Baisch über Coxon: Autorschaft im Mittelalter

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Martin Baisch

Autorschaft im Mittelalter

  • Sebastian Coxon: The Presentation of Authorship in Medieval German Narrative Literature 1220 — 1290. (Oxford Modern Languages and Literatures Monographs) Oxford: Oxford University Press 2001. 254 S. Geb. DM 154,99.
    ISBN 0-19-8160178.


>Rückkehr des Autors<

Gegenwärtig läßt sich beobachten, wie die Kategorie der Autorschaft in der Germanistik auf großes Interesse stößt.1 Die Gründe hierfür sind sicher vielfältig; einer besteht ohne Zweifel in der Problematisierung des Autorbegriffs vor allem durch neue literaturtheoretische Vorstöße in den letzten Jahrzehnten. Diese Versuche endeten oft — statt bei einer Historisierung von Autorschaft und Autorschaftskonzepten — bei einer Abkehr von der Kategorie des Autors überhaupt. Doch mehren sich die Stimmen, welche eine historisch-systematische Rekonstruktion von Autorkonzepten favorisieren. Die theoretisch orientierte Verabschiedung von der Kategorie Autorschaft scheint überholt: Der Autor kehrt zurück.

In bezug auf die mittelalterliche Literatur hat in letzter Zeit die provokative Behauptung Bernard Cerquilignis, daß das Prinzip Autorschaft in der mittelalterlichen Kultur keine Grundlage besitze, für Aufregung gesorgt. 2 Doch zielt auch Cerquilignis polemischer Essay, die Programmschrift der New Philology, im Grunde auf die Negation der Kategorie des Autors — nicht auf eine historisierende Perspektive des Phänomens. Wenngleich der Mittelalter-Philologie des 19. Jahrhunderts zu Recht vorgeworfen werden konnte, daß sie einen modernen, emphatischen Autorbegriff auf das Mittelalter projizierte, so kann jedoch im Umkehrschluß bzw. in Folge einer Fehlrezeption Foucaultscher Thesen nicht vom >Tod des Autors< im Mittelalter gesprochen werden. Foucaults Aufsatz beschreibt, wie Uwe Japp darlegt, den Autor als eine Funktion bzw. ein Prinzip des Diskurses: "Untersucht wird folglich nicht der Autor als Urheber von Diskursen, sondern der Diskurs als der [historisch variable] Spielraum von Autorfunktionen." 3 Foucault imaginiert zwar eine Kultur, "in der Diskurse verbreitet und rezipiert würden, ohne daß die Funktion Autor jemals erschiene," doch wird dadurch nur der historisch-systematische Ansatz betont. 4

Scriptor — Compilator — Commentator — Auctor. Zum Status mittelalterlicher Autorschaft

Zur Deskription und Analyse mittelalterlicher Autorschaft könnte sich der Rückgriff auf die Auseinandersetzungen um den Begriff des Autors vor allem des 13. Jahrhunderts als hilfreich erweisen. Die mittelalterliche Theoriebildung hinsichtlich des Autors im Bereich der wissenschaftlichen, d.h. theologischen Diskussion, sieht diesen nicht als creator ex nihilo. Vielmehr nimmt der Autor "an einer Rede teil, die lange vor ihm in Gang gekommen ist, und setzt darin nur seine eigenen Akzente, indem er mehr oder weniger >Eigenes< hinzufügt." 5 In einer Analyse von Bonaventuras Vorrede zu dem Kommentar In primum librum Sententiarum hat Alastair J. Minnis diejenigen Begriffe zusammengestellt, mit denen unterschiedliche Autorfunktionen beschrieben werden:

The literary role of the auctor, considered in its widest sense, was distinguished from the respective roles of the scribe (scriptor), compiler (compilator) and commentator (commentator). […] The auctor contributes most, the scriptor contributes nothing, of his own. The scribe is subject to materials composed by other men which he should copy as carefully as possible, nihil mutando. The compilator adds together or arranges the statements of other men, adding no opinion of his own (addendo, sed non de suo). The commentator strives to explain the views of others, adding something of his own by way of explanation. Finally and most importantly, the auctor writes de suo but draws on the statements of other men to support his own views. 6

Hier werden die konkreten literarischen Arbeitsschritte im Umgang mit (überliefertem) Text zur Bestimmung von Autorschaft herangezogen. Die definitorische Differenziertheit in der Unterscheidung zwischen Schreiber, Compilator, Commentator und Autor kann wohl für die volkssprachliche Literatur nicht angesetzt werden. Zu fragen wäre aber, ob nicht zumindest der Begriff der compilatio zur Beschreibung des literarischen Schaffens der höfischen Epiker im 12. und 13. Jahrhundert geeignet wäre. 7

Weitere Elemente, die als historische Signaturen einer spezifischen Ausbildung der Autorfunktion angesehen werden können, sind die (auch gattungsbedingte) Anonymität vieler mittelalterlicher Texte, die selbstverständliche Bearbeitung lateinischer und volkssprachlicher Vorlagen, die oftmals erhebliche Varianz zwischen den Fassungen ein und desselben Textes, die geringe Zahl an Autographen im Mittelalter, aber auch ein Begriff wie der des >doenedieps<, der die "Vermutung nahe[legt], man habe unter mittelalterlichen Autoren durchaus eine Art Recht auf geistiges Eigentum erkannt und anerkannt". 8 Diesem Problemfeld sind ebenso die mannigfachen Selbstnennungen der Autoren bzw. die Literaturkataloge in den höfischen Romanen oder die von der Forschung (re)konstruierten >Dichterfehden< zuzurechnen. 9 Letztere Phänomene verweisen auf spezifische Veränderungen in der Auffassung der Autorfunktion im Mittelalter. Wer den Prozess der Aufwertung volkssprachiger Autorschaft verfolgt, wird sich mit der in hochmittelalterlicher Zeit entstehenden Literatur beschäftigen müssen, die sich eine neue Autorität zuschreibt.

Die Verfügbarkeit des Autornamens bezeugt eine neue Bedeutung von volkssprachiger Autorschaft, die offenbar mit der Umorientierung der Literatur im 13. Jahrhundert zusammenhängt. Die Rückorientierung an den bewunderten Dichtern der Zeit um 1200 verlieh diesen eine Autorität, wie sie volkssprachige Dichtung vorher nie besessen hatte und wie sie in der deutschen Literatur erst wieder in der Opitz-Verehrung des 17. Jahrhunderts begegnet. Man dichtete Lieder im Namen von Reinmar und Neidhart, signierte lehrhafte Stücke mit den Namen des Stricker oder des Tannhäuser und verfaßte Epen unter Wolframs Namen. So entstand ein neuer Kanon, der das literarische Bewußtsein bis ins 15. Jahrhundert geprägt hat. 10

"The Presentation of Authorship" oder: Repräsentation von Auktorialität?

Hier setzt nun Sebastian Coxon mit seiner Oxforder Dissertation an. Er untersucht die Präsentation von Autorschaft im 13. Jahrhundert einerseits bei in der Schrifttradition verankerten Autoren wie Rudolf von Ems und Konrad von Würzburg. Andererseits analysiert Coxon mit der Heldenepik und den Kurzerzählungen (>Märe<) zwei Textgattungen, die in dieser Zeit das Gattungssystem mittelalterlicher Textualität erweitern und dem Bereich (inszenierter) Mündlichkeit zuzurechnen sind (S. 3). Coxon unterzieht die metapoetischen Passagen jener Texte — Prologe, Exkurse und Epiloge — einem close reading, um Formen, Prinzipien und Funktionen auktorialer Selbstentwürfe in der volkssprachlichen Literatur des 13. Jahrhunderts zu bestimmen.

Besondere Berücksichtigung erfährt in seiner Darstellung die Materialität mittelalterlicher Überlieferung: Wer vom Autor spricht, darf vom Werk und seiner Textüberlieferung bzw. seiner piktoralen Kommentierung im Falle mittelalterlicher Literatur nicht schweigen (S. 3). Neben den leitenden Untersuchungsparadigmen Mündlichkeit / Schriftlichkeit, Gattung und Überlieferung ist für Coxons Studie die sozialgeschichtliche Kategorie des Mäzens von entscheidender Bedeutung. Coxon versucht, die analysierten Werke — je nach Quellenlage — in einem gönnergeschichtlichen Kontext zu situieren und den Wirkungen dieser außertextuellen Interessen auf die Spur zu kommen. Über den spezifischen Status mittelalterlicher Texte, das in ihnen jeweils neu verhandelte Verhältnis von Autonomie und Heteronomie, ist in der Forschung immer wieder gestritten worden. Doch ist daran festzuhalten, daß beispielsweise eine Textgattung wie der höfische Roman, dem sich auch Rudolf von Ems und Konrad von Würzburg zuwenden, soviel an literarischer Autonomie verwirklicht, daß er kontextuellen Funktionalisierungen zu entkommen weiß. Dies scheint mir auch für jene Textbereiche zu gelten, die von der Genese und Produktion des jeweiligen Werks erzählen und die Coxon in ihrer literarischen und poetologischen Aussagefähigkeit zuweilen unterschätzt.

Fast zu vorsichtig wird in dieser Dissertation das Textmaterial vorgeführt und interpretiert. Dies zeigt sich schon an der Begrifflichkeit: Ziel der Untersuchung ist eine Analyse der Präsentation von Autorschaft — "defined as the medieval poetic practice of addressing the issue of the authorship of a text within the literary work itself" (S. 17) — in den erzählenden Texten des 13. Jahrhunderts, die Werke geben aber vielmehr Aufschluß über die Repräsentation von Auktorialität in den epischen Texten. Zwar werden in dieser Dissertation alle jene Elemente formal bestimmt, die innerhalb eines Textes eine auktoriale Ebene eröffnen, doch wäre eingehender nach den mit der Präsentation von Autorschaft verbundenen Funktionalisierungen zu fragen gewesen.

To be sure, romance authors are forever referring to their sources, usually written and most often in Latin, as a way of substantiating their own poetic authority. But it would be a mistake, because of this rhetorical self-justification, to place into question or to efface the author's own originality or virtuosity. Because this gesture refers backward only in order to sacrifice past tradition to present innovation, it is antinostalgic in the most resounding sense. 11

Der volkssprachige Autor als zweite causa efficiens vermag ein Spiel mit seiner Verantwortlichkeit für das von ihm Geschriebene zu treiben. Wolframs von Eschenbach polemische Ablehnung der Buchgelehrsamkeit — sowohl in der sogenannten "Selbstverteidigung" des "Parzival" als auch im Prolog zum "Willehalm" — wie die Inszenierung von (fiktiven) Quellenberufungen belegen virtuos einen vielschichtigen Umgang mit auctoritas, der wiederum durch den Blick in die lateinische Diskussion erhellt werden kann. Dort nämlich wird die "literary and moral […] responsibility for an act or a piece or writing" zum Kriterium, das einen auctor von einem compilator trennt. 12 Der Aspekt der Inszenierung von Autorität und Authentizität hätte von Coxon bei der Analyse der metapoetischen Passagen auch deshalb stärker gewichtet werden können, weil er von der Existenz einer fiktionalen Erzählerfigur in den mittelalterlichen Texten ausgeht (S. 19). So läßt sich gerade am Beispiel Konrads von Würzburg beobachten, wie ein Autor das Verhältnis zum Mäzen derart virtuos inszeniert, daß man geradezu von einer Poetik der Gönnerschaft sprechen könnte.

Nach dem die Fragestellung der Studie herleitenden ersten Kapitel "The Author in The Text" (S. 1—34) wendet sich Coxon zunächst den beiden produktivsten und vielseitigsten volkssprachlichen Autoren des 13. Jahrhundert zu: Rudolf von Ems und Konrad von Würzburg (S. 37—141).

Rudolf von Ems

Das von Coxon analysierte Textcorpus besteht aus den unterschiedlichen Gattungen zugehörigen epischen Werken "Der guote Gêrhart", "Barlaam und Josaphat", "Wilhelm von Orlens", "Alexander" und der "Weltchronik". Rudolfs von Ems auktoriale Selbstentwürfe basieren auf der Verbindung lateinischer und volkssprachiger Traditionen und präsentieren eine Vielfalt an Formen und Möglichkeiten, über Autorschaft im 13. Jahrhundert zu reflektieren, "incorporating acrostics, a wide range of authorial roles, and statements from a variety of persepectives" (S. 37). Coxon konstatiert Korrespondenzen zwischen dem narrativen Geschehen der Texte Rudolfs und der auktorialen Selbstpräsentation in Prologen und Epilogen. So findet sich beispielsweise im Prolog des Legendenromans "Barlaam und Josaphat", der das Thema christlich-religiöser Unterweisung und Konversion narrativ entfaltet, das traditionelle Gebet an Gott mit der Bitte um Inspiration (S. 45). Ferner ist die Autorfigur in diesem Roman als Sünder inszeniert: Rudolf funktionalisiert diesen Topos christlicher Literatur insofern, als der gelehrte Autor der größeren Verbreitung der ursprünglich lateinischen Erzählung dient und derart seiner Sündhaftigkeit entgegenwirkt. Die Autorbilder der Handschriften schließlich, die diesen Roman tradieren, relativieren den Status volkssprachiger Autorschaft, indem hier Konzeptionen von Autorschaft im Vordergrund stehen, welche auf das Göttliche bezogen sind.

Die Analyse des Minne- und Aventiureromans "Wilhelm von Orlens" belegt die Vielfalt an Perspektiven, in denen Autorschaft bei Rudolf modelliert erscheint. Coxons Interpretation der metapoetischen Passagen des "Wilhelm von Orlens" verdeutlicht nicht nur den innovativen Umgang des Autors mit der literarischen Tradition des höfischen Romans in der Nachfolge Wolframs von Eschenbach und Gottfrieds von Straßburg, sondern offenbart auch, daß Rudolf die Bedingungen seiner Autorschaft reflektiert. Sodann zeigt sich aber eine methodisch begründete Schwäche des Ansatzes von Coxon: Indem er sich in seiner Untersuchung überwiegend an der Präsentation von Autorschaft in den Prologen und Epilogen der Texte orientiert, entgeht ihm der auch auf weiteren Ebenen der Texte entfaltete Diskurs von Autorität und Authentizität. So sind Rudolfs Stellungnahmen zur Textgenese des "Wilhelm von Orlens" begrifflich eng mit der Liebes- und Herrschaftsthematik des Romans verwoben. Dieser Zusammenhang erschließt sich aber erst in einer intensiven Lektüre des gesamten Textes.

Der Beginn von Rudolfs "Alexanderroman" kennzeichnet das besondere Interesse, das die Autorfigur seinem Stoff entgegenbringt:

The subject-matter of Alexander has been of lasting concern to the poet, and the success of his research is shown to afford him >personal< satisfaction. The integration of this element of subjectivity is of course a deliberate poetic strategy, which in this context fulfils the specific function of persuading the work's recipients of both the immense material basis of the story and of the poet's individual effort. (S. 75)

Der hier aufscheinenden "Subjektivität" der Autorkonstruktion wird man vielleicht noch mit einer weiteren Interpretation beikommen, wenn man die übrigen auktorialen Aussagen des Romans anders als Coxon gewichtet. Während dieser Rudolfs Einschätzung der eigenen Romanproduktion letztlich als traditionelles Bekenntnis zur Quellenabhängigkeit versteht, markiert für Franz-Josef Worstbrock das metapoetische Zeugnis, das Rudolf im Literaturkatalog seines "Alexanderromans" gibt, einen Einschnitt im volkssprachlichen Erzählen in Deutschland. Innerhalb einer literarischen Polemik gegenüber seinem Konkurrenten Biterolf schreibt Rudolf von Ems demnach der eigenen Autorschaft offen und unverstellt ein größeres Maß an auctoritas zu:

Er bezeichnet sich als urhap dirre maere, als Urheber dieser Alexandererzählung, der er als der Kompilator der neuen Stoffkonstellation in der Tat ist. Die ganze wârheit der Alexandergeschichte beginnt erst, so Rudolfs Anspruch, mit der neuen, von ihm selber verantworteten Kompilation. Der Kompilator erhält, indem er nach eigenem Wissen und Urteil eine neue Grundlage der Materia schafft und damit einen Teil des Materia-Parts übernimmt, eine auctornähere Qualität, die Qualität einer vorgeordneten Wahrheitsinstanz für die gesamte wiedererzählte Alexandergeschichte. Hier zeigt sich eine beachtliche Erweiterung der Verfasserkompetenz über den Artifex hinaus […].13

Rudolf beansprucht für sich, daß mit seinem Werk die volkssprachige Alexanderdichtung ihren eigentlichen Ursprung genommen hat. Er strebt also für diese Textgattung eine ähnliche Gründerrolle an, wie sie in den Literaturkatalogen der Zeit für den höfischen Roman Heinrich von Veldeke überantwortet wird.

Konrad von Würzburg

Das hier von Coxon untersuchte Textcorpus ist umfangreich: Zu diesem zählen Legenden ("Silvester", "Alexius", "Pantaleon"), die längeren höfischen Erzähltexte ("Engelhard", "Partonopier und Meliur", "Trojanerkrieg"), Kurzerzählungen ("Turnier von Nantes", "Heinrich von Kempten", "Herzmäre") und schließlich die in der Überlieferung fälschlich Konrad zugeschriebenen Werke ("Ave Maria", "Der Mönch als Liebesbote A", "Frau Metze", "Die halbe Birne A"). Konrads von Würzburg auktoriale Selbstentwürfe bewegen sich vor allem in seinen größeren epischen Werken — so die zentrale These Coxons — in einem Spannungsverhältnis zwischen der Negation von künstlerischer Leistung und Autonomie einerseits und der stolzen Artikulation von artistischem Selbstbewußstein andererseits (S. 99 und 141). Konrads poetische Strategie, die eigene Autorschaft zu minimieren, mündet einerseits in einer Poetik der Gönnerschaft, andererseits in dem Phänomen literarischer Zusammenarbeit, das sich auch schon bei Rudolf von Ems findet.

Exemplarisch lässt sich dies am Prolog des "Partonopier" nachvollziehen. Dort wird zunächst das Verhältnis der Autorfigur Konrad zu jener des Gönners Peter Schaller auf spezifische Weise charakterisiert: "The authorial activity of composition […] is repeatedly shown to be instigated by the patron […]; and the poet employs self-deprecation to downgrade his own role still further" (S. 114). Sodann wird die literarische Kooperation Konrads mit Heinrich Merschant und Arnolt Fuchs betont, die als Übersetzer bei der Neufassung des französischen Textes behilflich sind: "Regardless of the extent to which these details reflect the real process of composition, the poet is clearly seeking to emphasize the contribution of these two men at the cost of his own" (S. 115). Diese Beschreibungen der durch Heteronomie charakterisierten Entstehungsstrukturen des Werkes füllen allerdings nur den zweiten Prologteil. Im ersten finden sich ästhetische Reflexionen, die in der poetologischen Metapher der sich zu Tode singenden Nachtigall kulminieren. Künstlerische Reflexivität und Deskription außertextueller Bedingungsverhältnisse erweisen sich aber in diesem Prolog als zusammengehörig:

Artistic self-sufficiency is deemed desirable only if the proper environment is not given. Konrad's circumstances turn out to be ideal in this respect: he has an appreciative audience and that includes an enthusiastic patron and prominent >co-authors<. (S. 116)

Prologe und Epiloge der Konradschen Kurzerzählungen zeigen einen hohen Grad an Varianz in der Überlieferung im Sinne der Kürzung und Umschrift des Textmaterials. Die Aussagen zur Autorschaft dieser Texte sind, so Coxon, als "strategy of closure" ( S. 135) zu verstehen. Die vier Texte schließlich, welche Konrad in der Überlieferung fälschlicherweise zugeschrieben werden, versuchen in unterschiedlicher Weise über die Einbindung bzw. Funktionalisierung des Autornamens Konrad von Würzburg an dessen Autorität zu partizipieren, wobei die Anlehnung an jene formale Elemente differiert, die Konrad zur Präsentation seiner Autorschaft entwickelt (S. 140).

Der zweite Teil von Coxons Dissertation "Authorship on the Boundary with Orality" (S. 145—216) untersucht nunmehr gattungsbezogen die literarischen Erscheinungsformen von Autorschaft in der Heldenepik bzw. den Kurzerzählungen des 13. Jahrhunderts.

Heldenepik

Gattungskonstitutive Komponente der Heldenepik ist deren Anonymität, die sich auch in jenen 17, von Coxon untersuchten heldenepischen Texten zu erhalten scheint:

It would appear that even in their literary form heroic tales were regarded as cultural common property rooted in an oral tradition of storytelling in which individualistic claims of authorial achievement were out of place. (S. 146)

Obwohl nun eine Vielzahl dieser Texte in einem literarischen Kontext verortet sind bzw. bewußt auf einer poetischen Tradition fußen und obwohl in ihnen über die Genese des jeweiligen Werks reflektiert wird, ist der Aspekt der Autorschaft offensichtlich dethematisiert, wird die Bedeutung der Kategorie des Autors für Funktionen der Autorisation negiert.

Dennoch finden sich auch in diesen Texten Strategien der Authentisierung des Erzählten. Sie richten sich beispielsweise im "Wolfdietrich D" auf die dann exakt rekonstruierte Herkunftsgeschichte des Textes. In der "Rabenschlacht" erscheint das Werk selbst personifiziert: es erhält ein menschliches Profil. Coxon scheint diese Bemühungen allerdings negativ einzuschätzen:

[…] when these works simultaneously lay claim to an association with literary tradition the fundamental paradigm of their anonymity is no longer straightforward, and the theme of authorship becomes conspicuous by its absence. As soon as the epics themselves begin to be described as products of a literary process of composition, be it as a >buoch< or a >getichte<, the failure to depict the authorial agent as well gives rise to a certain disharmony. (S. 159)

Einige wenige Texte freilich — so z.B. "Biterolf und Dietleib" oder "Goldemar" — weisen auktoriale Selbstentwürfe auf, die besondere Funktionen innerhalb der Texte zu erfüllen haben, und reklamieren derart eine Autorfigur für die Heldenepik.

Obgleich Coxon den Texten dieser Gattung die Kenntnis der literarischen Tradition nicht abspricht und intertextuelle Bezugnahmen für möglich hält, vermag er die Inszenierungen von Auktorialität nicht als vollgültige intentionale poetische Akte anzuerkennen:

The degree of sophistication that we are willing to accord such >intertextuality< will determine the degree to which we regard the treatment of the issue of authorship in these works as deliberate and reasoned, rather than naive or instinctive. (S. 174)

Daß in einigen heldenepischen Texten auf eine Autorfigur Bezug genommen wird, ohne diese mit einem Namen zu belegen, oder daß in ihnen einander widersprechende Verfahren der Autorisierung zu beobachten sind, wertet Coxon als Hinweis, daß die Autoren dieser Heldenepik nicht immer in der Lage waren, die Präsuppositionen der überlieferten Stoffe mit den Anforderungen des neuen literarischen Mediums zu vermitteln.

Insgesamt betrachtet Coxon die spätere Heldenepik in durchaus wertender Perspektive als sich im Literatursystem des 13. Jahrhunderts neu etablierende Gattung, die — anders als etwa der höfische Roman — weit weniger differenziert das Thema der Autorschaft behandelt:

The disparate character of these responses, and the relative paucity of explicit presentation of authorship seem symptomatic of a new narrative type struggling to come to terms with its own literary nature. (S. 172)

Kurzerzählungen

In dem letzten Kapitel der Studie erkundet Coxon, auf welche Weise die Gattung der Kurzerzählungen auktoriale Selbstentwürfe enthält und ob sich in dieser Hinsicht strukturelle Homologien zur Gattung der Heldenepik ergeben (S. 175). Dabei untersucht er elf Handschriften des 13. Jahrhunderts, die im ganzen 52 Kurzerzählungen überliefern:

Most of the >Mären< in this group are anonymous, and thirty-seven of the fifty-two include no presentation of authorship. In some cases this may be the by-product of a process of transmission in which passages functionalizing authorship were excised. Nevertheless, the large proportion suggests that as with the heroic epic the tendency towards authorial self-effacement in the >Märe< is anchored in the poetological principles of the genre. (S. 179)

Coxon vermutet, daß die fehlende Instrumentalisierung expliziter Autorschaft in vielen dieser Mären mit der in den Texten formulierten mündlichen Genese zusammenhängt, wobei er allerdings nicht die Möglichkeit inszenierter Mündlichkeit (und deren Funktionen) diskutiert. Am Beispiel der Erzählung "Der Sperber" kann Coxon zeigen, daß der Autor seinen eigenen poetisch-kreativen Anteil an der Genese des Textes gegenüber den Umständen der mündlichen Überlieferung negiert (S. 180).

Einige wenige Kurzerzählungen aus Coxons Corpus, wie beispielsweise Dietrichs von Glezze "Der Gürtel" und Sibotes "Frauenerziehung", weisen allerdings umfangreiche Stellungnahmen der Autorisierung und Authentisierung auf, die den längeren epischen Werken der Zeit durchaus vergleichbar sind. Im letzten Abschnitt dieses Kapitels widmet sich Coxon der Analyse der handschriftlichen Überlieferung und deren Interesse für die Kategorie Autorschaft.

Fazit

Die unprätentiöse, stringent argumentierende und sprachlich überzeugende Studie bietet einen souveränen Einblick in die vielfältigen Manifestationsformen von Autorschaft in der erzählenden deutschen Literatur des 13. Jahrhundert. Coxon gelingt es, die Abhängigkeit der Artikulation auktorialer Selbstentwürfe in den untersuchten Texten von der Gattungzugehörigkeit, von schriftlichen bzw. mündlichen Traditionsformen und von Überlieferungsverhältnissen zu belegen. Gerade weil deutliche Unterschiede hinsichtlich der Präsentation von Auktorialität im analysierten Textcorpus wahrnehmbar sind, wäre die Frage nach dem Status der in den metapoetischen Passagen belegten Inszenierungen von Autorschaft für die Autorfunktion im Mittelalter erneut zu stellen. Hier wäre vielleicht der Rückgriff auf jene Positionen fruchtbar, die den mittelalterlichen Autor als Wiedererzähler bzw. Compilator zu begreifen versuchen.

Aus dem reichen Textmaterial, das in Coxons luzider Darstellung aufbereitet ist, lassen sich eine Reihe weiterer Fragestellungen ableiten. So scheint mir das Feld der innertextuellen Funktionalisierungen von Autorschaft bzw. Auktorialität Raum für anschließende Untersuchungen zu bieten. Gerade die in den metapoetischen Passagen der höfischen Romane entworfenen Bilder des Autors bzw. des Erzählers bedürfen auch deshalb der weiteren Analyse, weil man hier den Beginn der Genese eines emphatischen Autorbegriffs beobachten kann. In Bezug auf Heldenepik und Kurzerzählungen ließe sich weiterfragen, welche Funktionen die Präsentation und Inszenierung von Autorschaft bei der Etablierung dieser beiden neuen Gattungen im literarischen System des 13. Jahrhunderts übernimmt. Ein weiteres Arbeitsfeld könnte textkritische Bemühungen betreffen: Zu fragen wäre hier nach den Konsequenzen, die sich aus den Beobachtungen der Autorentwürfe im 13. Jahrhundert für die editionsphilologische Praxis ergeben, die ja auch auf bestimmten Autorkonzepten fußt. Schließlich stellt sich nach der Lektüre der Untersuchung die Frage, auf welchen Ebenen und über welche Verfahren in den vorliegenden poetischen Texten sonst Autorschaft bzw. Auktorialität thematisiert wird (z.B. Stil).


Dr. Martin Baisch
Freie Universität Berlin
Institut für Deutsche und Niederländische Philologie
Habelschwerdter Allee 45
D-14195 Berlin

Ins Netz gestellt am 09.10.2001
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Anmerkungen

1 Vgl. Elizabeth Andersen / Jens Haustein / Anne Simon / Peter Strohschneider (Hg.): Autor und Autorschaft im Mittelalter. Kolloquium Meißen 1995. Tübingen: Niemeyer 1998; Fotis Jannidis / Gerhard Lauer / Matias Martinez / Simone Winko (Hg.): Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 71) Tübingen: Niemeyer 1999 (die Einleitung "Rede über den Autor an die Gebildeten unter seinen Verächtern" ist online verfuegbar: http://iasl.uni-muenchen.de/discuss/lisforen/autor-inhalt.html) ; Jürgen Fohrmann / Ingrid Kasten / Eva Neuland (Hg.): Autorität der / in Sprache, Literatur, Neue Medien. Vorträge des Bonner Germanistentags 1997. Bielefeld: Aisthesis Verlag 1999; Christiane Henkes / Harald Saller (Hg.): Text und Autor. Beiträge aus dem Venedig-Symposium 1998 des Graduiertenkollegs >Textkritik< München. (Beihefte zu editio 15) Tübingen: Niemeyer 2000; Fotis Jannidis / Gerhard Lauer / Matias Martinez / Simone Winko (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart: Reclam 2000; Walter Erhart / Heinrich Detering / Christine Lubkoll: Ankündigung eines Symposions: Autorschaft: Positionen und Revisionen. In: DVjS 74 (2000), S. 176—181.   zurück

2 Bernard Cerquiglini: Éloge de la variante. Histoire critique de la philologie. Paris: Éditions du Seuil 1989.   zurück

3 Uwe Japp: Der Ort des Autors in der Ordnung des Diskurses. In: Jürgen Fohrmann / Harald Müller (Hg.): Diskurstheorien und Literaturwissenschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1988, S. 223—234, hier S. 228.   zurück

4 Michel Foucault: Was ist ein Autor? In: M.F.: Schriften zur Literatur. Aus dem Französischen von Karin von Hofer und Anneliese Botond, Frankfurt/M.: Fischer 1988, S. 7—31, S. 31. Vgl. hierzu auch Fotis Jannidis: Der nützliche Autor. Möglichkeiten eines Begriffs zwischen Text und historischem Kontext. In: F.J. / G. Lauer / M. Martinez / S. Winko (Hg.): Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 71) Tübingen: Niemeyer 1999, S. 353—389.   zurück

5 Jan-Dirk Müller: Auctor — Actor — Author. Einige Anmerkungen zum Verständnis vom Autor in lateinischen Schriften des frühen und hohen Mittelalters. In: Felix P. Ingold / Werner Wunderlich (Hg.): Der Autor im Dialog. Beiträge zu Autorität und Autorschaft. St. Gallen: UVK, Fachverlag für Wissenschaft und Studium 1995, S. 17—31, hier S. 25.   zurück

6 Alastair J. Minnis: Medieval Theory of Authorship. Scholastic literary attitudes in the later Middle Ages. London: Scolar Press 1984, S. 94f.   zurück

7 Vgl. Joachim Bumke: Autor und Werk. Beobachtungen und Überlegungen zur höfischen Epik (ausgehend von der Donaueschinger Parzivalhandschrift Gd). In: Helmut Tervooren / Horst Wenzel (Hg.): Philologie als Textwissenschaft. Alte und neue Horizonte. (Sonderheft der Zeitschrift für deutsche Philologie 116 (1997)), S. 87—114, hier S. 110.   zurück

8 Karl Stackmann: Die Edition — Königsweg der Philologie? In: Kurt Gärtner (Hg.): Methoden und Probleme der Edition mittelalterlicher Texte. (Beihefte zu editio 4) Tübingen: Niemeyer 1993, S. 1—18, hier S. 11.   zurück

9 Der Wahl des Begriffs der >Fehde< für bestimmte Formen literarischer Kommunikation z.B. zwischen Wolfram und Gottfried oder Reinmar und Walther in der Germanistik des 19. und 20. Jahrhunderts liegen emphatische Autorschaftskonzeptionen zugrunde.   zurück

10 Joachim Bumke (Anm. 7), S. 97.   zurück

11 David F. Hult: Author / Narrator / Speaker. The Voice of Authority in Chrétiens Charrette. In: Kevin Brownlee and Walter Stephens (Hg.): Discourses of Authority in Medieval and Renaissance Literature. Dartmouth: University Press of New England 1989, S. 76—96, hier S. 82.   zurück

12 Alastair J. Minnis (Anm. 5), S. 101.   zurück

13 Franz-Josef Worstbrock: Wiedererzählen und Übersetzen. In: Walter Haug (Hg.): Mittelalter und Frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze. (Fortuna vitrea 16) Tübingen: Niemeyer 1999, S. 128—142, hier S. 142.   zurück