Baltzer über Nöth: Handbuch der Semiotik

Ulrich Baltzer

Handbuch der Semiotik


  • Winfried Nöth: Handbuch der Semiotik. 2., vollständig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Stuttgart, Weimar: Metzler 2000. XII, 667 S. 89 s/w Abb. Geb. DM 78,- ISBN 3-476-01226-3




Semiotik als allgemeine Kulturwissenschaft


In seiner "Ethik der Terminologie" von 1903 betont Charles S. Peirce, es sei in wissenschaftlichen Angelegenheiten

eine allgemeine Übereinkunft über die Verwendung von Begriffen und Notationen unverzichtbar, die nicht zu streng, doch einflußreich genug ist, die meisten Beteiligten bezüglich der meisten Symbole einzuschließen, und zwar wenigstens soweit, daß es eine kleine Anzahl verschiedener Ausdruckssysteme gibt, die jeder beherrschen muß.1

Diese allgemeine Übereinkunft gibt es in der Semiotik bislang allenfalls für den Namen "Semiotik". In allen anderen Fragen, sei das nun hinsichtlich des Status der Semiotik als Wissenschaft (Forschungsfeld, Disziplin, Inter-, Trans-, Metadisziplin, ...), ihres Gegenstandsbereichs oder ihrer grundlegenden Terminologie herrscht ein heilloses Durcheinander einander überkreuzender oder ausschließender Begriffe, die oft genug unter demselben Namen geführt werden. (Peirce hat sich, auch darin ein Gründervater der modernen Semiotik, in seiner wuchernden semiotischen Begriffsbildung von den eigenen terminologischen Grundsätzen wenig beeindruckt gezeigt.) Die daraus resultierenden Schwierigkeiten hat Winfried Nöth in seinem Handbuch der Semiotik glänzend bewältigt.

Das Handbuch bietet einen gut lesbaren und übersichtlich gegliederten Überblick über alle wesentlichen Schulen und Themen der Semiotik in unserem Kulturkreis, wobei das Schwergewicht auf dem 20. Jahrhundert liegt, einschließlich der in dieses Jahrhundert "hineinragenden" Klassiker Charles S. Peirce und Ferdinand de Saussure. Nöth bringt dabei das Kunststück fertig, den Mittelweg zu finden zwischen einer bloßen Reihung inkompatibler Ansätze und der exklusiven Konzentration auf eine einzelne Auffassung, indem er dem Leser trotz aller notwendigen Verzweigungen, Querverweise und Warnungen vor Unverträglichkeiten zwischen den vorgestellten Theoriestücken doch stets einen kohärenten Aufriß bietet. Im Zweifel läßt er sich von Peirces Ansatz leiten; dies jedoch unter explizitem Hinweis auf diesen Umstand und unter Nennung, oft auch Vertiefung, alternativer Gliederungs- und Problemlösungsvorschläge.


Erweiterte und überarbeitete Neuauflage

Die vollständig überarbeitete 2. Auflage ist gegenüber der ersten Auflage von 1985 fast auf das Doppelte des Umfangs gewachsen. Dieser Zuwachs erlaubt einerseits eine ausführlichere Darstellung, etwa der Geschichte der Semiotik und ihrer wichtigsten Vertreter, anderseits aber auch eine Einbeziehung bislang nicht berücksichtigter Felder wie z. B. die Kultursemiotik. Die Gliederung wurde überarbeitet, statt sechs Teilen gibt es nun zehn, denen sich die Bibliographie, das Personen- und das Sachregister anschließen.


Begriffsgeschichte

Die beiden ersten Teile sind der Geschichte der Semiotik gewidmet. Der erste Teil von knapp 60 Seiten Umfang wird eröffnet mit einem Kapitel, das die Geschichte des Begriffs 'Semiotik' selbst erörtert und den Weg abschreitet, den die Namengebung für die Zeichentheorie bis zu 'Semiotik' genommen hat; besondere Beachtung findet dabei die durch die Saussurerezeption in den romanischen Ländern weit verbreitete Bezeichnung 'Semiologie'. In chronologischer Reihe stellt Nöth in den weiteren acht Kapiteln des ersten Teils die Geschichte der zeichentheoretischen Überlegungen von der Antike bis ins 20. Jahrhundert dar, die erst recht spät, beginnend im 17. Jahrhundert, als 'Semiotik' bzw. 'Semiologie' geführt werden. Die Darstellung der Semiotik im 20. Jahrhundert, die sich im ersten Teil des Handbuchs findet, widmet sich den eher randständigen Strömungen der Zeichentheorie.


Schulbildungen

Der zweite Teil liefert die Hauptströmungen und Schulen der Semiotik des 20. Jahrhunderts nach. Eröffnet wird dieser zweite Teil durch einen Abriß der Zeichentheorien von Charles S. Peirce und Ferdinand de Saussure, deren Lebenszeit zwar überwiegend dem 19. Jahrhundert zugehört, deren Konzeptionen jedoch grundlegend für die Semiotik im 20. Jahrhundert geworden sind. Mit Louis Hjelmslev und Charles Morris, deren Zeichentheorien in den darauffolgenden Kapiteln vorgestellt werden, sind die vier zentralen Zeichenkonzeptionen präsent.

Neben den semiotischen Ansätzen von Roman Jakobson, Roland Barthes, Algirdas Julien Greimas (einschließlich der von ihm inspirierten Pariser Schule), Julia Kristeva und Umberto Eco stellt Nöth in den anderen Kapiteln des zweiten Teils die Prager Schule und den Weg vom Russischen Formalismus zur Schule von Moskau und Tartu dar. Damit dürfte Nöth eine Auswahl getroffen haben, die im gegebenen, knappen Rahmen von etwas mehr als 60 Seiten eine halbwegs detaillierte Darstellung der jeweiligen Zeichentheorie erlaubt, ohne wichtige Köpfe oder Schulen ausschließen zu müssen.


Zeichen und System

Im dritten Teil ("Zeichen und System") als auch in zwei Kapiteln des vierten Teils ("Semiose und ihre Dimension") stellt Nöth die Grundbegriffe der Semiotik in einer systematischen Zugriffsweise dar. Es ist keine geringe Leistung Nöths, durch das bei den semiotischen Grundbegriffen herrschende Wirrwarr einander z. T. widersprechender, überlappender und verschieden weit gefaßter Begriffe zu führen, ohne daß die Leserschaft dabei den Faden verlöre oder die Vielfalt und die Bezüge der Begrifflichkeiten verdeckt würden.

Hilfreich sind dabei neben den Binnengliederungen der Kapitel, die ein übersichtliches Begriffsraster bilden, besonders die Synopsen der verwendeten Terminologien in Tabellenform. Durch geschickt placierte Querverweise auch auf die in den historischen Teilen bereits vorgestellten Konzepte gelingt es Nöth, die Kapitel zu den einzelnen Begriffen übersichtlich zu halten, ohne der Komplexität der semiotischen Terminologie Gewalt anzutun. Wenn man freilich den Querbezügen und Literaturangaben häufiger nachgeht, wie dies gerade die hier besprochenen Kapitel erforderlich machen, wird der Wunsch nach einer CD-ROM-Ausgabe des Handbuchs übermächtig, die das Navigieren zwischen den Verweisen erheblich vereinfachen würde.


Semiose und Kommunikation

Einige Schwierigkeiten dürfte der vierte Teil des Handbuchs aufwerfen, der der Semiose (dem Zeichenprozeß) und ihren Dimensionen gewidmet ist. Man wundert sich zunächst darüber, daß dieser Teil zwei Kapitel enthält (eines dem Begriff 'Semiose', das andere dem der 'Kommunikation' gewidmet), die man im dritten Teil des Handbuches erwartet hätte, das die semiotischen Grundbegriffe erklärt, etwa die Zeichenkonstituenten und -relationen, 'Bedeutung', 'Repräsentation', 'Information', 'Ikon', 'Index', 'Symbol', 'Struktur', 'System', 'Kode' usw.

Sollte die Semiose freilich derart fundamental sein, daß die Darstellung in einem eigenen Handbuchteil gerechtfertigt ist, dann wäre die gewählte Einteilung nur folgerichtig, da 'Semiose' und 'Kommunikation' als dynamische Prozesse der Zeichenwirkung in diesen Teil gehören, ebenso wie der im Kapitel zwischen diesen beiden Begriffen verhandelte Terminus 'Kognition' mit den dort aktuell vorherrschenden Repräsentationstheorien. Für Nöth hat die Semiose zentrale Bedeutung, weil

"[n]icht Zeichen an sich und auch nicht die Kommunikation, sondern allgemeiner die Prozesse der Semiose [...] der eigentliche Gegenstand der Semiotik nach Peirce" seien (S. 227).
Diese Ansicht mag zwar nicht jeder teilen, dennoch dürfte sie genügend viele Anhänger in der semiotischen Zunft haben, daß sie als Gliederungsschema für ein Handbuch zulässig ist.

Problematisch wird diese Entscheidung freilich dann, wenn sich Nöth zusätzlich von dem pansemiotischen Ansatz Peirces leiten läßt, der Zeichenprozesse nicht lediglich unter Menschen oder Lebewesen, sondern auch noch in physikalischen und chemischen Prozessen meint feststellen zu können. Das führt dazu, daß Nöth das vierte Kapitel des vierten Teils der 'Physikosemiotik' widmet, die Zeichenprozesse "ohne die Beteiligung lebender Organismen" (S. 248) untersucht, und das Kapitel IV.5 der 'Ökosemiotik', welche die "semiotischen Wechselbeziehungen zwischen Mensch und Natur" (S. 250) zum Gegenstand hat.

In beiden Fällen räumt Nöth ein, daß es sich um im Entstehen befindliche Teilbereiche der Semiotik handele. Die beiden Kapitel lesen sich dann auch eher wie ein von Peirce inspirierter Beitrag zur Etablierung dieser Bereiche als ein handbuchartiger Überblick über bereits geleistete Forschungen. Dieser Einwand betrifft freilich nicht die folgenden Kapitel des vierten Handbuchteils. Nöth stellt die Biosemiotik dar, die durch die Bedeutungstheorie des inzwischen zum "Klassiker" der Semiotik avancierten Biologen Jakob von Uexküll begründet wurde und biologische Vorgänge als Zeichenprozesse faßt. Kapitel zur Zoosemiotik als Lehre vom Zeichengebrauch der Tiere, zur Evolution der Semiose und zu den Zeichenprozessen des Raums und der Zeit beschließen den vierten Teil.

Die folgenden Handbuchteile sind ausschließlich auf den menschlichen Zeichengebrauch bezogen. Teil V des Handbuchs untersucht die nonverbale Kommunikation, Teil VI Sprache und Sprachkodes. Von besonderem Interesse für Literatur- und Kulturwissenschaftler dürften die sich daran anschließenden Teile zur Textsemiotik (Teil VII), zur Ästhetik und Literatursemiotik (Teil VIII), zur Mediensemiotik (Teil IX) sowie zur Kultursemiotik, Soziosemiotik und interdisziplinären Erweiterungen (Teil X) sein.


Semiotik und die Nachbarwissenschaften

Nöth muß in den Kapiteln dieser Teile immer wieder Antworten auf drei miteinander verwobene Probleme der Semiotik geben, die daraus resultieren, daß die Mehrzahl der angesprochenen Forschungsbereiche zum Gegenstandsbereich anderer etablierter Wissenschaften oder deren Teilgebiete gehören, z. B. zur Linguistik, Literaturwissenschaft oder Medienwissenschaft. Das erste Problem besteht darin, worin sich die Semiotik hinsichtlich des betrachteten Forschungsgegenstandes von der konkurrierenden Wissenschaft unterscheidet, bzw. wie deren Verhältnis zueinander zu bestimmen ist. Nöth gibt darauf meist am Anfang des jeweiligen Kapitels knapp Auskunft.

Ausführlicher, nämlich mit einem eigenen Kapitel (vgl. Kap. VI.1), verhandelt er das Verhältnis zwischen der Linguistik und der Semiotik, da Sprache, die das übergreifende Thema des Teils VI bildet, sowohl der zentrale Gegenstand der Linguistik als auch der Allgemeinen Semiotik ist. Herausgegriffen habe ich dieses Beispiel, weil es das bereits zu Anfang beklagte Durcheinander von Ansätzen belegt, anderseits aber auch deutlich macht, wie geschickt Nöth die daraus entspringenden Schwierigkeiten zu meistern versteht.

Jedes denkbare Verhältnis von Linguistik und Semiotik, so ist dem Kapitel zu entnehmen, ist bereits in der Forschungsliteratur vertreten worden. Die Semiotik wird zum Teil der Linguistik übergeordnet, sei es als Rahmen und Grundlage oder als Metawissenschaft. Andere meinen, die Linguistik sei der Semiotik übergeordnet, sei dies nun in Form einer Pilotwissenschaft, sei es aufgrund der Annahme, daß die Sprache den Primat vor allen anderen semiotischen Systemen habe, oder auch, weil die Semiotik einen Teil der Linguistik bilde.

Drei Problemfelder fallen auf:

  • Wo die Über- und Unterordnung erwogen wird, fehlt natürlich auch nicht die Gleichordnung in Form der Komplementarität. Als Nachbarwissenschaften werden Linguistik und Semiotik u. a. deshalb angesehen, weil die Semiotik sich auch (manche meinen: ausschließlich) mit nichtsprachlichen Zeichensystemen befaßt (solche nichtsprachlichen Zeichensysteme sind Gegenstand des Teils V des Handbuchs), die Lingusitik mit den sprachlichen Systemen. Dem Charakter eines Handbuchs für Semiotik wird Nöth dadurch gerecht, daß er trotz aller Überschneidungen im Gegenstandsbereich rein linguistische Forschungsansätze nicht darstellt, wohl aber semiotische Ansätze innerhalb der Linguistik.

    Da Nöth die Semiotik als eine Erweiterung der Linguistik versteht (vgl. S. 326), stellt er zudem semiotische Forschungen dar, die die Linguistik erweitern, sei es in paralinguistischer - wie Schrift, Gebärdensprache, Universalsprache, Sprachsubstitute, Parasprache (z. B. Stimmqualität, Sprechmelodie, aber auch Lallen, Räuspern, Hüsteln etc.) -, oder translinguistischer Richtung, wie durch die Text- oder Literatursemiotik.

  • Wenn sich die Gegenstandsbereiche anderer Wissenschaften mit dem der Semiotik überschneiden, dann stellt sich zweitens das Problem, wodurch sich ein Forschungsansatz als ein semiotischer qualifiziert. Als semiotisch gelten Nöth erklärtermaßen nicht allein diejenigen Ansätze, die sich selbst explizit semiotisch (semiologisch etc.) nennen, sondern auch solche, die diesen Titel nicht führen, aber mit Zeichenprozessen befaßt sind. Nöth nennt diese "implizit" semiotische Theorien, wobei er die Schwierigkeit nicht unterschätzt, zwischen dem implizit Semiotischen und dem nicht mehr Semiotischen zu trennen (vgl. S. VI). Diese Vorgehensweise ist im zuvor angeführten Beispiel darin sichtbar geworden, daß Nöth auch Forschungen darstellt, die sich als paralinguistische Ansätze verstehen, nicht als semiotische.

  • Das dritte Problem, das sich ergibt, besteht in der Frage nach der Ergiebigkeit des semiotischen Zugriffs. Was gewinnt man dadurch, daß man den Gegenstandsbereich nun auch (eventuell implizit) semiotisch untersucht?


Anhand von zwei Beispielen soll gezeigt werden, wie unterschiedlich hier die Antworten ausfallen. Zunächst zu dem Beispiel, in dem der semiotische Zugriff meiner Ansicht nach wenig fruchtbringend ist. Ich greife die Rhetorik heraus, die in Kapitel VII.2 neben der Stilistik behandelt wird. Damit ist nicht impliziert, diese Kritik erstrecke sich auch auf die anderen Themen des siebten Handbuchteils zur Textsemiotik. Insbesondere die Kapitel zur Semiotik des Textes, zur Erzählung, zum Mythos und zur Ideologie, die in diesem Teil neben der Theologie sowie der Hermeneutik, Exegese und Interpretation behandelt werden, legen nicht nur das genaue Verhältnis der Semiotik zur jeweils konkurrierenden Wissenschaft offen, sondern zeigen auch deutlich die Fruchtbarkeit eines semiotischen Zugriffs.


Testfall Rhetorik mit geringem Ertrag

Nun aber zur Rhetorik. Nöth gibt zuerst eine ausschnitthafte Skizze der historischen Entwicklung der Rhetorik, geleitet von der Frage nach dem Verhältnis zwischen der Rhetorik und der Grammatik, der Poetik sowie der Stilistik. Einem kurzen Abriß zentraler rhetorischer Termini folgt die Nennung gegenwärtiger Tendenzen in der Rhetorik. Als spezifisch semiotisch führt Nöth schließlich die Überlegungen der Gruppe m zur Lehre der Tropen und Peirces semiotische Rhetorik an.

Der Ertrag ist aber in beiden Fällen dürftig. Die semiotische Theorie der Tropen liefert nicht viel mehr als neue Namen für Sachverhalte, die bereits von der antiken Rhetorik herauspräpariert wurden. Peirces Beitrag zur rhetorischen Figurenlehre der Metapher (vgl. S. 346f.) ist nicht mehr als die durch Peirce-Forscher geleistete Formulierung von Erkenntnissen aus der Metaphernforschung mit Hilfe Peircescher Terminologie. Von einer Rhetorik Peirces zu sprechen scheint mir reines Wunschdenken zu sein.

Es gibt nur wenige Ausführungen Peirces, die zu diesem Thema in veröffentlichter Form greifbar sind, und diese vermitteln keine Erkenntnisse, die nicht bereits aus der antiken Rhetorik, freilich in anderer Terminologie, bekannt wären. Die an einer Hand abzählbaren Beiträge aus der Peirce-Forschung zu diesem Thema lassen in naher Zukunft keine Änderung dieses Befundes erwarten.


Personen- und Sachregister

Daß die Gruppe (weder im Personen- noch im Sachregister auftaucht, obwohl über sie im Text mehr zu lesen ist als über viele andere Registereinträge, dürfte ein Einzelfall sein. Das Personen- und das Sachregister sind bis auf wenige, bei der Informationsdichte und -menge eines Handbuchs unvermeidliche Fehler zuverlässige Helfer.

Am Sachregister stört allerdings die uneinheitliche Sortierung der Stichwörter. Statt einheitlich nach dem Substantiv zu sortieren, findet man z. B. 'ästhetische Distanz' unter 'A' sortiert, 'ästhetischer Kode' ohne Querverweis aber unter 'Kode, ästhetischer'; einen Querverweis gibt es dafür bei 'zweifache Gliederung' auf 'Gliederung'. Die bis auf vernachlässigbare Ausnahmen hohe Qualität der fast 400 Spalten umfassenden Bibliographie wird nur dadurch getrübt, daß sie entgegen Nöths Ankündigung (S. VI) keine Auflösung der für wenige Werke verwendeten Siglen bietet, so daß der Leser z. B. raten muß, daß "W2" den zweiten Band der im Entstehen begriffenen chronologisch angeordneten Werkedition der Peirceschen Schriften bezeichnet.


Überzeugendes Anwendungsbeispiel:Theater und Semiotik

Das Kapitel zum Theater, das neben den Kapiteln zur Ästhetik, Musik, Malerei, Architektur, Literatur, zum Poetischen und zur Poetizität im achten Teil des Handbuchs zu finden ist, liefert den zur Rhetorik gegensätzlichen Eindruck. Neben der hier erwähnten schieren Menge an Forschungsarbeiten, die mit der Prager Schule einsetzen, liegt die Fruchtbarkeit der Semiotik für das Theater auf der Hand.

Anders als beispielsweise die Literaturwissenschaft, die sich allzu oft allein mit den Texten befaßt hat, die auf dem Theater aufgeführt werden, ist der Semiotik ein konzeptionell einheitlicher Zugriff auf die visuellen, akustischen, verbalen und nonverbalen Zeichen auf der Bühne und ihrem Drumherum eigen. Wo die anderen Wissenschaften, die sich mit dem Theater befassen, ihre ursprüngliche Zugangsweise langsam erweitern, hat die Semiotik die Ganzheit der "informationellen Polyphonie" (R. Barthes, zit. in: Handbuch der Semiotik, S. 462) immer schon in Blick.

Der Ertrag, der sich aus der semiotischen Analyse des Theaters ergibt, erschließt sich nicht allein aus dem diesbezüglichen Kapitel in Nöths Handbuch. Hier sind auch praktisch alle Kapitel aus dem fünften Teil des Handbuchs einschlägig, der sich mit der nonverbalen Kommunikation befaßt: Körpersprache, Gestik, Kinesik, Mimik und Gesichtsausdruck, Blickkommunikation und mit Einschränkung auch die Kapitel zur taktilen Kommunikation, zur Proxemik, d. i. die Semiotik der räumlichen zwischenmenschlichen Nähe und Distanz.2


Mediensemiotik ohne Fernsehen und Internet

Teil IX des Handbuchs, der der Mediensemiotik gewidmet ist, befaßt sich neben einem Kapitel, das der Klärung des Begriffs 'Medium' und dem Abriß der (wie der Leser nun schon arwöhnt) vielstimmigen und uneinheitlichen semiotischen Zugangsweise dient, mit dem Medium 'Bild', dem Verhältnis von Bild und Text, mit Landkarten, Comics, Photographie, Film und Werbung.

An dieser Reihe fällt auf, daß die zwei Medien, die die aktuelle Debatte dominieren, nicht auftauchen: das Fernsehen und das Internet. Das Internet dürfte ein zu neues Medium sein, als daß sich dazu bereits eine handbuchwürdige Semiotik gebildet haben kann. Für das Fernsehen liegt der Fall gewiß anders. Statt ein Kapitel der Semiotik der Landkarten zu widmen, deren "Existenz bisher im Rahmen der semiotischen Forschung im allgemeinen wenig Beachtung gefunden hat" (S. 487), hätte ich mir ein Kapitel zur Semiotik des Fernsehens gewünscht. Genügend Material hätte Nöth dazu gewiß, hat er doch vor nicht allzu langer Zeit einen Sammelband zur Mediensemiotik herausgegeben, der sich auch mit dem Fernsehen befaßt.3


Knappe Kultursemiotik

Mit einem Umfang von 26 Seiten ist Teil X, der die Kultursemiotik, die Soziosemiotik und interdisziplinäre Erweiterungen darstellt, der kürzeste Teil des Handbuchs. Bis auf das Kapitel zum Alltagsleben, das ausführlicher die vielfältigen Fragestellungen darstellt, die die Semiotik in diesem Bereich untersucht hat, sind die anderen Kapitel zur Kultur, Magie, zu Gegenständen und Artefakten, Waren und Geld, Didaktik und Semiotik sowie die Stichwörter zu weiteren interdisziplinären Bezügen der Semiotik meist ein sehr komprimierter Abriß einiger Hauptforschungslinien und eine Fundstelle für weiterführende Literatur, die allerdings in übersichtlicher Weise gegliedert sind.


Gelungenes Handbuch

Das Handbuch der Semiotik ist jedem zu empfehlen, der sich mit irgendeinem der vielen Themen beschäftigt, die das Handbuch anspricht. Der umfassende Semiotikbegriff, der Nöths Darstellungen durchgehend prägt, wird dem Leser den ganzen Reichtum des Gegenstands erschließen helfen und unter einer einheitlichen Zugriffsweise faßlich werden lassen.



PD Dr. Ulrich Baltzer
Technische Universität Dresden
Institut für Philosophie
D-01062 Dresden

Ins Netz gestellt am 11.10.2000

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Anmerkungen

1 Ch. S. P.: Phänomen und Logik der Zeichen. Hg. und übersetzt von Helmut Pape. Frankfurt/M: Suhrkamp 1983, S. 45-50, hier S. 45.   zurück

2 Ebenfalls im Teil V des Handbuchs wird die Chronemik beschrieben, welche in Analogie zur Proxemik die Semiotik zeitlicher Kodes untersucht. Vergleicht man die erste mit der zweiten Auflage des Handbuchs, so bemerkt man, daß sich an dem rudimentär entwickelten Status der Chronemik bislang nichts geändert hat; in ein Handbuch gehört sie immer noch nicht.    zurück

3 Vgl. Winfried Nöth (Hg.): Semiotics of the Media. State of the Art, Projects, and Perspectives. Berlin: Mouton de Gruyter 1997. Bis auf die Kapitel zu den Medien, den Landkarten und der Text-Bild-Relation, die in der ersten Auflage des Handbuchs fehlen, finden sich die anderen, nun unter dem Titel "Mediensemiotik" versammelten Kapitel in der ersten Auflage unter "Ästhetik". Daß kein Kapitel "Fernsehen" zu finden ist, erklärt sich vielleicht aus dieser Herkunftsgeschichte.    zurück