Baßler über Koschorke: Körperströme

Moritz Baßler

Mediologie

  • Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München: Fink 1999. 507 S. Kt. DM 128,- ISBN 3-7705-3377-1



Zum ersten Teil der Doppelrezension.


Mediologie als Projekt

In der germanistischen Literaturwissenschaft ist gegenwärtig ein gewisser Überdruß an >harter< Theorie zu registrieren. Zustimmung findet am ehesten, wer sich von allzu strengen, monomethodischen Vorgehensweisen, insbesondere solchen poststrukturalistischer Herkunft, distanziert und für sein Projekt statt dessen die Weite des kulturellen Feldes als Argument für eine vergleichbare Weite methodischer Ansätze anführt.

Im vorliegenden Fall wird denn auch niemand dem Verfasser – nebenbei einem ausgewiesenen Kenner der Theorie – darin widersprechen, daß sich die Dekonstruktion philosophischer "Ursprungs-, Ganzheits-, Einheits- und Wahrheitsansprüche" (S.345) als leitendes Interesse der Beschäftigung mit Texten ein wenig totgelaufen hat. Gerade in kulturwissenschaftlicher Ausrichtung ist es inzwischen viel spannender, die historischen "Präsenz-Effekte des Zeichens zu denken" (S.343), zu untersuchen, "wie solche Phantasmata [...] positiv funktionieren und sich die Macht eines sozialen und technischen Realitätsprinzips aneignen können." (S.345) Koschorke nennt die Methode, die sich dieser Aufgabe widmet, Mediologie. Medium des 18. Jahrhunderts ist zuvörderst die Schrift, und so definiert sich die Aufgabe des mediologischen Ansatzes wie folgt: Zu beschreiben ist "das Feld von Schriftlichkeit / Zeichentod / Vergessen / Unbewußtsein / Imagination / Wiederkehr im Zusammenwirken aller seiner Komponenten" (S.345).

Kapitel V (Seeleneinschreibeverfahren 1), in dem sich die zitierten methodologischen Ausführungen finden, verläßt exkursartig das 18. Jahrhundert, um sich mit Derridas Kritik des Platonischen Phonozentrismus auseinanderzusetzen. Informiert durch die Natürlichkeitseffekte der Schrift in der Empfindsamkeit, kann Koschorke schon in Platons Schriftkritik den Primat des Mediums gegenüber seinem Effekt erkennen und gegen Derridas Lektüre ins Feld führen. Ob diese durch einen solchen Einwand wirklich getroffen wird, wäre zu fragen, kann hier aber nicht entschieden werden. Festzuhalten bleibt: Der Mediologe will sympathischerweise etwas anderes als die Dekonstruktion, nämlich ein kulturelles Feld beschreiben.

Aber wie?

Dem V. Kapitel kommt hier eine gewisse Achsenfunktion zu: Bis dahin geht es, soviel ich sehe, im wesentlichen darum, auf der Basis der Foucaultschen Episteme-Lehre aus der Ordnung der Dinge den Übergang von der >Klassik< zur >Moderne< mediologisch zu reformulieren. Danach aber steuert der Verfasser zielstrebig auf systemtheoretisches Gebiet und nimmt in diesem Kontext auch den gründungstheoretischen Impuls seiner Derrida-Kritik wieder auf. Diese Abfolge trägt der in der Einführung angestellten Überlegung Rechnung, daß "poststrukturalistische Termini wie Diskurs oder Text mit dem Begriff der Kommunikation, der die Sphäre der Pragmatik ins Spiel bringt, nur schwer vereinbar" seien (S.10). Auch hier ließe sich am Rande fragen, ob etwa Foucault, besonders der späte, von dieser Kritik überhaupt getroffen wird.

Festzuhalten bleibt:

Unter dem Label "Literarische Anthropologie" (S.9) soll der Schwerpunkt von reiner Strukturbetrachtung auf die Praxis, auf Literatur als kommunikative Handlung verlagert werden. Dazu bietet sich Luhmanns Theorie sozialer Systeme, die ja aus "Kommunikationen und deren Zurechnung als Handlung" 1 bestehen, als avanciertestes Beschreibungsmodell an: Die "Performativität des Zeichenverkehrs" soll "auf dem Niveau eines Systemverbundes" erfaßt werden, und eben dieser heißt bei Koschorke Medium (S.10/11).

Die Lösung gleich mehrerer zentraler Probleme, die den Stand der gegenwärtigen Theoriedebatte markieren, wird hier der Mediologie als einer semiotische und soziale Systeme übergreifenden Instanz übertragen: Sie soll nicht nur das Verhältnis von Text und Handlung, sondern auch das "von Menschen und Medien" (S.12) sowie "die Interdependenz von technischer Medialität und Semiose, die enge Verflochtenheit der >Formen< und >Inhalte< von Zeichenvorgängen" (S.11) beschreibbar machen. Zu diesem Zweck muß sie als eine Art Supermethode konzipiert werden, die (Post-)Strukturalismus, Diskursanalyse und Systemtheorie reformulierend und pragmatisierend überwölbt. Das ist ohne Zweifel ein anspruchsvolles Projekt, und man ist gespannt auf die Umsetzung.


Praxis und Diktion

In den ersten Teilen geht es, wie gesagt, um eine materialreiche Illustration des Übergangs von der Episteme der Repräsentation zu jener der modernen Selbstbegründung. "Die großen Umwälzungen des 18. Jahrhunderts", so heißt es, "lassen sich als Veränderung der Zirkulationsweise sozialer Energien beschreiben." (S.15) Das klingt wie Greenblatt, führt aber in die Irre.

Die Isolierung der Körper in autonome, abgeschlossene Systeme im medizinischen Diskurs, die neue Rolle der Schrift als Instrument der Subjektbildung und als Vernetzungsinstanz separierter Individuen, die bekannten Schrifteffekte der Empfindsamkeit – diese und andere Entwicklungen der Zeit werden anhand zahlreicher kanonischer, aber auch entlegener Belege aus wissenschaftlichen und didaktischen Schriften, aus schöner Literatur, Briefen, Tagebüchern und allem nur denkbaren Schrifttum der Zeit ausführlich dargestellt. Freilich führt Koschorke keine Diskursanalyse durch, auch läßt er die übergreifenden Tendenzen nicht, wie der New Historicist, als intertextuelle Effekte aufscheinen, vielmehr dienen die Belege durchweg der Illustration intakter historischer Metanarrationen:

"Weiter oben wurde gezeigt, wie auf dem Gebiet der Physiologie an die Stelle kontagiöser Mechanismen zu Fernwirkungen befähigte energetische Fluida treten. Parallel dazu verschieben sich im Bereich der symbolischen Interaktionen nicht nur Inhalte und Kontexte, sondern zugleich erhöht sich [...] der Grad der zeichenhaften Artikuliertheit dessen, was adäquater Gegenstand des sozialen Austauschs sein kann. Auch in semiotischer Hinsicht wird also die Frequenz des kommunikativen Geschehens gewechselt."(S.157)

Dem Inhalt entspricht die Diktion: Historische Makrotendenzen werden gezeichnet, illustriert und dann zueinander in Beziehung gesetzt. Sie erscheinen als Parallelentwicklung, als Substitution oder Simulation, als "genauer Effekt", "genaues Produkt", "genaue Kontrafaktur", als "das genaue Seitenstück", "das genaue Korrelat" oder die "präzise Umkehrung" voneinander, mal sind solche Zusammenhänge "triebgenealogisch gedacht", mal "psychogenetisch" oder "gründungstheoretisch", dann wieder "kommunikationshistorisch" oder "der semiotischen Anlage nach". Das ist im einzelnen beeindruckend und anregend, zumal der Verfasser nach materialreichen Ausführungen dankenswerterweise immer wieder auch die rhetorische Zuspitzung pflegt ("Substitutionen sind immer zwielichtig", S.232; "Die Einbildungskraft bildet nicht ab, sie übersetzt", S.280; ">Verselbständigungen< sind niemals etwas anderes als Systemkrisen", S.313).


Mittlere Reichweite

Schon die Vielzahl der methodischen Hinsichten indiziert jedoch eine, wenn man so sagen darf, eher mittlere Reichweite der jeweiligen Verknüpfungen. Wie gesagt, die Fülle des bibliographisch und in Zitaten präsentierten Materials dient nicht als Grundlage akribischer Lektüren (es geht bewußt nicht um die "Interpretation von literarischen Werken", S.13) oder diskursiver Vernetzung, sondern sie hat Belegcharakter. 2

Koschorkes Verfahren ist weder mikrologisch noch induktiv. Vielmehr liegt seine Stärke in der anregenden narrativen Vermittlung früherer (auch eigener) und künftiger Partikular-Lektüren. Zwischen der großen Erzählung vom epistematischen Wandel und den vielen bunten Texten zieht er eine Ebene kleinerer récits ein, die man in der Mehrzahl vielleicht schon kannte, zwischen denen aber jetzt Zusammenhänge unterschiedlichster Art etabliert werden, die vielfach erhellend und originell sind. Nach oben hin, zur Metanarration, ist der Effekt ein differenzierender, nach unten hin, zum >texte général<, ein homogenisierender.

Das gelingt besonders überzeugend dort, wo die ubiquitäre Selbstthematisierung der Schrift in der Empfindsamkeit es erlaubt, Form und Inhalt, Medium und Message kurzzuschließen, wo die werkimmanente Poetologie zum Reflex auf den Medien- und Epistemewechsel gerät. Hier, zwischen Rousseau und Schleiermacher, liegt zu Recht der Schwerpunkt des Buches. Koschorkes "Mediologie" wird dabei sozusagen bereits auf der Gegenstandsebene eingelöst, so daß mitunter nicht mehr ganz klar ist, ob sie der Methode oder dem Objekt zuzurechnen ist (wie schon beim Begriff "Literarische Anthropologie" überhaupt, auch Greenblatts "cultural poetics" ist nicht frei von dieser Ambiguität).


Wille zum System

Dahinter steht freilich, durchaus explizit, der Wille zum System, der nachvollziehbare Wunsch, ein komplexes und dynamisches Geflecht von Texten, Inhalten und literarischen Praktiken methodisch konsistent in eine umfassende, regelmäßige Einheit zu bringen. Die Präsentation unterschiedlichster Aspekte im ersten Teil des Buches hat nun zwar durchaus den Effekt einer Verdichtung des Dargestellten. Methodisch bleibt sie allerdings disparat, weshalb die Hinwendung zur Supertheorie Luhmanns im zweiten Teil ein durchaus folgerichtiger Impuls ist. Als Schalter dient, wie gesagt, der Medien-Begriff. Auch dieser kann aber von der Vielfalt der Hinsichten nicht unberührt bleiben.

Das Medium ist einerseits die Schrift, umfassend die Verbreitungsmedien, die Texte und ihre Inhalte. Am Ende des V. Kapitels heißt es dann: "Medien sind semiotische Systeme" (S.346), womit zur Systemtheorie umgeschaltet wird. Diese These enthält nun allerdings das Problem, als dessen Lösung sie gedacht ist, denn semiotische Systeme sind eben keine dynamischen Systeme im Sinne Luhmanns, und schon gar keine sozialen Systeme (mit Kommunikation und Handlung). Es gibt eine ausführliche Forschungsdiskussion und verschiedene Ansätze, Text- und Systemtheorie zusammenzudenken: Man hat zu diesem Zweck vorgeschlagen, Texte zu temporalisieren (sozusagen handlungsförmig zu machen) 3 oder umgekehrt, kommunikative Handlungen zu textualisieren, 4 man hat Texte als Umwelten sozialer Systeme definiert 5 und andere intellektuelle Anstrengungen mehr unternommen – bisher ohne klares Ergebnis.

Koschorke nimmt diese Diskussion nicht auf, er braucht sie für sein Projekt auch gar nicht, weil es sich eben auf das Zusammendenken von Texten und Texteffekten konzentriert. So endet das VII. Kapitel, Lesesucht und Zeichendiät, mit der These: "Das Medium ist die Natur" (S.430) – wir verstehen: als Präsenzeffekt der empfindsamen Bedeutungsproduktion. Die Naturalisierung des medialen Inhalts war ja durchaus schon bei Luhmann als ein Effekt von Medien beschrieben.

Das letzte Kapitel des Buches (VIII. Medien) hätte, um die beiläufig erhobenen Systematisierungsansprüche einzulösen, die zuvor beschriebenen Zusammenhänge in Form eines dynamischen Systems zu reformulieren gehabt – eine Sisyphusarbeit, der sich Koschorke verständlicherweise nicht unterzieht und die, so meine Vermutung, auch gar nicht gelingen kann, solange eine gemeinsame kulturwissenschaftliche Basis von Text- und Handlungswissenschaft, von Semiotik und Systemtheorie nicht theoretisch erarbeitet ist. Das Aneignungsreferat systemtheoretischer Grundannahmen, in das Koschorkes letztes Kapitel mündet, indiziert, daß das praktische Zusammen-Zeigen und Engführen, das zuvor so erfolgreich praktiziert wird, noch kein theoretisch befriedigendes Zusammen-Denken bedeutet.

Die Literarische Anthropologie, die derzeit in Deutschland die kulturwissenschaftliche Federführung übernommen hat, stellt die richtigen Fragen – beantwortet hat sie sie noch nicht.

Zum ersten Teil der Doppelrezension.


Dr. Moritz Baßler
Universität Rostock
Institut für Germanistik
August-Bebel-Str. 28
D-18055 Rostock

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Ins Netz gestellt am 28.12.2000

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Anmerkungen

1 Niklas Luhmann: Soziale Systeme. 2.Aufl. Frankfurt 1988, S. 240.   zurück

2 Trotzdem hätte ein Register nicht geschadet, einige Quellen (z.B. Rousseaus Nouvelle Héloïse, einzelne Schriften von Herder, Bergk u.a.) werden doch ausführlicher besprochen. Zudem werden die Erscheinungsdaten der Quellen in den Fußnoten nicht angezeigt und sind, wo spätere Ausgaben zitiert werden, oft auch aus den bibliographischen Angaben nicht ersichtlich. Dies wäre jedoch wünschenswert und würde die historische Stringenz der Thesen im Einzelfall besser überprüfbar machen.   zurück

3 Vgl. Henk de Berg: Die Ereignishaftigkeit des Textes. In: H.d.B. / Matthias Prangel (Hg.): Kommunikation und Differenz. Opladen 1993, S. 32-52.   zurück

4 Vgl. Georg Stanitzek: Was ist Kommunikation? In: Jürgen Fohrmann / Harro Müller (Hg.): Systemtheorie der Literatur. München 1996, S. 21-55.   zurück

5 Vgl. Moritz Baßler: Systeme kann man nicht lesen. In: Rechtshistorisches Journal 17 (1998), S. 387-404.   zurück