Bachleitner über Kauffmann / Schütz: Zum Stand der Feuilletonforschung

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Norbert Bachleitner

Zum Stand der Feuilletonforschung

  • Kai Kauffmann und Erhard Schütz (Hg.): Die lange Geschichte der Kleinen Form. Beiträge zur Feuilletonforschung. Berlin: Weidler Buchverlag 2000. 252 S. Kart. € 28,-.
    ISBN 3-89693-140-7.


Der Band setzt sich zum Ziel, "über Probleme und Perspektiven der Feuilletonforschung nachzudenken" (S.7), ihren Zustand zu bilanzieren, Lücken zu markieren und weiterführende Konzepte zu entwickeln. Die Bilanz ist zweifellos gelungen, ist doch die Mehrzahl der namhaften deutschen und österreichischen Feuilletonforscher vertreten. Die versammelten Fallstudien werden den in den einleitenden Beiträgen entwickelten programmatischen Perspektiven aber nur selten gerecht und tragen auch nur wenig dazu bei, die markierten Lücken zu füllen. Die Theorie der Feuilletonforschung läuft ihrer Praxis also weit voraus.

Die Beiträge können in drei Gruppen unterteilt werden:

  1. Bestimmung und Beschreibung / Interpretation von einzelnen im Feuilleton häufig anzutreffenden Textsorten

  2. eher auf historische Entwicklungen ausgerichtete Beiträge

  3. Grundlegendes zu Verfahren der Dokumentation und Erforschung des Feuilletons

Beiträge zu einzelnen Textsorten

Zur ersten Gruppe zählen:

  • Ralf Georg Bogner: Der Zeitungs-Nachruf oder das Fortleben von Leichenpredigt und Epicedium im Feuilleton.

  • Peter Utz: "Sichgehenlassen" unter dem Strich. Beobachtungen am Freigehege des Feuilletons.

  • Hermann Haarmann: Theaterkritik.

  • Christian Jäger: Wachträume unter dem Strich. Zum Verhältnis von Feuilleton und Denkbild.

  • Georg Stanitzek: Philologie und Gegenwartsessay. Überlegungen aus disziplinärer Sicht.

Bogner zeigt, daß sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit dem Nachruf eine altvertraute literarische Form als eigenes Subgenre im Feuilleton etabliert. Überwiegen hier infolge der Benützung alter rhetorischer Muster die Kontinuitäten, so daß man kaum von einer für das Feuilleton >typischen< Schreibweise sprechen kann, so finden sich daneben als neue Form persönlich gefärbte Erinnerungsartikel, die sich eher mit den herkömmlichen Vorstellungen von feuilletonistischem Stil vereinbaren lassen. Utz umkreist den Freiraum und die Grenzen der feuilletonistischen Schreibweise und ihre Bedeutung für die Herausbildung des modernen Autors, wobei er Robert Walser als hauptsächliches Demonstrationsobjekt wählt. Haarmann legt den Schwerpunkt auf den Nachweis der Diversität der professionellen Herkunft der Theaterkritiker.

Jäger weist mit dem Übergang zum Denkbild bei Bloch, Benjamin, Kisch, Polgar und anderen auf eine um 1925 stattfindende Entwicklung im Feuilleton hin. Während der Film nun die Aufgabe der Bebilderung konventioneller Wunschpotentiale übernimmt, verbinden diese führenden Feuilletonautoren mit ihren Texten einen Aufruf, neu zu denken, die "Umschreibung eines Ungedachten" (S.238), und damit auch einen revolutionären Impetus. Sie konstituieren eine Avantgarde der >Kleinen Form<, die das Feuilleton als eigentlich zeitgemäße Literaturform emanzipiert.

Das Verhältnis von per Definition provisorischem und dubiosem Essay und definitiver, wissenschaftlich abgesicherter Literaturgeschichte behandelt Stanitzek am Beispiel von Versuchen, die Geschichte der Gegenwartsliteratur zu schreiben. Dem Essay wird eingeschränkter Horizont und Befangenheit aufgrund kritischer Teilnahme nachgesagt, während die Literaturgeschichte souverän beobachten soll. Gegen eine solche glatte Trennung spricht nicht nur Benjamins Beobachtung, daß die Gegenwart immer konstruiert wird, sondern vor allem der Umstand, daß die Literaturgeschichtsschreibung auf den Essay angewiesen ist, weil dieser den Gegenstand Gegenwartsliteratur durch Vorselektion konstituiert, die Kanonisierung also auf einem Netz von Essays gründet.

Zur Geschichte des Feuilletons

Der zweiten Gruppe gehören an:

  • Hubert Lengauer: Das Wiener Feuilleton nach 1848.

  • Bodo Rollka: Feuilleton, Unterhaltung und Werbung.

  • Gregor Streim: Feuilleton an der Jahrhundertwende.

  • Peter Sprengel: Das psychoanalytische Feuilleton. Anmerkungen zu Berlin-Texten 1907—1933.

  • Erhard Schütz: "Ich zeichne das Gesicht der Zeit". Skizzen zu Feuilleton und Feuilletonforschung aus der und zu der Zeit von 1918 bis 1945.

  • Hermann Schlösser: Unter Niveau. Beobachtungen zum Feuilletonismus neuesten Datums.

Lengauers Beitrag ist am ehesten im herkömmlichen Sinn sozialgeschichtlich orientiert, wenn er bei den Wiener Parade-Feuilletonisten der postrevolutionären Ära (Spitzer, Kürnberger, Speidel und Schlögl) eine gemeinsame Befindlichkeit konstatiert. Der Revolution von 1848 verbunden, versuchen sie die liberale Fahne hochzuhalten. Sie pendeln dabei aber zwischen Größenwahn und Resignation, spielen die "Narren der modernen Kultur" (Nietzsche) und setzen mit ihrer ästhetischen Opposition Traditionen des Wiener Volkstheaters fort. Eine unauflösbare Symbiose von Literatur, Werbung und Unterhaltung stellt Rollka in seinem gerafften Überblick über das Berliner Feuilleton des 19. Jahrhunderts fest. Unterhaltung bildet dabei den Überbegriff, sie dient der Bindung der Leser an das Blatt. Feuilleton und Werbung folgen den Grundprinzipien Redundanz und Varietät, weshalb Rollka in einem aktuellen Ausblick Werbung als Unterhaltungsform der Gegenwart betrachten kann.

Das Verhältnis von Feuilleton und (literarischer) Moderne um die Jahrhundertwende untersucht Streim am Beispiel des Berliner Tageblatts, das den modernen, liberalen Zeitungstyp vertritt. Er beobachtet einen Rückgang des gelehrten Artikels und des lokalen Berichts zugunsten kultureller Stimmungsbilder aus europäischen Metropolen; die modernen Prosaskizzen mit ihrer neuen Wahrnehmung der Wirklichkeit fehlen aber im Zeitungsfeuilleton, sie finden ihren Ort in den neu gegründeten Kulturzeitschriften. Es wird in der Zeitung zwar über moderne Literatur berichtet, das Verhältnis zu ihr ist aber eher ablehnend, was sich mit der Zurückweisung des liberal-kapitalistischen Pressebetriebs durch die Vertreter der literarischen Moderne zusammenfügt.

Sprengel konstatiert in Berlin-Beschreibungen der ersten Jahrzehnte des zwanzigsten Jahrhunderts Spuren psychoanalytischen Denkens, z. B. hinsichtlich einer gewissen Sexualsymbolik, in bezug auf die Rolle von Gerüchen, die eine Rückkehr aus der Zivilisation in frühkindliche Sinnlichkeit heraufbeschwören, oder durch Momente des Unheimlichen.

Schütz geht der vielzitierten und vielgescholtenen Demokratisierung des Feuilletons nach der Jahrhundertwende nach. Entgegen der landläufigen Ansicht von einer völlig gleichgeschalteten Presse verspricht er sich ferner von einer eingehenden Untersuchung des Feuilletons im >Dritten Reich< so manche Überraschung. Schlösser schließlich weist auf einen Trend in der aktuellen Kulturberichterstattung hin, nämlich auf den Hang zur Demontage prätentiöser Redeweisen und eine generelle Skepsis gegenüber der Hochkultur. Ein allgemeines Merkmal dieser Kulturberichte ist der sprachliche Überschuß, die saloppe Schreibweise, die sich U-Journalismus und Infotainment annähert. Absichtserklärungen von Journalisten wie "Kultur ohne Hornbrille" und das Bekenntnis zu einer "neuen Lesbarkeit" liefern die Programmatik dieses Trends.

Grundlegendes zur Erforschung des Feuilletons

Das Ensemble der bisher resümierten Beiträge ergibt das Bild eines Sammelsuriums von Themen und Zugängen. Der alte Befund, daß das Feuilleton ein nicht festlegbares und proteusartiges Genre ist, wird dadurch bestätigt. Beunruhigender ist, daß die Forschung ebenso aufgesplittert scheint wie der Gegenstand. Um so größer ist die Hoffnung auf die angekündigten weiterführenden Konzepte bei der Lektüre der Beiträge aus der letzten Gruppe.

Es handelt sich um:

  • Kai Kauffmann: Zur derzeitigen Situation der Feuilleton-Forschung.

  • Almut Todorow: Das Feuilleton im medialen Wandel der Tageszeitung im 20. Jahrhundert. Konzeptionelle und methodische Überlegungen zu einer kulturwissenschaftlichen Feuilletonforschung.

  • Bernd Sösemann: Politik im Feuilleton — Feuilleton in der Politik. Überlegungen zur kommunikationshistorischen Bedeutung literarischer Texte und zu ihrer medienwissenschaftlichen Interpretation.

  • Gabriele Melischek / Josef Seethaler: Die Berliner und Wiener Tagespresse von der Jahrhundertwende bis 1933. Medienökonomische und politische Aspekte.

Häufig wird von den Beiträgern zustimmend das von Georg Jäger in dem Band Bibliographische Probleme im Zeichen eines erweiterten Literaturbegriffs (Weinheim 1988) für die Erforschung des Feuilletons entworfene Programm zitiert. Zurecht stellt Kauffmann aber fest, daß die "Grundlagen für eine systematische Feuilleton-Forschung à la Jäger [...] nicht einmal ansatzweise geschaffen worden" sind. (S.17) Nach wie vor fehlt es an systematischen Untersuchungen einzelner Zeitungen, sieht man von vereinzelten Vorstößen wie jenen von Almut Todorow (Das Feuilleton der Frankfurter Zeitung in der Weimarer Republik, Tübingen 1996) oder Michaela Enderle-Ristori über das Pariser Tageblatt und die Pariser Tageszeitung (Markt und intellektuelles Kräftefeld, Tübingen 1997) ab. Kauffmann plädiert für eine "pragmatische Wende" in der Feuilleton-Forschung, d. h. er möchte die durch Jägers Programm gestellten Ansprüche zurückschrauben und vor allem die Erschließungstiefe der Zeitungen und damit den Forschungsaufwand verringern.

Über Details der Erschließung kann man zweifellos immer diskutieren, Einigkeit sollte dagegen darüber herrschen, daß der mediale und der außermediale Kontext zu berücksichtigen sind. Über den Betrachtungen des (vermeintlichen) Genres Feuilleton sollte der Veröffentlichungsort nicht vergessen werden. Das intensive intertextuelle Geflecht von Beiträgen über und unter dem Strich und die Verarbeitung von Diskursen außerhalb der Zeitung muß in den Mittelpunkt der Feuilletonforschung gerückt werden. Dazu zählt insbesondere die im Feuilleton mehr oder weniger versteckte Politik, das Verhältnis zwischen Nachricht und Kommentar oder Fiktion (vgl. dazu die Beiträge von Sösemann und Todorow).

Wenn diese Gesichtspunkte ernst genommen werden, ist auch die Beschränkung auf eine gewisse Form oder gar die >Kleine Form< hinfällig. Wenn für das Feuilleton typische "Wiederholungs- und Fortsetzungsdiskurse" (Kauffmann, S.20, nach Todorow) herausgearbeitet werden sollen, muß auch der Feuilletonroman Berücksichtigung finden, der dem Prinzip der Konstruktion von Wirklichkeit von Tag zu Tag auf ganz besonders stringente Weise folgt (vgl. dazu des Rezensenten Kleine Geschichte des deutschen Feuilletonromans, Tübingen 1999).

Fazit

Die genannten Forderungen verwirklichen die Fallstudien des Bandes nur gelegentlich. Systematisch im Sinn der Auswertung einer Zeitung ist nur der Beitrag von Streim angelegt, Hinweise auf intertextuelle oder interdiskursive Verflechtungen finden sich vor allem bei Sösemann, Rollka und Sprengel. Da die Vertreter des Faches Publizistik und Kommunikationswissenschaft in letzter Zeit wenig Interesse an der weiteren Erforschung des Feuilletons zeigen, sind wirklich grundlegende Beiträge wie jener von Melischek und Seethaler um so höher zu schätzen. Durch eine statistische Auswertung der Wiener und Berliner Tageszeitungen belegen die beiden Autoren die Expansion des Pressewesens, und insbesondere der Massenblätter, in der Zwischenkriegszeit, die Konzentrationsbewegung und die Preisentwicklung, die Entkoppelung von Medien und politischen Trägerorganisationen nach dem Einschnitt von 1918 und den generellen Rechtsruck gegen Ende der Periode.

Viele Beiträge sind dagegen offensichtlich von ihrem Gegenstand infiziert und ihrerseits ausgesprochen feuilletonistisch ausgefallen. Unter dem Strich bleibt die Einsicht, daß eine "Verbesserung der Kommunikation und Koordination in der Feuilleton-Forschung" (Kauffmann, S.10) nach wie vor dringend nötig ist.


Prof. Dr. Norbert Bachleitner
Universität Wien
Institut für Vergleichende Literaturwissenschaft
Berggasse 11/5
A-1090 Wien
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Ins Netz gestellt am 26.02.2002
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