der Grad an Individualisierung und Ich-Steuerung, den die beiden weiblichen Hauptfiguren in Fontanes Effi Briest und Trollopes Can You Forgive Her? erreichen. Effis Verhalten im öffentlichen Raum ist stark restringiert, sie steht unter dem Druck der Gruppenmeinung der besseren Gesellschaft, die auf den Mechanismen von Ehre und Schande beharrt. Trotz des Drucks dieses Über-Ich sind Effis Gefühle aber ambivalent, weder bringt sie die geforderte Affektkontrolle auf noch handelt sie spontan.

Trollopes Alice Vavasor wendet sich dagegen entschlossen gegen ihren Familienverband und dessen Normen, wenn sie ihren Partner selbst wählt und auch die Verantwortung für die (negativen) Folgen trägt. Sie vertritt einen affektiven Individualismus, der nicht ohne den Hintergrund der im Vergleich zu Preußen gänzlich anderen Entwicklung der englischen Gesellschaft erklärt werden kann. In Preußen, das seinen Aufstieg der Kriegerkaste verdankte, behielt deren Ehrenkodex bis ins 19. Jahrhundert – wenn auch in verbürgerlichter Form – Gültigkeit, wie sich z. B. anhand des Duells ablesen läßt; in England entwickelte sich ein neues Gentleman-Ideal heraus, das auf Gewaltverzicht, Selbstbeherrschung und Beständigkeit beruht. Objekte des Vergleichs sind also nicht äußere Details oder Geschehnisse, sondern die nationalgesellschaftlich typisierten psychischen Strukturen der Akteure.

Heinrich Manns Der Untertan
und der autoritäre Charakter

Nach Fontane betrifft auch das zweite Beispiel einen >Klassiker< der soziologischen Analyse von Literatur. Unter anderem spielte der Untertan eine wichtige Rolle in den Auseinandersetzungen der Historiker über die Frage, ob das Kaiserreich als protofaschistische (Wehler) oder als pluralistisch-demokratische Gesellschaft (Nipperdey) einzuschätzen sei. Mann führt mit seinem Helden Diederich Heßling den autoritären Sozialcharakter, der die Bewunderung von Autoritäten (Kaiser, Adelige, Funktionsträger) mit der Verachtung unter ihm Stehender verbindet, in allen wünschenswerten Details vor. Erkennbar wird die in Kindheit und Jugend (Familie, Schule) sowie durch Institutionen wie die Studentenverbindungen gelegte Basis autoritären Verhaltens. So findet man in dem Roman "eine Fülle von Hinweisen, in denen klar wird, in welchem Ausmaß soziales Handeln von gewissen Gefühlen, diese wieder von bestimmten, für das damalige Preußen-Deutschland typischen Strukturen geprägt wurde [...]." (S. 162)

Die hergestellten Beziehungen des autoritären Charakters zu seinem sozialen Umfeld heben den Roman auch von den einschlägigen sozialpsychologischen Untersuchungen der Frankfurter Schule ab. Manns Roman kommt nicht nur zeitlich Priorität zu, die von Adorno in The Authoritarian Character verwendeten Testfragen (Items) wirken nicht dazu geeignet, Rückschlüsse auf autoritäre oder gar faschistische Gesinnung zu gestatten (z. B. "Die Wissenschaften haben ihre Berechtigung, aber es gibt viele bedeutsame Dinge, die der menschliche Geist wahrscheinlich niemals verstehen kann", zit. S. 176). Vor allem aber werden von Adorno isolierte Individuen ohne Rücksicht auf das Milieu und die Institutionen, die sie herausgebildet haben, getestet.

Nestroy, Herzmanovsky-Orlando, Doderer

Im Vergleich zu den bisher genannten Beispielen sind die Analysen zu den drei österreichischen Autoren innovativ, weil sie auf den ersten Blick als unrealistisch erkennbare Texte (Nestroy: Judith und Holofernes, Herzmanovsky-Orlando: Der Gaulschreck im Rosennetz, Doderer: Die erleuchteten Fenster) betreffen. Wie soll sich die Soziologie gegenüber satirischen und parodistischen Texten verhalten? Sie muß zunächst den Umstand, daß durch Satire humoristische Kritik an der Gesellschaft geübt wird, als Indiz für deren Zustand werten. Kuzmics und Mozetic versuchen auf diesem Weg ein Spezifikum der österreichischen Mentalität herauszuarbeiten, das sich mit Formeln wie "Kultur der komischen Ambivalenz" (zit. S. 194, nach L. Bodi), "zum Habitus gewordene[r] Unernst auch noch in Existenzfragen" (S. 206) oder "Autoritätsbewältigung via Humor" (S. 217) kennzeichnen läßt.

Historisch-soziologische Gründe für den von Ironie und Selbstironie geprägten austriakischen Habitus wären etwa die Fragilität der Habsburger-Monarchie, deren Bestand seit dem 18. Jahrhundert in regelmäßigen Abständen bedroht wurde, oder eine Form der Herrschaftsausübung, die den Absolutismus mit einer gewissen Dosis Gutmütigkeit und Schlampigkeit versetzte. Historische Untersuchungen wären gut beraten, solche Differenzierungen zu berücksichtigen und nicht einfach von einer Reihe "autoritär" regierter Reiche (Rußland, Österreich-Ungarn, Preußen / Deutschland, Japan) zu sprechen.

Satire und Parodie neigen ferner dazu, mit Idealtypisierungen zu operieren, deren Bedeutung für die Soziologie bereits dargelegt wurde. Selbst einzelne Metaphern, die durch einen Vergleich Unerwartetes zu Tage fördern, können einen Schritt zur Erfassung der sozialen Wirklichkeit bedeuten. Verfremdung, als Typisierung und theoretische Modellierung gedeutet – die diesbezüglichen Passagen und der folgende Abschnitt "Wissenssoziologische Überlegungen zum Erkenntniswert österreichischer Ironie und Selbstironie" (S. 208–217) erschließen Neuland für die soziologische Literaturanalyse.

Musil und die Moderne

Im allgemeinen wird Ulrich, der "Mann ohne Eigenschaften", als Verkörperung des modernen Menschen angesehen. Eine genaue Betrachtung zeigt aber, daß er sich in einer noch nicht gänzlich modernisierten Welt bewegt und in mancher Hinsicht von der Moderne distanziert. Seine Neigung zu Reflexion und seine Offenheit sind beispielsweise modern, aber seine Hoffnung auf >Rettung< des Ich ist es nicht. Vielleicht macht allerdings gerade das "Konglomerat aus weiterwirkenden Restbeständen einer vergehenden Welt, zeitgemäßen Fähigkeiten und utopisch in die Zukunft weisenden Ideen und Entwürfen" (S. 244) die Modernität Ulrichs aus. Besonderes Augenmerk widmen Kuzmics und Mozetic der Rolle des Sports im Mann ohne Eigenschaften, dem Körperkult, der die Entkörperlichung der Gesellschaft in der Moderne begleitet. Musil kritisiert die Ideologie, nach der Sport den Charakter festige und moralische Werte bilde, er interessiert sich mehr für die ohne Beteiligung des Bewußtseins vollzogenen Bewegungsabläufe und Koordinationsleistungen und betrachtet den Sport als Ersatz für mystische Erlebnisse.

Landleben bei Rosegger und Innerhofer

Dem idyllischen Bild einer pariarchalischen Welt, das Rosegger in seinen Romanen entwirft, setzt Innerhofer eindringliche Schilderungen von unmenschlichen Anstrengungen und der Ausübung von Gewalt durch die Spitzen der bäuerlichen Funktionshierarchie entgegen. Wie kann diese Differenz erklärt werden? Kuzmics und Mozetic diskutieren die Möglichkeit einer Verzerrung der Realität auf beiden Seiten: naheliegend ist sie bei Rosegger, der einem romantisch-restaurativen Gesellschaftsideal anhing, aber auch bei Innerhofer, der emanzipatorische Diskurse (Marx, Freud) in den Roman einfließen läßt und den Gepflogenheiten der vormodernen bäuerlichen Welt Werte wie Freiheit, Gleichheit und Wohlfahrt entgegenhält. Innerhofer rechnet mit der Vergangenheit ab, nachdem er sich aus der bäuerlichen Welt >befreit< hat. Andererseits sprechen nichtfiktionale Erinnerungen von Knechten und Mägden für einen hohen Realitätsgehalt von Innerhofers Schilderungen. Läßt sich die Frage nach der >Korrektheit< der Darstellung nicht eindeutig beantworten, so erweist sich die Literatur der Wissenschaft auch in diesem Fall eindeutig überlegen in puncto Einsichten in die Innenwelt der Protagonisten. Aus soziologischer Sicht besonders instruktiv sind wiederum die Affektstrukturen, die vom sozialen Feld abhängen und sich mit Elias' Zivilisationstheorie interpretieren lassen.

Resümee

Kuzmics und Mozetic liefern überzeugende Beispiele für die Erkenntnismöglichkeiten, die die Literatur der Soziologie und Geschichtsschreibung bietet. Literatur darf nicht als realistisches Abbild angesehen werden, daher sind im Einzelfall wissenssoziologische Fragen zu stellen, Verzerrungen und Genrekonventionen ins Kalkül zu ziehen. Unbeschadet dessen halten literarische Texte wichtige und in dieser Form aus anderen Quellen nicht verfügbare Informationen über das psychische Erleben der sozialen Akteure bereit. Daher wird vor allem eine Soziologie, die ihre Hauptaufgabe nicht in der Kompilation nüchterner Daten sieht, sondern sich als Menschenwissenschaft im Sinne von N. Elias versteht, auf literarische Quellen zurückgreifen. Bemerkenswert ist, daß Literatur auch zur Theoriebildung in den Sozialwissenschaften beitragen kann, auffällig ferner, daß die Beispielanalysen meist komparativ angelegt sind, sei es, daß mehrere literarische Texte oder literarische mit Sachtexten verglichen werden.

Wenn die Soziologie der Literatur das Zeugnis einer hochrangigen Quelle für soziologische Erkenntnisse ausstellt, so kann es sich die Literaturwissenschaft nicht leisten, diesen sozialen Gehalt links liegen zu lassen. Selbstverständlich wird ihr Zugang ein anderer sein. Mit Bourdieu wird etwa nach der soziologischen Verortung von Stilen und Formen zu fragen sein; über den angedeuteten Weg der soziologischen Interpretation des Sprachgebrauchs und der Metaphorik muß der soziologische Blick auch auf dezidiert >unrealistische< Formen gerichtet werden. Literatur als Soziologie enthält eine Fülle von Anregungen für literatursoziologische Untersuchungen, es bleibt zu hoffen, daß sie Resonanz finden.


Prof. Dr. Norbert Bachleitner
Institut für Vergleichende Literaturwissenschaft
Universität Wien
Berggasse 11/5
A–1090 Wien
Homepage

E-Mail mit vordefiniertem Nachrichtentext senden:

Ins Netz gestellt am 25.09.2003
IASLonline

IASLonline ISSN 1612-0442
Copyright © by the author. All rights reserved.
This work may be copied for non-profit educational use if proper credit is given to the author and IASLonline.
For other permission, please contact IASLonline.

Diese Rezension wurde betreut von IASLonline. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Nina Ort.


Weitere Rezensionen stehen auf der Liste neuer Rezensionen und geordnet nach

zur Verfügung.

Möchten Sie zu dieser Rezension Stellung nehmen? Oder selbst für IASLonline rezensieren? Bitte informieren Sie sich hier!


[ Home | Anfang | zurück | Partner ]