Bartels über Simpson: Psycho Paths

IASLonline


Klaus Bartels

Serienmörder als Fabelwesen.
Philip L. Simpsons Versuch
über "American Gothic"

  • Philip L. Simpson: Psycho Paths. Tracking the Serial Killer Through Contemporary American Film and Fiction. Carbondale and Edwardsville: Southern Illinois University Press 2000. 265 S. Kart $ 18,95.
    ISBN 0-8093-2328-X.


Die Helden des Spätwestern, vor allem seiner stilbildenden italienischen Variante, die guten, bösen oder verschlagenen Kopfgeldjäger, lassen sich als Vorformen des Serienkillers interpretieren. Sie legen den Schluß nahe, dass es im Western letztlich immer nur um serial killing ging, weshalb das serial killer subgenre den Western ersetzen konnte. 1 Simpson subsumiert das serial killer subgenre unter die body genres (Horror, Splatter, Pulp), daher der Begriff subgenre (S.13), und es stellt sich die Frage, ob nicht auch der auf den Körper und körperliche Gewalt spezialisierte Western nur eine Spielart dieser body genres ist.

Der Unterschied zwischen dem in den 1970er und 80er Jahren entwickelten serial killer subgenre und dem Western besteht in der größeren Variationsbreite der Rollen. An die Stelle von Cowboys, Ranchern, Indianern und Banditen treten nunmehr Herr und Frau >Jedermann<. Simpson nennt zwar fünf Serienkiller-Typen, den Künstler, den religiösen Schwärmer, den hyperintelligenten Spieler, den Heroen und den "punisher", den dämonischen Bestrafer (S.22–25). Die Typisierung kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei der Figur des Serienkillers um eine genreübergreifende phantastische >Konfabulation< handelt, bestehend aus

Gothic / romantic villain, literary vampire and werewolf, detective and "pulp" fiction conceits, film noir outsider, frontier outlaw, folkloric threatening figure, and nineteenth-century pseudosociological conceptions of criminal types given contemporary plausibility. (S.15)

Seriöse soziologische oder journalistische Analysen, Berichte und Artikel über wirkliche Serienmörder hingegen seien an diesem Konstrukt nicht beteiligt. Ihr Gegenstand habe mit den Fabelwesen aus Serienmörder-Fiktionen nichts zu tun.

>Wirkliche< und >fiktive< Serienmörder

Diese für Simpsons Buch zentrale Unterscheidung zwischen wirklichen und fiktiven Serienmördern, zwischen Realität und Fiktion, überrascht aus mehreren Gründen:

  1. spricht Simpson selbst von der "cross-fertilization between true-life murder accounts and fictional representation" (S.31), geht also im Gegensatz zu seiner Behauptung von einer gegenseitigen Beeinflussung >wahrer< und fiktiver Falldarstellungen aus.

  2. attestiert er den analysierten Geschichten und Filmen eine destabilisierende Auflösung des Gegensatzes von Realität und Fiktion (S. 78). In dieser Hinsicht sind die fiktiven Serial Killers in der Tat praktizierende "affirmative postmodernists" (S.17), geht es in der Postmoderne doch um den Tod des Realen, so der gelegentlich von Simpson zitierte Jean Baudrillard, oder wenigstens um die Verwischung der Grenzen zwischen dem Realen und dem Fiktiven (S.XIV f.). Wenn man sich auf solche Postmoderne-Theorien einläßt, ist es relativ sinnlos, Realität und Fiktion voneinander zu unterscheiden.

  3. belegt der von Simpson leider nur am Rande behandelte Fall des Henry Lee Lucas (S.137), der Anfang der 1980er Jahre über sechshundert von ihm (bis auf vermutlich drei) gar nicht begangene Morde gestand, dass Serientäter nicht selten gewiefte Erzähler sind und mit ihren Narrationen die Wirklichkeit ebenso beeinflussen wie mit ihren Taten. Lucas' >Geständnisse< verwischten die Unterschiede zwischen Realität und Fiktion. Opferangehörige, die aufgrund zahlreicher Widersprüche seine Darstellungen anfochten, mußten in seltsamer Verkehrung der bürgerlichen Pflichten und Rechte den Behörden die Nichttäterschaft ihres >Singvogels< beweisen und der Wirklichkeit gegen die Fiktion zu ihrem Recht verhelfen. 2

Die Lektüren des FBI

Auch FBI-Profiler sehen in multiplen Mördern die Instanz eines Erzählers. Die legendären Begründer des Profiling – John Douglas, Roy Hazelwood oder Robert Ressler – beschreiben rückblickend ihre Arbeit übereinstimmend als Arbeit an einem Text, den der Täter hinterlassen hat und den seine Verfolger zu lesen und zu interpretieren haben. Der Tathergang und der Tatort werden als Momente einer Täter-Erzählung aufgefaßt. Douglas unterscheidet zwischen dem modus operandi und der Handschrift bei der Tatausführung, um das angelernte Verhalten des Täters abzugrenzen von seinem ganz persönlichen unverwechselbaren >künstlerischen< Stil, in dem er die von ihm gesetzten Zwecke artikulieren muß. Aus der Perspektive des FBI ist Täterautorschaft dementsprechend kein dem serial killer subgenre vorbehaltenes Motiv, wie Simpson behauptet.

Durch ihre Textarbeit werden die Profiler ihrerseits zu Autoren. (Nach-) Erzähltalent qualifiziert sie in ihrem Beruf. 3 Insofern steht das Profiling, hier ist Simpson zuzustimmen, in der literarischen Tradition der Detektivgeschichte (S.79). Auf die im Rahmen der Polizeiarbeit generierten Geschichten wiederum läßt sich der Serientäter ein, entweder in der Art und Weise seines Vorgehens bei Tötungen, indem er von Erzählstereotypen abweicht beziehungsweise typische Polizeigeschichten inszeniert, um die eigentliche zu verdecken, oder aber, nach seiner Ergreifung, durch polizei-kompatible >Geständnisse<. Henry Lee Lucas wußte, was man von ihm wollte, daher waren seine Erzählungen so außerordentlich erfolgreich. Simpsons Unterscheidung zwischen wirklichen und fiktiven Serienmördern ist künstlich. Sowohl in der Literatur als auch in der >Realität< bilden Serienkiller und Profiler eine unauflösliche, sich gegenseitig anregende Autor-Leser-Gemeinschaft. Das Konstrukt >Serial Killer< ist eine Konfabulation sämtlicher gesellschaftlicher Institutionen, einschließlich der Polizei, der Profiler, der Literatur und der Massenmedien.

Simpson arbeitet vier strukturell und thematisch signifikante Merkmale der Konfabulation heraus. Es sind dies

  1. der Neo-Gotizismus,

  2. das Verfahren der Detektion

  3. die Herstellung des >Psycho<-Profils und

  4. die Mytho-Apokalyptik (S.25).

Neo-Gotizismus

Die Analyse des Neo-Gotizismus im ersten Kapitel ("The Gothic Legacy and Serial Murder", S.26–69) bildet die theoretische Grundlage des Buches. 4 Simpsons Begriff zielt nicht auf jene Tradition der schönen Unregelmäßigkeit, des Pittoresken in der Architektur, die Horace Walpoles Landsitz "Strawberry Hill" auszeichnete und Vorbild war für das Schloß in seinem Schauerroman "The Castle of Otranto" (1764 / 65), dem Muster aller gothic novels. Diese Art von architekturalem Gotizismus brachte 1998 Mark Seltzer unter dem Begriff des "American Gothic" mit Serienmord in Verbindung. 5 Als gotizistisches "murder castle" beschreibt Seltzer das von Herman Webster Mudgett in den 1890er Jahren in Chicago errichtete Gebäude, in dem dieser unter dem Namen H. H. Holmes vermutlich mehr als zweihundert Menschen umbrachte.

Mit "Gothic" kennzeichnet Simpson – dem weniger elaborierten Sprachgebrauch im anglo-amerikanischen Kulturbereich folgend – das >Barbarische< schlechthin, klaustrophobische Orte, unheimliche Landschaften, die finsterste >mittelalterliche< antizivilisatorische Exotik, vermischt mit folkloristischen Vampir- und Werwolf-Mythen. Er macht in der während des 18. Jahrhunderts in Europa entstandenen gotischen Literatur aber auch eine philosophische Spannung aus zwischen der modernen (>romantischen<) Annahme, der Mensch sei von Natur aus gut, und der älteren, mittelalterlichen, er sei von Grund auf verderbt, was die gotischen Schurken bezeugen. Die in der europäischen Literatur entwickelten gotizistischen Formeln seien im Paket mit der europäischen Romantik durch die Vermittlung Walter Scotts in die Neue Welt tradiert und von Autoren wie zum Beispiel James Fenimore Cooper dem amerikanischen frontier-Mythos angepasst worden.

Die wohl wichtigste Veränderung betraf die Umwandlung der philosophischen Spannung zwischen (angeboren) gut und böse in einen soziologischen Konflikt von Familialität und A-Familialität, von reifer und prä-adoleszenter Sexualität. Unter Rekurs auf Leslie Fiedlers "Love and Death in the American Novel" (1960) und einen Aufsatz von Nina Baym ("Melodramas of Beset Manhood", 1981) behauptet Simpson, dass die "frontier heroes" vor der als weibliche Bedrohung empfundenen Zivilisation in die Wildnis fliehen, um dort kompensatorisch die >Weiblichkeit< der Natur zu unterwerfen. Sie setzten sich nicht dem Stress (>guter<) Sexualität aus, dokumentiert durch die Gründung einer bürgerlichen, sozial integrierten Familie, sondern frönten in unkultivierter Natur einer (perversen) infantilen Sexualität (und werden damit zu einer Gefahr für Orthosexualität und Norm-Familie). Da >Wildnis< bei den frontier-Autoren ein vor jeder Realität liegendes, abstraktes und erfahrungsresistentes phantasmatisches Konzept beinhalte, nehme in frontier-Romanen die (weibliche) Natur zunehmend bizarre und gotizistische Züge an, und deren Bewohner, unreife, zölibatäre, misogyne >frontier heroes< verwandelten sich in gotische Schurken und Mehrfachmörder, in Werwölfe, Vampire und andere Monster.

Die der >Gotik< implizite Festlegung des (>reifen<) Mannes auf seine Rolle als Erzeuger, Ernährer und Beschützer seiner Familie entspringt nach Simpson dem paternalistischen, konservativen bis reaktionären Gesellschaftskonzept der frontier-Autoren. Zeugen, Ernähren und Beschützen sind, so der Kriminologe Joachim Kersten, Funktionen "hegemonialer", das heißt dominierender und allgemein akzeptierter Maskulinität in den meisten westlichen Gesellschaften. Werden diese Funktionen von fremden Personen usurpiert, eröffne sich das Feld der Kriminalität als Gegenüber von Männlichkeitsfunktionen: Der Sexualtäter bedrohe die Erzeugerfunktion, der Dieb die Versorgerfunktion und der Gewalttäter die Beschützerfunktion des Familienpatriarchen. 6

Simpson misst das mörderische Personal des serial killer subgenres ausnahmslos an diesem von ihm selbst als paternalistisch kritisierten Maßstab. Andere Männlichkeiten als der zwanzig- bis vierzigjährige, weiße, heterosexuelle, sexuell gestörte Amerikaner, das kriminelle Gegenbild hegemonialer Maskulinität, werden nicht erörtert. Medienprodukte, die abweichende Männlichkeitskonzepte durchspielen, zum Beispiel Peter Ackroyds Roman über einen transsexuellen Serienkiller mit dem Titel "Dan Leno and the Limehouse Golem" (1995), 7 zählt Simpson nicht zum Kanon des serial killer subgenres. Ackroyds Mörder(in) hat außerdem das Pech, in Europa erschienen zu sein. Europäische Serienmörder nämlich behandelt Simpson nur, wenn sie in amerikanischen Medienprodukten eine Rolle spielen. Auf entsprechende Kritik an seiner Quellenauswahl hat Simpson mit der Ankündigung eines Fortsetzungsbandes geantwortet. 8

Im postmodernen serial killer subgenre schließlich fungiere die abstrakte gotizistische Landschaft als "mental landscape", durch die der Schurke gejagt werde, bis die Hörner abgelaufen sind (Hegel) und sich die Einsicht einstellt, dass auch noch die freieste Wahl der Handlungen sich als bedingt und (von bösen Mächten) determiniert herausstellt. In dieser Hinsicht enthalte das serial killer subgenre Züge des Erziehungs- und Bildungsromans. Insgesamt weise der postmoderne Neo-Gotizismus drei wesentliche Merkmale auf: Er ist >metafiktional< (statt realistisch). In ihm treibt ein gotischer, von metaphysischen Kräften getriebener Schurke sein Unwesen. Und es geht um (von Simpson aus der Perspektive hegemonialer Maskulinität behandelte) Gender-Fragen.

In Simpsons "American Gothic" aber verschmelzen nicht nur die europäischen gothic novels, die amerikanischen frontier romances und der Western zu einem neuartigen Genre. Hinzu komme außerdem das aus der europäischen Romantik bekannte Doppelgängermotiv. Am Beispiel von Paul Wests Roman "The Women of Whitechapel and Jack the Ripper" (1991) und Gery Fleders Film "Kiss the Girls" (1997) kann Simpson die Vervielfältigung dieses Motivs im serial killer subgenre verdeutlichen. Während sich in Fleders Film der Täter aufspalte in zwei Personen ("The Gentleman Caller" und "Casanova"), beschreibe West einen dreifachen Ripper, bestehend aus den in der >Wer-war-der-Ripper-Diskussion< am häufigsten genannten Verdächtigen, dem Arzt William Gull, dem Kutscher John Netley und dem neoimpressionistischen Maler Walter Sickert. Jack the Ripper ist nach Simpson ein auf unendlicher Teilung beruhendes "Simulacrum":

There is no literal Ripper, but rather a series of men who directly or indirectly commit murders attributed to a single man. It could be argued that the actions of all the male protagonists of the novel collectively form the Ripper simulacrum. (S.51)

Mit dem Ripper-Simulacrum gehe das Doppelgängerprinzip in die Serie über. Daher ist nach Simpson Jack the Ripper der erste Serienmörder.

Das Verfahren der Detektion und
die Herstellung des "Psycho"-Profils

Kapitel zwei und drei befassen sich mit dem Einfluß der Romane Thomas Harris' auf den Mythos des Profiling und mit dem Nachweis, dass die >Psycho<-Profile des FBI als relativ eigenständige literarische Textsorte dem Erzählmuster der klassischen Detektivgeschichte nachgebildet sind. Vom Mythos des Profiling zehren im übrigen auch deutsche Kriminalisten. Ein BKA-Beamter posierte jüngst wie Jodie Foster zu Beginn von "Das Schweigen der Lämmer" joggend vor der Kamera. 9 Romanautoren des serial killer subgenres verfallen nicht selten der Faszination dieses Mythos. Ein krasses Beispiel liefert Patricia Cornwell, deren Roman "From Potter's Field" (1995) Simpson als eine der wenigen weiblichen Stimmen in diesem ansonsten von männlichen Autoren bevorzugten literarischen Genre ausführlich würdigt. Cornwell gab bisher gut vier Millionen Dollar aus, um gewissermaßen als ultimative Profilerin nachzuweisen, dass der schon erwähnte Neo-Impressionist Walter Sickert mit Jack the Ripper identisch ist. 10 Während sich Cornwell jedoch in ihren Romanen noch einigermaßen kritisch gibt, kann Simpson stellvertretend an zwei Medienprodukten, der Kabel-TV-Produktion "Citizen X" (1995) und Caleb Carrs Bestseller "The Alienist" (1994), die allamerikanische, unkritische Identifikation mit dem Mythos des Profiling verdeutlichen.

Auch Jonathan Demmes mit fünf Oscars prämierte Verfilmung von Harris' Roman "Das Schweigen der Lämmer" (1988) stelle keine Ausnahme dar. Als ein Produkt identifikatorischer Begeisterung sei der Filmheld Hannibal Lecter schon längst bei den Pop-Dämonen eingebürgert worden. In der ausführlichen Analyse von Harris' "Red Dragon" (1981) und dessen Filmadaption durch Michael Mann ("Manhunter", 1986) macht Simpson auf die ironische Rezeption des Profiling bei Harris aufmerksam: Killer und Profiler stellten eine Variante des Serienkiller-Splitting dar. Sie verhielten sich zueinander wie Doppelgänger. Lediglich seine eigene Killermentalität verschaffe dem Profiler Will Graham Einsicht in die Psyche seines Gegenüber Francis Dolarhyde. Simpsons Interpretation ist abgesichert durch Harris' letzten Roman "Hannibal" (1999), in dem dieser die vom Dienst suspendierte FBI-Agentin Starling ins Lager ihres Doppelgängers, des Kannibalen, überlaufen läßt, was die Verfilmung merkwürdigerweise verschweigt.

Mytho-Apokalyptik

Die nachfolgenden und abschließenden beiden Kapitel behandeln die Entstehung des serial killer subgenres in den 1980er Jahren und seine Entrückung ins Mythisch-Apokalyptische Mitte der 1990er Jahre. Es ist hervorzuheben, dass Simpson die genreprägende Funktion des auf der historischen Figur des Henry Lee Lucas basierenden Films "Henry: Portrait of a Serial Killer" (1986, in die Kinos gekommen 1989) von John McNaughton erkennt. Er stellt fest, dass in diesem Film das zuvor so ausführlich behandelte Profiling nahezu ausfällt. Weit und breit ist kein Profiler zu sehen. Auch keine Polizei, lediglich der überbeschäftigte Bewährungshelfer von Henrys Kumpel Otis. Der einzige Profiler ist der Serienmörder. Henry richtet seine Handlungen (wie Lucas seine Erzählungen) nach den Profil-Stereotypen der Polizei. Er erklärt Otis den Unterschied zwischen dem modus operandi und der Handschrift eines Killers. Alles dies weiß er nicht aus Büchern, denn er kann nicht lesen, sondern aus dem Knast und aus dem Fernsehen. In den Jahren 1983 – 1985 beherrschte, ausgelöst durch Lucas' Geständnisse, eine unvorstellbare Serienmörder-Panik die Vereinigten Staaten, skandalisiert und angeheizt durch die Massenmedien. 11 Infolge der massenmedialen Dauerberieselung schossen Amateur-Profiling-Experten einschließlich potentieller Gewalttäter vom Schlage Henrys wie Pilze aus dem Boden. Von diesem allgemeinen öffentlichen und kontraproduktiven Profiling setzt sich McNaughtons "Portrait of a Serial Killer", dies ignoriert Simpson, programmatisch ab.

Exkurs: Porträt statt >Psycho<-Profil

Dass es John McNaughton in seinem Film nicht um ein psychologisches Profil des Protagonisten ging, sondern um ein Porträt, dokumentiert sein Auftrag an den Maler und Zeichner Joe Coleman, das Plakat für den Film zu malen. Coleman, ein Liebhaber mittelalterlicher Zeichentechniken, beeinflußt vom >Höllen<-Breughel und den deutschen Lustmordmalern Otto Dix und George Grosz, wählte als Motiv Henrys Blick in den Spiegel eines Motel-Badezimmers, kurz bevor er seine Komplizin Becky als unerwünschte Zeugin umbringen und in ihrem Koffer am Straßenrand abstellen wird, nachdem sie zuvor gemeinsam deren Bruder Otis in Notwehr erstochen, zerstückelt und beseitigt haben.

Henrys Spiegelbild ist zweifach gerahmt, vom Rahmen des Spiegels sowie von Aussagen, die teils aus den Geständnissen von Henry Lee Lucas ("MY MOTHER WAS A WHORE! SHE BEAT ME AND MADE ME WATCH!") teils aus dem Munde des Film-Henry stammen ("IT'S ALWAYS THE SAME AND IT'S ALWAYS DIFFERENT") und die wie mittelalterliche Spruchbänder (oder Sprechblasen, Coleman ist Comic-Zeichner) an Körperteile, Köpfe und eigentümliche, mit Marter- und Mordwerkzeugen bewaffnete, mittelalterlichen Quälgeistern nachempfundene Wesen geheftet sind. Da dieser zweite Rahmen Henrys Spiegelbild wie eine Gloriole zu umschweben scheint, ist es nicht verwunderlich, dass dieses Plakat verboten wurde. 12 Es nimmt die Mitte der 1990er Jahre zum Antichrist entrückte Figur des Serienmörders vorweg. Colemans Komposition gibt aber auch zu verstehen, dass es sich bei Henry um eine diskursive Formation handelt.

Porträtiert wird nicht nur der Täter, sondern auch der Tatort: Chicago, die Hauptstadt des "American Gothic". Ausdrücklich erscheint der Name der Stadt auf einem von Becky nach ihrer Ankunft gekauften T-Shirt. Hier wurde die industrielle Serienschlachtung erfunden. Im Zusammenhang mit der Columbian Exhibition (1894) entstand Holmes' als Touristenfalle geplantes Mörderschloß. Nicht zuletzt erlebte "Buffalo Bill's Wild West" – Show aus Anlaß der Ausstellung ihre Uraufführung, ein Programm, das amerikanische Geschichte "as the history of repetitive and compulsive violence" serialisierte. 13 Henrys "wilding" 14 mit seinem Auto durch die Straßen von Chicago spielt sich zwischen diesen beiden Fronten eines mythischen, heroischen, von Gewalt angefüllten Raumes und eines technologisch weit von den antiquierten Schlachthöfen zum postmodernen "McDonald's Massacre" 15 enteilten Amerika ab: Als Otis gemeinsam mit Henry zum ersten Mal in seinem Leben aus freien Stücken zwei Prostituierte umgebracht hat und emotional >durchhängt<, bessert sich sein Zustand erst nach dem Verzehr einer Fast-Food-Mahlzeit.

Auch in Bret Easton Ellis' Roman "American Psycho" (1991), einem weiteren von Simpson angeführten Baustein des postmodernen Serienkiller-Mythos, geht es um ein Selbstporträt, bzw. um die Unfähigkeit des Romanhelden Patrick Bateman, ein Selbstbild zu entwerfen. Simpson zitiert zwar das von Bateman beschriebene Depersonalisierungssyndrom, das es ihm lediglich erlaubt, Realität zu imitieren (S.151), aber das bleibt eine isolierte Beobachtung. Ihm entgeht Batemans Versuch, Persönlichkeit durch Imitation von Pop-Rezensionen und Serienmord-Diskursen zu bewerkstelligen und sichtbar zu machen. Jede seiner ausufernden Musik-Rezensionen thematisiert den Eintritt der Pop-Stars ins Erwachsenenalter, der ihm selbst offenkundig verwehrt ist.

Die Serienmord-Diskurse liefern das Skript für die Beschreibung seiner Entpersönlichung, die er als ebenso monströs erlebt wie eine Existenz als Serienmörder. Dabei ist nicht einmal auszuschließen, dass Bateman die im Roman geschilderten Morde gar nicht begangen (S.154), sondern, wie seine Musikrezensionen, nur auf Papier phantasiert hat. In ihrem von Simpson im Kontext von "Henry" und "American Psycho" behandelten Roman "Zombie" (1995), einer literarischen Verarbeitung des Dahmer-Falles, beschreibt Joyce Carol Oates das vergleichbare Kindheitstrauma ihres Helden Quentin, unter dem (wirklichen oder eingebildeten) Blick des Vaters zwanghaft ein infantiles Verhaltensmuster wiederholen zu müssen.

Alle drei Medienprodukte zeichnen das Porträt einer durch Konsumismus, Pop und Luxus infantilisierten Generation. Keins aber erstellt ein >Psycho<-Profil der in ihnen agierenden Serienmörder. Der Verzicht auf den wohlfeilen Profiler-Mythos unterscheidet diese Produkte von den zahllosen uninspirierten Serienmordgeschichten Mitte der 1990er Jahre.

Mythische Entrückung und Neoprimitivismus

Die Entwicklung des serial killer subgenres in den 1990er Jahren sieht Simpson durch zwei voneinander nicht isolierbare Tendenzen bestimmt, durch mythische Entrückung des Serial Killers und des Profilers sowie durch Revitalisierung magischer Praktiken (Neoprimitivismus). Während beispielsweise in "Henry" der Ort der Handlung noch eindeutig als "Chicago" identifiziert wird, entrückt David Fincher in "Seven" (1995) nach Simpson den namenlosen Schauplatz ins Mythische. Vor apokalyptischer Kulisse zelebriere ein hyperintelligenter, dämonischer Serienkiller, John Doe, der postmoderne Antichrist, das Jüngste Gericht als Kunstwerk. Dominic Senas "Kalifornia" (1993), eine Art Road-Movie mit Serienmörder-Beteiligung, überhöhe die Reise der vier Protagonisten nach Kalifornien zu einer Fahrt auf dem "Highway to Heaven" (S.185 ff.). Eine ähnlich entrückende Funktion habe in Oliver Stones "Natural Born Killers" (1994), dem dritten von Simpson exemplarisch für die Hollywood-Produktion der 90er Jahre analysierten Serial Killer-Film, die Begegnung der Protagonisten mit einem Indianer in der Wüste.

Diese Begegnung konfrontiert den Zuschauer mit der zweiten Entwicklungstendenz im serial killer subgenre der 90er Jahre, mit der Revitalisierung magischer Praktiken im Dienste eines postmodernen Neoprimitivismus: Der indianische Seher beschwöre in seinem Besucher, dem Serienmörder Mickey Knox, den lang erwarteten "demon of apocalypse" (S.181), und Mickey versuche, den (hypermaskulinen) Dämon in sich mit roher Gewalt (gegen andere) zu bekämpfen. Etwas differenzierter behandelt Simpson das Problem des Primitivismus in Zusammenhang mit Early Grayce, dem Serienkiller aus "Kalifornia", als einen semiotischen Defekt. Im Unterschied zum sprachgewandten Hannibal Lecter etwa oder seinem Gegenpol (S.194), dem >Autor< John Doe (zu erinnern ist an dessen zahlreiche handschriftliche, selbst gebundene Konvolute), stehe Grayce komplexen linguistischen Strukturen hilflos gegenüber und führe eine überwiegend auf Essen, Biertrinken und Impuls-Tötungen beschränkte "preverbal existence" (S.189). Trotz dieser linguistischen Differenzierung steht Simpsons Konzept des Neoprimitivismus in gefährlicher Nähe zu der ihm wahrscheinlich nicht bekannten Atavismus-Theorie Cesare Lombrosos aus dem 19. Jahrhundert, die Kriminalität aus dem Rückfall des Verbrechers auf eine frühere >primitive< Stufe der Evolution des Menschen erklärt.

Die Erstellung eines Kanons

Simpsons Buch endet mit einer äußerst gedrängten Zusammenfassung der Ergebnisse und einem sehr kurzen Blick auf parodistische Versionen des serial killer subgenres. Obwohl solche Parodien oft auf die Überlebtheit des Parodierten hindeuten, stellt sich Simpson die Frage nach der Anschlußfähigkeit dieses Genres im 21. Jahrhundert überhaupt nicht. Das ist umso erstaunlicher, als einer der Begründer des Serienmord-Mythos Bret Easton Ellis in seinem 1998 erschienenen Roman "Glamorama" unter dem Eindruck des Oklahoma-Attentats und der Festnahme des "Unaboms" Theodore Kaczynski Mitte der 1990er Jahre das allamerikanische Serienmord-Trauma auf das Terror-Trauma umpolte. In Thomas Harris' "Hannibal" (1999) zeigen sich ebenfalls Auflösungstendenzen des Genres, die Simpson in Kenntnis des Romans nicht weiter thematisiert.

Gleichwohl ist anzuerkennen, dass in "Psycho Paths" erstmals, wenn auch nach nicht immer durchsichtigen Kriterien, ein Kanon aus einschlägigen Filmen und Romanen erstellt wurde, der eine Genre-Diskussion überhaupt erst ermöglicht. Nützlich für eine solche Diskussion sind außer den Reflexionen über "American Gothic" vor allem die ausführlichen, freilich mitunter eher in die Breite als in die Tiefe gehenden Analysen des vorgelegten Materials. Vor- und Nachteile gegeneinander abgewogen, ist dem Buch Simpsons eine lebhafte Rezeption zu wünschen.


Prof. Dr. Klaus Bartels
Universität Hamburg
Institut für Germanistik II
Von-Melle-Park 6
D-20146 Hamburg

Ins Netz gestellt am 12.03.2002
IASLonline

Copyright © by the author. All rights reserved.
This work may be copied for non-profit educational use if proper credit is given to the author and IASLonline.
For other permission, please contact IASLonline.

Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Joachim Linder. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.


Weitere Rezensionen stehen auf der Liste neuer Rezensionen und geordnet nach

zur Verfügung.

Möchten Sie zu dieser Rezension Stellung nehmen? Oder selbst für IASLonline rezensieren? Bitte informieren Sie sich hier!


[ Home | Anfang | zurück ]



Anmerkungen

1 Vgl. Mark Seltzer: Serial Killers. Death and Life in America's Wound Culture. New York and London: Routledge 1998, p.1: "Serial murder and its representations [...] have by now largely replaced the Western as the most popular genre-fiction of the body and of bodily violence in our culture. And recent splatterpunk Westerns [...] make the case that the Western was really about serial killing all along".   zurück

2 Vgl. Ron Rosenbaum: Dead Reckoning. In: Vanity Fair, September 1990, p.190–197; 274–285. Die diesen Fall betreffenden Passagen befinden sich p.278.   zurück

3 Vgl. John Douglas und Mark Olshaker: Die Seele des Mörders. 25 Jahre in der FBI-Spezialeinheit für Serienverbrechen. Aus dem Amerikanischen von Jörn Ingwersen. Hamburg: SPIEGEL-Buchverlag 1996, S.42: "Detectives und Tatortspezialisten müssen ein ganzes Bündel unvereinbarer und scheinbar unzusammenhängender Hinweise nehmen und aus diesen eine schlüssige Geschichte formen, so dass das Talent zum Fabulieren wichtig ist, besonders bei Ermittlungen in Mordfällen, da das Opfer seine Geschichte nicht mehr selbst erzählen kann".   zurück

4 Dieses umfangreiche Kapitel ist von der Kritik einhellig gelobt worden. Vgl. Steven Jay Schneiders Besprechung, in: Intensities. the journal of cult media. Issue 1, Spring / Summer 2001. http://www.cult-media.com/issue1/Rschne.htm (03.01.2002), p.1: "Among the book's many strengths is a rigorous inquiry into the Gothic roots of the serial killer genre (Chapter One), especially helpful considering how loosely the term >Gothic< gets used in academic, not to mention pop-cultural, circles". Positiv in diesem Punkt auch Karen Beckmans Rezension, in: Journal of Criminal Justice and Popular Culture (JCJPC) 8,1 (2001), p.61–65. http://www.albany.edu/scj/jcjpc/vol8is1/beckman.html (01.03.2001), p.1: "The [...] strongest chapter [...]".   zurück

5 Vgl. Mark Seltzer (Anm. 1), p.201–232.   zurück

6 Vgl. Joachim Kersten: Gut und (Ge)schlecht. Männlichkeit, Kultur und Kriminalität. Berlin und New York: de Gruyter 1997, S.54.   zurück

7 Vgl. Peter Ackroyd: Dan Leno and the Limehouse Golem. London: Minerva 1995.   zurück

8 Vgl. Philip L. Simpson's response to Steven Schneider's review of Psycho Paths, in: Intensities. the journal of cult media. Issue 1, Spring / Summer 2001. http://www.cult-media.com/issue1/RSsimp.htm (03.01.2002).   zurück

9 So geschehen in einer Sendung des ZDF vom 25. Januar 2000 mit dem Titel "In der Haut des Killers". Die Sendung eröffnete mit einem BKA-Profiler-Jogger.   zurück

10 Vgl. Stalking Jack the Ripper http://abcnews.go.com/sections/primetime/DailyNews/pt_ripper_011206.html (21.12.2001).   zurück

11 Vgl. Philip Jenkins: Myth and Murder. The Serial Killer Panic of 1983–5. In: Criminal Justice Research Bulletin 3.11 (1988), p.1–7.   zurück

12 Das Plakat ist abgebildet in Adam Parfrey and Pat Moriarity (Ed.): Cosmic Retribution. The Infernal Art of Joe Coleman. Seattle & Portland: Fantagraphics Books, Inc. and Feral House. Second Edition 1994, p.122.   zurück

13 Mark Seltzer (Anm. 1), p.238.   zurück

14 Philip L. Simpson, p.135: "Wilding is defined as brutal, apparently motiveless attacks committed by malefactors on luckless strangers".    zurück

15 Mark Seltzer (Anm. 1), p.21: "Mass murder in America has had two popular sites: the fast-food system (The McDonald's Massacre) and the postal system (Going Postal)."   zurück