Bartels über Cornwell: Wer war Jack the Ripper?

IASLonline


Klaus Bartels

Über Kunst, mit den Augen der Polizei betrachtet.
Patricia Cornwells Wahnsystem "Sickert"

  • Patricia Cornwell: Wer war Jack the Ripper? Porträt eines Killers. Aus dem Amerikanischen von Hainer Kober. Hamburg: Hoffmann und Campe 2002. 414 S. Geb., 40 Seiten Bildteil. EUR (D) 22,90.
    ISBN 3-455-09365-5.


Will man den Künstler verstehen, muß man sich sein Werk ansehen. Das sage ich meinen Leuten immer. Man kann Picasso nicht verstehen oder würdigen, ohne seine Bilder zu betrachten. Die erfolgreichen Serienmörder planen ihr Werk so sorgsam wie ein Maler ein Gemälde. Sie betrachten das, was sie tun, als ihre "Kunst" und verfeinern sie im Laufe der Zeit. (Ex-FBI-Profiler John Douglas 1)

Revisionistinnen

Zwei vermögende Amerikanerinnen eint augenscheinlich ein Hobby, für das sie eine Unmenge Geld auszugeben bereit sind. Sie haben es sich zum Ziel gesetzt, die Kunstgeschichte zu revidieren. Die New Yorker Bildhauerin und Amateurforscherin Rhonda Roland Shearer heuerte mehrere junge Kunsthistoriker, Informatiker, Wissenschaftler, Modellbauer und Grafikdesigner an, um mit neuesten Methoden nachzuweisen, daß es sich bei Marcel Duchamps als "Fontaine (Fountain)" auf der New Yorker Kunstausstellung 1917 zum Kunstwerk erhobenen Urinoir und anderen Ready Mades (Flaschenspüler, Fahrrad-Rad) um manipulierte Objekte handelt und nicht um seriell hergestellte Massenprodukte wie von Duchamp behauptet.

Die Krimiautorin und Amateurdetektivin Patricia Cornwell bemüht sich seit Mai 2000 mit einer ähnlich ausgestatteten Crew, zuzüglich einiger Gen-Experten, Gerichtsmediziner und Papiersachverständiger, um den Nachweis, daß der deutschstämmige englische Maler Walter Richard Sickert Jack the Ripper ist. Dieser Verdacht kursiert schon seit Jahrzehnten, ausgelöst durch dunkle Andeutungen Sickerts. Cornwell glaubt, ihn mit forensischem High Tech bewiesen zu haben. Angeblich – dies teilt sie allerdings in ihrem Buch nicht mit, aber so wird es in den Medien kolportiert – soll sie sogar ein oder mehrere Sickert-Bilder zerschlitzt haben, um entweder einen genetischen Fingerabdruck des Malers zu sichern oder aber auf Spuren seiner Opfer zu stoßen (als habe er seinen >Pinsel< in deren Blut und Sekrete getunkt).

In beiden Fällen haben wir es mit einem schwerwiegenden Vorwurf zu tun: Die modernen Künstler sind Kriminelle. Duchamps >Vergehen< (Fälschung von Massenprodukten, Verlogenheit) freilich sind ungleich milder zu bewerten als Sickerts. Aber auch Duchamps letztes, in den Jahren von 1946 bis 1966 entstandenes komplexes plastisches Tableau "Étant donnés" präsentiert eine >Mords-Skulptur<, den enthaupteten und zerstückelten Torso einer weiblichen Puppe. In der linken Hand hält die Phantom-Leiche ein (>ewiges<) Gasglühlicht, das die Szenerie beleuchtet. (Der historische Schlitzer entnahm einigen Opfern im Schein einer funzligen Blendlaterne äußerst geschickt die Gebärmutter.) Obwohl Duchamps Tableau Sickerts inkriminierte Gemälde an Drastik weit übertrifft, ist noch niemand auf die Idee gekommen, dieses Kunstprodukt für die gerichtsverwertbare Spur eines Verbrechens zu halten.

Für Cornwell hingegen sind die Werke Sickerts Protokolle eines wachsenden Mordtriebs, der sich in den Ripper-Morden von Ende August bis Anfang November 1888 entlud. Ahnungsvoll habe Sickert 1887 den Auftritt der Sängerin Ada Lundberg in der Marylebone Music Hall wie eine Mordszene gemalt: "Eigentlich singt sie, aber es sieht aus, als ob sie schreit, während die Männer sie gierig und bedrohlich anstarren" (S. 21). Gut zwanzig Jahre später (auch Duchamp war im übrigen ein mit Verspätung kalkulierender Stratege, "dessen Werke für die eigene Zeit ohne Belang gewesen sind" 2 ) hat Sickert – so Cornwell – die Morde "im geisterhaften Schein einer Blendlaterne" (S. 119) nachträglich festgehalten. Die Ermordung der Prostituierten Emily Dimmock 1907 im Londoner Ortsteil Camden Town sei der Anstoß gewesen, die erbeuteten Ripper-Trophäen in Gemälden wie dem "Camden Town Murder" (1908) auszustellen.

Ein fragwürdiges Indiz

Da Sickert nach Cornwell nur das malte, was er sah, und einige der von ihm gemalten Frauen eine vage Ähnlichkeit mit den polizeilichen Tatort- und Leichenschauhaus-Fotos von Catherine Eddowes 3 und, wie die Leiche im "Camden Town Murder," Mary Kelly aufweisen, müsse er, entsprechend der Autopsie-Doktrin, selbst am Tatort oder im Leichenschauhaus gewesen sein, denn die Fotos seien erst fast ein Jahrhundert später, nämlich 1972 von Daniel Farson, 4 veröffentlicht worden. Dies ist eine völlig unlogische Schlußfolgerung. Warum soll Sickert seine Opfer aus der Perspektive der Polizeikamera gemalt haben, wenn er selbst am Tatort gewesen ist und die Fotos nicht gekannt hat? Logisch wäre es gewesen, nach etwaigen doch schon früher veröffentlichten Fotos zu fahnden.

Tatsächlich war 1899 in Frankreich ein Buch des Psychiaters Alexandre Lacassagne über Joseph Vacher, den französischen Ripper, mit dem Titel "Vacher l'éventreur et les crimes sadiques" erschienen. Es enthielt wohl wirklich erstmals die heute wohlbekannten Polizeifotos von Catherine Eddowes und Mary Kelly. 5 Ob Sickert, der vom Herbst 1898 bis Februar 1905 in Frankreich lebte, ein Exemplar des Buchs besaß oder nicht, seine dunkle Andeutung im Familienkreis und gegenüber der Malerkollegin Florence Pash, er habe Körper von Ripper-Opfern gesehen, 6 klingt glaubhaft. Er kann sie in diesem Buch gesehen haben, vielleicht hat er das Buch gekauft, vielleicht durchgeblättert, vielleicht hat er Skizzen angefertigt. Nichts dergleichen ist auszuschließen, und allein die Existenz dieses Buches bricht ein nicht unwichtiges Glied aus der von Cornwell geknüpften Indizienkette.

Die >wahre< Kunstgeschichte

Es ist nun freilich nicht so, daß Cornwells eigentliche Geschichte durch Gegenbeweise zu erschüttern wäre. Die Versuche der Ripperologen, die Ergebnisse der DNA-Untersuchungen, der Wasserzeichen- und Schriftvergleiche und andere Indizien, zum Beispiel Sickerts angebliche Impotenz, zu widerlegen, anzuzweifeln oder die Validität einer mitochondrialen DNA-Sequenz eines Spenders in einem Ripper-Brief korrekt einzuschätzen (eine Referenz-DNA-Probe gibt es nicht, weil Sickerts Leiche verbrannt wurde), gehen an der Tatsache vorbei, daß Cornwell selbst die Dürftigkeit der Beweislage und die ehrabschneiderische Wirkung ihrer Behauptungen richtig einzuschätzen weiß (vgl. Kapitel 2, "Die Besichtigung", S. 16–24). Wenn die Ziehtochter von Billy Graham und Vertraute von Barbara Bush sich dennoch nicht abhalten läßt, ihre Anklage vorzutragen, so ist dies darin begründet, daß sie in Sickert "eine diabolisch kreative Intelligenz", das "Böse" (S. 21) schlechthin gesichtet hat.

Dieses Böse mästete sich nach Cornwell zunächst an den Kunstfertigkeiten des amerikanischen Malers James Abbott McNeill Whistler, ehe es von diesem abließ und sich unter der Anleitung von Edgar Degas in eine englische Variante des Impressionismus verwandelte. Cornwells Prozeß gegen Sickert ist, in Umkehrung des berühmten Aufsatzes von Thomas De Quincey "Mord als eine schöne Kunst betrachtet" (1827), ein Prozeß gegen die moderne Kunst aus der Perspektive der Polizei. Die Rekonstruktion der speziellen Cornwellschen Kunstgeschichte bringt eine Pointe hervor, die wesentlich überraschender ist als sämtliche forensische Befunde.

Konflikte mit Whistler

Nach Cornwell hat Sickert erstmals Ende August 1888 zum Messer gegriffen, um den Schock auszuagieren, in den ihn die Hochzeit seines Lehrmeisters Whistler mit Beatrice Godwin am 11. August 1888 versetzt habe: "Die zukünftigen ehelichen Freuden des exzentrischen, genialen und egozentrischen James McNeill Whistler müssen auf dessen ehemaligen Laufburschen und Schüler befremdend gewirkt haben" (S. 13). Die inferiore Stellung Sickerts gegenüber Whistler, von der Cornwell ausgeht, die sie aber nicht belegt, drücke sich auch darin aus, daß Sickert zur Hochzeit nicht eingeladen war. Außerordentlich feige habe Sickert schließlich seinen Förderer 1896, ausgerechnet im Todesjahr von Whistlers Ehefrau, im Verlauf einer von dem Maler Joseph Pennell gegen ihn angestrengten Verleumdungsklage (S. 292) verraten (S. 335). Worin genau dieser Verrat bestanden haben soll, wird nicht näher erläutert. Leser und Leserinnen müssen der Autorin glauben, daß es unüberwindbare, ausschließlich im Verhalten Sickerts begründete persönliche und künstlerische Konflikte gegeben hat. 1897 jedenfalls ist die um 1882 mit Whistler begonnene Kooperation beendet. Seit Herbst 1898 lebte Sickert in Frankreich und kehrte erst im Februar 1905 nach London zurück.

Noch länger als die Beziehung zu Whistler währte die Freundschaft Sickerts mit Edgar Degas, nämlich von 1883 bis zu dessen Tod 1917. Die künstlerischen Konflikte zwischen Whistler und Sickert brachte Degas mit einer Briefäußerung auf den Punkt. Er wolle lieber ein Ochse sein, witzelte Degas gegenüber Sickert, als ein Schmetterling, womit er die Manier Whistlers kommentierte, seine Bilder mit einem Schmetterling zu signieren (die Initialen JMW, geschrieben in ein schmetterlingsförmiges Kästchen bzw. Täfelchen). 1898 gründete Whistler mit "The Company of the Butterfly" ein Unternehmen zum Vertrieb seiner Kunstwerke. Wie durch einen Schmetterling, seit der Antike ein Sinnbild der Seele, sollte nach Whistler der Künstler blicken und Sinfonien in Farben malen. 7 Sickerts Bildern hingegen, so Cornwell, fehlen "die eigenwilligen, zarten, träumerischen Elemente" (S. 70), sie sind mathematisch durchkonstruiert. Der bei Whistler erlernten Technik, nach der Natur mit schnellem Pinsel in einer einzigen Sitzung zu malen (>alla prima<), entlockte Sickerts Hand völlig ungewohnte destruktive Qualitäten, "that make some of his subjects faces appear to be mutilated." 8

Den Konflikt zwischen Whistler und Sickert, zwischen traditionellen und modernen Kunstauffassungen, thematisiert René Magrittes Allegorie "La place au soleil" (1956). Dem Wandel künstlerischen Selbstverständnisses entsprechend nimmt der Löwe den Platz an der Sonne vor einem riesigen Schmetterling im Hintergrund ein. 9 Die Produkte der modernen Kunst, etwa die Lustmordmalereien eines Otto Dix oder George Grosz und auch Duchamps "Étant donnés", ähneln eher jenem Gemetzel, das die Pranke eines Löwen anrichtet, als der Anmut eines Schmetterlings. Mittlerweile verschmäht die postmoderne Kunst weder rohes Fleisch noch echtes Blut. Die Kanadierin Jana Sterbak vernähte seit 1987 mehrere Kilo Ochsenfleisch zu modischen Damenkleidern ("Flesh Dresses"). Jenny Holzers 1993 im Magazin der "Süddeutschen Zeitung" veröffentlichter Bilderzyklus "Lustmord" verwendete für den "Blutdruck" auf der Titelseite statt roter Farbe angeblich das Blut bosnischer Frauen. 10

Farbe, Blut, Sekrete

Die Äquivalenz von Farbe und Blut beschäftigte auch die Cornwell-Kommission. Sie entzifferte die bisher für (Tier- oder Menschen-) Blut gehaltenen Spuren und Schriften auf Ripper-Briefen als einen blutähnlichen Ätzgrund, wie er zur Grundierung von Lithographien verwendet wurde. In Verbund mit Untersuchungen von Wasserzeichen und Speichelspuren auf den Klebeflächen von Umschlägen und Briefmarken in der Korrespondenz Sickerts, die Übereinstimmungen mit Wasserzeichen und mitochondrialen DNA-Sequenzen in einem Ripper-Brief (an Dr. Thomas Horrocks Openshaw, S. 195 ff.) aufwiesen, schließt die Analyse der "Blutspuren" die vage Möglichkeit nicht aus, daß Sickert einen oder mehrere Ripper-Briefe verfaßt haben könnte. Das bedeutet selbstverständlich nicht, daß er der Ripper war, sondern nur einer von vielen Ripper-Brief-Fälschern. Cornwell indes hält die Identität von Jack the Ripper mit Sickert für erwiesen, obwohl die in seiner Korrespondenz gefundene mtDNA-Sequenz damals von rund 400 000 Engländern geteilt wurde 11 (und gar nicht sicher ist, ob Sickerts Zunge die Klebeflächen befeuchtet hat). Aufgrund der Nebenbeobachtung, "dass der braune Ätzgrund und Blut miteinander vermischt wurden" (S. 23) verdächtigt sie den Angeklagten unausgesprochen, mit dem Blut seiner weiblichen Opfer gemalt zu haben (woraus schlüssig die kolportierte Cornwellsche Leinwandschlitzerei folgt).

Der Verdacht, Sickert habe mit einer Mixtur aus Frauen-Blut und Farbe gemalt, tauchte erstmals in Paul Wests Roman "The Women of Whitechapel and Jack the Ripper" (1991) auf. Wests Roman-Sickert behandelt Farbe wie Blut und weibliche Sekrete: "He literally mixes the irrepressible and >open< Mary Kelly's sexual secretions into his paints." 12 Aufgrund der Analogie zu weiblichen Körperflüssigkeiten fühlt er sich vom Malen angezogen, "which begins as wetness and then hardens to dryness or semi-dryness." 13 Dies entspricht buchstäblich der im 19. Jahrhundert verbreiteten Auffassung, die Farbe repräsentiere das weibliche Geschlecht der Kunst, die Zeichnung (Form) das männliche. 14 Wurde das (weibliche) Material der Kunst in Whistlers anmutigen Farbsinfonien gewissermaßen gebändigt und in Form gebracht (Whistler entwarf atemberaubende Kleider), diente dessen modifizierte Maltechnik bei seinem Schüler der Befreiung des Materials durch gewalttätige Farbhiebe.

Viele Zeitgenossen sahen in derartigen exzessiven Leinwandschlachten die Werke von Verrückten, Schmierern und Klecksern. Auf sie schien die Formel "Genie und Wahnsinn" gemünzt, die der Kriminalanthropologe Cesare Lombroso 1864 mit seinem Buch "Genia e follia" in den ästhetischen Diskurs einbrachte und die allmählich eine kriminalisierende Funktion übernahm. Seit der Veröffentlichung des ersten Bandes von "Genia e degenerazione" (1894) sprach Lombroso nur noch von "Genie und Degeneration." Der ästhetische Diskurs öffnete sich Vorstellungen über Delinquenz, denn unter Degenerierten verstanden die Kriminologen "für die staatliche Existenz im höchsten Grade Gefährliche." 15

Gefährlich waren diese Personen (Landstreicher, Professionsspieler, sexuell Perverse), weil sie in ihren Handlungen >verrückt< schienen, ohne wahn- oder schwachsinnig zu sein. Der englische Nervenarzt J. C. Pritchard schlug 1835 den Begriff "moral insanity" ("moralischer Irrsinn") für die morbide Verkehrung (Perversion) der >natürlichen< Gefühle in diesen gefährlichen Individuen vor. Die Degenerationstheoretiker indes sahen hier keine moralischen, sondern evolutionäre Defekte walten. Degeneration, so einer der Gründerväter der deutschen Kriminologie, ist "das Widerspiel von Selektion." 16 Diese Vorstellung einer angeborenen und progressiv vererbbaren Perversion ("Entartung") wurde im Verlauf des 20. Jahrhunderts, unter dem Einfluß der Psychoanalyse, durch den Begriff der Psychopathie bzw. Soziopathie substituiert.

Bei Cornwell finden sich nahezu alle Etappen der Begriffsgeschichte, von Pritchards "moralischem Irrsinn" (S. 38), der lombrosianischen (Genie / Degeneration-) Formel bis hin zu Statistiken der Weltgesundheitsorganisation über dissoziale Persönlichkeitsstörungen (S. 39). Cornwells Vermischung ästhetischer, moralischer, biologischer und psychoanalytischer Begriffe bildet das Fundament ihres wahnhaften Sickert-Konstrukts.

Nach ihrer Auffassung war Sickert ein krimineller Psychopath, der sich den Tätertypologien und herkömmlichen Fahndungsmethoden der Ripper-Ermittler entzog und als Gründer der Künstlergruppe "Camden Town Group" (1911) gleichzeitig aktiv für die Verbreitung seiner destruktiven Ideen in der modernen Malerei sorgte, so daß Cornwell zwischen Verbrechen und Kunst nicht mehr unterscheiden will: "1912 schrieb er [Sickert] in einem Artikel für die English Review: >Vergrößerte Fotografien von nackten Leichen sollten in jeder Kunstakademie als Standardvorlagen für Aktzeichnungen zur Verfügung stehen<" (S. 88). Diesen programmatischen Vorgriff auf die von den Nationalsozialisten als "entartete Kunst" diffamierte deutsche Lustmordmalerei zwischen den beiden Weltkriegen (Otto Dix zum Beispiel verwendete fotografische Dokumente über Sexualverbrechen, Rudolf Schlichter einschlägige Abbildungen aus Erich Wulffens 1910 erschienenem Handbuch "Der Sexualverbrecher") bewertet Cornwell als einen späten Nachkömmling der zynischen Ripperbriefe. Sie kann mit europäischer moderner Kunst einfach nichts anfangen.

Das >Wahnsystem Sickert<

Cornwells Wahnsystem beruht auf Spekulationen über Sickerts Männlichkeit. Die Spekulationen betreffen die Größe sowie genetische und chirurgische Deformationen seines Penis. Als sehr zweifelhafte >Quelle< dient die Mitteilung eines Neffen, sein Onkel sei mit einer Fistel im Penis zur Welt gekommen, und die Tatsache, daß Sickert als Kind dreimal an einer Fistel operiert wurde. Aus dem "Loch" im Penis schließt Cornwell ohne Umschweife auf Sickerts ursprünglich ambige Genitalien (S. 78). In einem ausführlichen Kapitel ("Walter und die Jungs", S. 72–88) sinniert sie über den zwittrigen Knaben, dessen Geschlechtszugehörigkeit durch mehrere chirurgische Eingriffe modelliert werden mußte. Die Überlegungen ähneln der Bisexualitätsthese des amerikanischen Psychiaters James G. Kiernan, der in einem Aufsatz "Sexual Perversion, and the Whitechapel Murders" (1888), ausgehend von einer phylogenetisch bedingten Zweigeschlechtlichkeit bei Neugeborenen, sexuelle Perversion als Entwicklungshemmung oder Fehlentwicklung, also als Krankheit und nicht als Degenerationsmerkmal interpretierte. 17

Cornwell hingegen hält Sickert keineswegs für krank, sondern, hinsichtlich seines Gliedes, für verkrüppelt, und das heißt degeneriert: "Der Degenerierte ist aber nicht krank, sondern verkrüppelt und wir können ihn daher ebensowenig bessern, wie wir den Einarmigen zu heilen vermögen." 18 Mit solchen Degenerationstheoretikern zu Beginn des 20. Jahrhunderts teilt Cornwell die Auffassung, Psychopathie sei erblich. Sie trete bei den männlichen Kindern eines Vaters, der an dieser Störung leide, statistisch betrachtet fünfmal so häufig auf wie in der Normalbevölkerung (S. 37). Die Perversionen, die Sickert von seinem Vater geerbt haben soll, waren nach Cornwell der ausführlich dokumentierte manische Bewegungstrieb (S. 53 ff. über Oswald Sickerts "zwanghafte" Wanderungen und Bahnreisen) und die deutsche Abstammung. Cornwell wird nicht müde, darauf hinzuweisen, daß Sickert als Kind "durch und durch Deutscher" war (S. 51) und im Herzen immer Deutscher blieb (S. 378):

Sickerts Missbildung und Kindheitstraumen hatten Risse in seiner Persönlichkeit angelegt, die letztlich zu einer Spaltung führten. Ein Teil von ihm gab Winston Churchill Malunterricht, während ein anderer Teil 1937 einen Brief an die Presse schrieb und Adolf Hitlers Gemälde pries. Ein Stück von Sickert kümmerte sich fürsorglich um seinen drogensüchtigen, schwachen Bruder Bernhard, während ein anderes Stück sich gar nichts dabei dachte, im Rotkreuzlazarett aufzutauchen, Soldaten zu skizzieren, die Schmerzen hatten und starben, und dann um ihre Uniformen zu bitten, da sie sie nicht mehr brauchten. (S. 394)

Die Gegenüberstellung von Churchill und Hitler, eine offensichtliche Anspielung auf Dr. Jekyll und Mr. Hyde (Stevensons schizoider Arzt wird bereits auf der ersten Seite des Buches erwähnt und bildet eine Art running gag des Textes), dient dem einzigen Zweck, die deutsche Abstammung Sickerts mit den in Mr. Hyde abgespaltenen schlechten Charaktereigenschaften Dr. Jekylls zu identifizieren.

Derartige germanophobe Befunde machen seit 1970 unter Profilern die Runde. Damals veröffentlichte der englische Psychiater Robert P. Brittain seinen Aufsatz "The Sadistic Murderer," ein erstes, immer noch viel gelesenes und sehr bekanntes Profil sadistischer Gewalttäter. Brittain bewertete das Bedürfnis, die deutsche Sprache zu erlernen, als Hinweis auf abnorme sexual-sadistische Perversionen. 19 ("In the post-war years, German had become the nationality of male sadism.") 20

Ausführlich (und sehr einfühlsam, nach eigenem Bekunden ist sie selbst während einer Schönheitsoperation an ihrem Busen beinahe verblutet) 21 beschreibt Cornwell schließlich jene Urszene, in der Sickerts sexueller Stil geprägt wurde (S. 84–87). Es handelt sich um die dritte, in England, unter Umständen ohne Betäubung vorgenommene Operation der Fistel, bei der eine ältliche Krankenschwester in gestärkter Uniform, eine fiktive Mrs. Wilson, assistiert habe, indem sie den kleinen hilflosen Walter auf den Operationstisch, ein eisernes Bettgestell, "bei dem man Kopf- und Fußteil entfernt hatte" (S. 84), drückte oder ihn daran festband: "Möglicherweise war sie auch die erste Person, die er sah, als er sich durch pochenden Schmerz und würgende Übelkeit wieder ans Licht des Bewußtseins kämpfte" (S. 86). Mit dieser aus den Fingern gesogenen Geschichte will Cornwell begründen, warum Sickert zumeist ältliche Frauen auf Eisenbetten ohne Kopf- und Fußteil mit dem Pinsel traktieren, in den Ripper-Briefen verhöhnen und mit dem Messer schlachten mußte: Er habe die schlimmstenfalls mit vollständiger Kastration endende Operation nur dadurch ertragen können, daß er sie erotisierte und zwanghaft wiederholte.

Feder, Pinsel, Messer und die Eisenbahn

Wegen der ererbten und erworbenen organischen Mängel benutzte Sickert nach Cornwell mit Feder, Pinsel und vor allem Messer Geschlechts-Surrogate ("wenn sein anderes Selbst >aus der Hölle< seine verstümmelte Männlichkeit durch eine Messerklinge ersetzte," S. 82) und verschob den ehelichen Geschlechtsverkehr auf das städtische Verkehrsnetz. Nahezu jede Nacht sei er, während seine Frau schlief, wie sein Vater auf kilometerlange "orientierungslose und bizarre" (S. 295) Wanderschaft gegangen oder aber mit der Eisenbahn im Land herumgefahren. Obwohl Sickert während der Rippermorde 1888 nachweislich in Frankreich weilte, hätte er als Bewegungsexperte keine Schwierigkeiten gehabt, mit dem Dampfschiff über den Kanal und mit der Eisenbahn nach London zu fahren, die Morde zu begehen und auf demselben Wege wieder zu verschwinden. Mit einem Kursbuch aus dem Jahr 1887 rekonstruiert Cornwell akribisch mögliche Zugreisen Sickerts, die es ihm auch ermöglicht hätten, an unterschiedlichen Bahnstationen Ripper-Briefe einzuwerfen (S. 308 f.). Die Graphomanie Sickerts (S. 188) korrespondiert mit seinen manischen Eisenbahnfahrten:

In der Zeit, in der ihn das Morden am intensivsten beschäftigte, könnte Sickert fortwährend mit der Eisenbahn unterwegs gewesen sein. Überall hätte er Briefe aufgeben können. Lustmörder neigen dazu, sich über enorme Strecken fortzubewegen, wenn sie Schübe ihrer sexuell-gewalttätigen Sucht erleben. Sie reisen von Stadt zu Stadt und töten häufig in der Nähe von Raststätten und Bahnhöfen, wobei die Schauplätze ihrer Verbrechen manchmal planvoll ausgesucht und manchmal vom Zufall bestimmt sind. (S. 322)

Der Mythos des Eisenbahn-Maniacs stammt aus der Feder Emile Zolas. In seinem Roman "La Bête Humaine" (1890) läßt er eine französische Variante des Rippers, den Triebmörder Jacques Lantier, als Lokführer durch das französische Bahnsystem irren, bis zum bitteren Ende. Gemeinsam mit dem Heizer und dreizehn Reisenden stirbt er in den Trümmern eines verunglückten Eisenbahnzuges, enthauptet, zerhackt und zerstückelt von dessen Rädern .

Cornwell korrigiert diesen literarischen Mythos. Sie deutet das (Eisenbahn-) Opfer zum Täter um. Der Triebtäter Sickert und die Eisenbahn verschmelzen in ihrer Lesart zu einer gigantischen phallischen Waffe. Die rotierenden Räder ersetzen die Penis-Surrogate Feder, Pinsel und Messer. Die Tatortfotos des offiziell letzten Ripper-Opfers, Mary Kelly, machen auf Cornwell den Eindruck, als wäre die Frau "von einem Zug überfahren" worden (S. 385). Einmal in Fahrt gekommen, sei der Mordexpress nicht zu stoppen gewesen. Cornwell glaubt, daß Sickert nach der Ermordung Mary Kellys weiter metzelte (S. 389 ff.), bis die Zahl seiner Opfer auf insgesamt schätzungsweise vierzig angestiegen war (S. 391). Für die Amerikanerin scheint die Verschmelzung von Organismus und Maschinen des Verkehrs die teuflischte (weil effektivste) Form des Psychopathen zu verkörpern.

Seit den Zeiten Jack the Rippers hat die Bedeutung der Zugreisen abgenommen. Die postmodernen "Sickerts" sitzen in Automobilen oder in Fluggeräten. Auf der Höhe der technischen Entwicklung, die Whistlersche Schmetterlings-Metapher zeitgemäß fortschreibend, verglich Cornwell in einem Interview von 1998 Künstler und Maniacs mit einem Helikopter:

>Hätte Beethoven etwa seine Symphonien oder van Gogh seine Sonnenblumen ohne die extremen Pendelschläge der Seele erschaffen können? Manisch-depressive Menschen sind oft kreativ, aber eben instabil wie ...<, sie stockt, sucht nach einem Bild, >...wie ein Helikopter.< Sie rudert mit den Armen. >Ein Hubschrauber kann einfach alles, auf der Stelle rotieren, vorwärts, rückwärts, senkrecht steigen. Aber wehe, wenn er außer Kontrolle gerät, dann stürzt er ab.< 22

Stockhausens umstrittener Vergleich der Flugzeug-Attentate vom 11. September 2001 mit einem Kunstwerk unterscheidet sich von Cornwells Helikopter-Gleichnis darin, daß der >Absturz< der Flugsysteme im ersten Falle durch eine psychopathische Kreativität planmäßig herbeigeführt wurde, die à la >Sickert< Organismen und Verkehrsflugzeuge zu einer wirkungsvollen phallischen Waffe verschmelzen ließ. Auch bei >Sickerts< hypothetischen Morden überwog nach Cornwell der Kunstcharakter (L'art pour l'art). Es gab kein Motiv im herkömmlichen Sinne.

Resumée

Cornwells revidierte Kunstgeschichte kreist um die Frage, die sie auch in ihren Romanen (schon vor dem 11. September) beschäftigte, "wie die westlichen Gesellschaften mit dem Problem einer gesichtslosen, psychopathischen Gewalt umgehen sollen, die sich nicht nur allem Verständnis und aller Ansprache entzieht, sondern durch ihre Unfaßbarkeit auch jeden sozialen Raum vergiftet." 23 Mit ihrem Versuch, der anonymen terroristischen Gewalt das Gesicht des Psychopathen >Sickert< zu geben, sitzt Cornwell ebenso einer Leerformel auf wie der Autor eines Internet-Artikels, der den erklärtesten Gegner des Terrorismus, den amerikanischen Präsidenten, als Soziopathen outete, weil er 154 Todesurteile in fünf Jahren unterschrieben, als Kind Frösche aufgeblasen und Afghanistan bombardiert hat. 24 Cornwell protokolliert exakt die Psychopathen-Hysterie, von der die Vereinigten Staaten seit über einem Jahr heimgesucht werden. Wer diesen Text als Sachbuch über Jack the Ripper liest und kritisiert, verkennt, daß es sich um ein Psychogramm der amerikanischen >Seele< nach den Anschlägen vom 11. September handelt. Als ein solches ist Cornwells Buch nicht immer leicht verdaulich, aber immer aufschlußreich.


Prof. Dr. Klaus Bartels
Universität Hamburg
Institut für Germanistik II
Von-Melle-Park 6
D-20146 Hamburg

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Anmerkungen

1 John Douglas / Mark Olshaker: Die Seele des Mörders. 25 Jahre in der FBI - Spezialeinheit für Serienverbrechen. Aus dem Amerikanischen von Jörn Ingwersen. 3. Aufl. Hamburg: Spiegel - Buchverlag 1996, S. 135 (Hervorhebungen im Original).   zurück

2 Thomas Zaunschirm: Späte Grüße von Marcel Duchamp. Das Ready-made auf dem Prüfstand. In: Neue Zürcher Zeitung, 20. / 21. November 1999, S. 77.   zurück

3 Die deutsche Cornwell-Ausgabe bevorzugt die Schreibung "Eddows."   zurück

4 Daniel Farson: Jack the Ripper. London: Joseph 1972.    zurück

5 Wolf Vanderlinden: The Art of Murder, p. 16. http://www.casebook.org/dissertations/dst-artofmurder.html (18.11.2002)   zurück

6 Ebd., p. 17.   zurück

7 Vgl. hierzu Susanne Neuburger: Schmetterlinge. In: Jean Clair / Cathrin Pichler / Wolfgang Pircher (Hg.): Wunderblock. Eine Geschichte der modernen Seele. Katalog zur Ausstellung der Wiener Festwochen in Zusammenarbeit mit dem Historischen Museum der Stadt Wien 27. April bis 6. August 1989. Wien: Löcker Verlag 1989, S. 33–40.    zurück

8 Vanderlinden (Anm. 5), p. 2.   zurück

9 Abbildung in Neuburger (Anm. 6), S. 38.   zurück

10 Vgl. zu Sterbak und Holzer Monika Wagner: Das Material der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne. München: C.H. Beck 2001, S. 222–234.   zurück

11 Stephen P. Ryder: Patricia Cornwell and Walter Sickert: A Primer, p. 3. http://www.casebook.org/dissertations/dst-pamandsickert.html (18.11.2002)   zurück

12 Philip L. Simpson: Psycho Paths. Tracking the Serial Killer Through Contemporary American Film and Fiction. Carbondale and Edwardsville: Southern Illinois University Press 2000, p. 59.   zurück

13 Ebd.   zurück

14 Wagner (Anm. 10), S. 25.   zurück

15 Hans Groß: Degeneration und Deportation. In: Politisch-Anthropologische Revue. Monatsschrift für das soziale und geistige Leben der Völker. Vierter Jahrgang, 1905 / 06, S. 281–286, hier S. 282.   zurück

16 Ebd., S. 283.   zurück

17 Vgl. Gerburg Treusch-Dieter: Freud und die Sexualwissenschaft. In: Wunderblock (Anm. 6), S. 485–495, hier S. 489.   zurück

18 Groß (Anm. 15), S. 285.   zurück

19 Robert P. Brittain: The Sadistic Murderer. In: Medicine, Science, and the Law, Vol. 10 (1970), pp. 198–207. Vgl. dazu Mark Seltzer: Serial Killers. Death and Life in America's Wound Culture. New York and London: Routledge 1998, p. 131.   zurück

20 Seltzer 1998 (Anm. 19), p. 151.   zurück

21 Swantje Strieder: Porträt Patricia Cornwell. In: Brigitte 16 (22. 7. 1998), S. 97–98, hier S. 98.    zurück

22 Ebd.   zurück

23 Thomas Hettche: Was uns von unserem Fleisch unterscheidet. Pathologin als Anwältin der Wunden: Die Krimiautorin Patricia Cornwell und das Universum des Bösen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5. Februar 2002, S. 51.   zurück

24 Bev Conover: Bush isn't a moron, he's a cunning sociopath. http://www.onlinejournal.com/Commentary/Conover120502/conover120502.html (20.12.2002).   zurück