Baßler über Weiler: Giftmordwissen und Giftmörderinnen

Moritz Baßler

Inge Weiler: Giftmordwissen und Giftmörderinnen. Eine diskursgeschichtliche Studie. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 65) Tübingen: Niemeyer 1998 . 430 S. Kart. DM 148,-.

Was Giftmörderinnen sind, meint man zu wissen - was aber ist "Giftmordwissen"? Darunter wird hier nicht, wie man vielleicht annehmen könnte, das chemische Basiswissen verstanden, das die Giftmörderin zur praktischen Umsetzung ihrer Pläne benötigt, auch das forensische Know-how der aufklärenden Polizeibehörde ist nicht gemeint. Vielmehr geht es um das kriminologische Wissen, das Gesellschaft, Wissenschaft und Medien von der Giftmörderin selbst, von ihrer Natur und ihren Beweggründen haben - eben das, was man über Giftmörderinnen zu wissen meint. Wir befinden uns also von Anfang an, um mit Döblins Giftmörderinnen-Studie von 1924 zu sprechen, "gar nicht mehr auf dem Gebiet des 'Schuldig- Unschuldig', sondern auf einem anderen, auf einem schrecklich unsicheren, dem der Zusammenhänge, des Erkennens, Durchschauens" (S.241).

Diskursgeschichtlicher Ansatz

Um Struktur in dieses unsichere Terrain zu bringen, wählt die Verfasserin einen diachronen, "diskursgeschichtlichen" Ansatz. Im ersten Teil des Buches wird die Stereotypen-Genese der typisch weiblichen Giftmischerin in den Pitavalgeschichten des 18. und 19. Jahrhunderts nachvollzogen. Dabei erweist sich bereits die angebliche Geschlechtsspezifik dieser Art des Mordens als diskursive Konstruktion, die sich - "unbeirrt durch die Realität" (S.87) - auf das allgemein-anthropologische Aufklärungswissen über Natur und Pathologie des Weibes stützen kann. Mit den Fällen der Marquise von Brinvilliers (1676) und der Gräfin Ursinus (1803) einerseits sowie der Anna Zwanziger (1811) und der Gesche Gottfried (1831) andererseits schreiben alter und neuer Pitaval darüber hinaus bereits die zwei Prototypen der Giftmörderin fest, auf die später immer wieder zurückgegriffen wird: die große, diabolische, aristokratische "Leidenschaftsverbrecherin" vs. die gemeine, niedrige, kalte "tückische Heuchlerin".

Die Pitaval-Tradition verbindet literarische Deutungsmuster - etwa das Schema der 'poetischen Gerechtigkeit' - mit dem Anspruch wissenschaftlicher Wahrheit. Im zweiten Teil des Buches geht es um die "Verwissenschaftlichung" der daraus entstandenen Stereotypen in den Rechtwissenschaften um 1900, diesmal in Konkurrenz zum neu sich formierenden psychiatrischen und psychologischen Wissen. Diese Konkurrenz wird durch das Gutachterwesen an den Gerichten bald auch institutionell virulent wird und ist es bis heute geblieben.

Giftmord-Fälle 1900-1930: vier Beispiele

Im gewichtigsten dritten Teil der Arbeit wird das solcherart erarbeitete diskursive Giftmordwissen in seinen publizistischen Manifestationen im 20. Jahrhundert gezeigt, und zwar anhand von vier spektakulären Giftmord-Fällen der ersten Jahrhunderthälfte. Man erfährt ausführlich von der Chemnitzer Bräutigams- Mörderin Grete Beier (1907), den gattenmordenden Lesbierinnen Klein und Nebbe in Berlin, über die Döblin seine Studie schrieb (1922), von der gefallenen Adligen Milica Vukobrankovics in Wien (1923) und den ungarischen Massengiftmorden im Theißwinkel (1929). In umfangreicher Darlegung von und Auseinandersetzung mit publizistischem Quellenmaterial (vgl. die beeindruckende Bibliographie) präsentiert die Verfasserin diese Fälle in drei Durchgängen: Zunächst wird die prozeßbegleitende publizistische Darstellung in der Tagespresse referiert, dann die Aufbereitung in zeitgenössischen fach- und populärwissenschaftlichen Darstellungen und schließlich in der nach wie vor lebendigen Pitavaltradition, besonders in der Serie Außenseiter der Gesellschaft, in der neben Döblin auch Egon Erwin Kisch, Ernst Weiß, Karl Otten, Arthur Holitscher, Theodor Lessing und andere bekannte Autoren publizierten. Es verwundert kaum, daß in allen behandelten Gattungen das überkommene Giftmordwissen - direkt oder in seiner wissenschaftlichen Adaptation - weiterhin dominant ist.

"Die Realität muß sich stets aufs neue an den Verbrecherbildern der Phantasiekriminalität bewähren [...]. Auf diese Weise liefert sich die Publizistik selbst jene Rätsel, die [...] der sensationellen Inszenierung des Geschehens so dienlich sind." (S.178)

Darüber hinausweisende Tendenzen findet die Autorin am ehesten noch in den im engeren Sinne literarischen Umsetzungen. Für diesen Teil, der noch am ehesten ein im engeren Sinne literaturwissenschaftliches Interesse bedient, kann sich die Arbeit bereits auf einschlägige Vorarbeiten stützen (z.B. Wolfgang Schäffner, Die Ordnung des Wahns; Andreas Andriopoulos, Unfall und Verbrechen).

Konstanz der überkommenen Wissensbestände

Im fünften und letzten Teil geht es um die Fortschreibung der Giftmord-Stereotypen in den 1950er und 60er Jahren. Hier werden neue Fälle präsentiert, namentlich der der Raubmörderin Irmgard Swinka (1948), der berühmte E 605-Fall Christa Lehmann (1954) und der Münsteraner Justizirrtum um Maria Rohrbach (1958). Wieder wird die Aufbereitung dieser Fälle in den verschiedenen Medien nacheinander untersucht, wobei dem medialen Ortswechsel der Pitaval-Tradition in die neuen Illustrierten mit ihren Bildreportagen (Stern, Quick, Bunte u.a.) besondere Aufmerksamkeit gilt. Und wieder ist das Ergebnis das nämliche: eine Konstanz der überkommenen Wissensbestände; was wie gesagt für die Publizistik nicht weiter verwundert, eher schon für die Wissenschaft selbst:

"Ein relativ kleiner Kanon verbürgter alltagsweltlicher Vorstellungen - zentriert um die beiden Wissens-Invarianten von Schwäche und Sexualismus des Weibes - wird mit Hilfe aktueller wissenschaftlicher Erklärungsmodi reformuliert und an zeitgenössische Wissensbestände angepaßt. Auf diese Weise aufgewertet, gewinnt das Alltagswissen den Status von Expertenwissen, das nunmehr in den entsprechenden Fachdiskursen abrufbar ist. Es darf vermutet werden, daß Zirkelschlüsse wie diese bei der Formation von Wissen insgesamt entscheidend sind." (S.356)

Viel Material, wenig Deutung

So treffend diese Bemerkung sein mag, sie taugt doch eher als Bonmot denn als Resüme dessen, was Weilers Arbeit tatsächlich leistet; denn gegenüber der großen Menge spannenden Materials, das ausgebreitet wird, bleibt die methodisch abgesicherte Deutungskraft der Untersuchung eher verhalten. Ohne Zweifel liegt ihr großes Verdienst in der Erschließung der Quellen, deren Qualität und Umfang als Basis einer diachronen Diskursanalyse, wie sie der Untertitel ankündigt, vollkommen adäquat wäre. Tatsächlich geht es im Umgang mit diesem Material dann aber immer wieder nur um das eine, nämlich das Aufzeigen von "Wissens-Invarianten", Gemeinplätzen von der Natur des Weibes im allgemeinen und der typischen Giftmischerin im besonderen, um implizite oder explizite Rückgriffe auf vormodernes Wissen und Pitaval-Tradition. Gerade die avisierte Darstellung der Formation dieses Wissens bzw. seiner Stellung in wechselnden Wissens- Formationen kommt dabei analytisch zu kurz.

Ein wenig hilflos muten etwa die Versuche an, jeweils zu Beginn der Großkapitel die allgemeinen historischen Rahmenbedingungen fußnotenreich und im systemtheoretischen bzw. diskursanalytischen Vokabular darzustellen: Ergebnis sind mehrseitige Häufungen von wissenschaftlichen Allgemeinplätzen über die "Ausdifferenzierung der Sozialsysteme" im 18. Jahrhundert, die "Pluralisierung des Wissens" in der Moderne, die restaurativen Tendenzen der Nachkriegszeit etc. Das wäre bloß redundant und nicht weiter problematisch, wenn nicht genau an diesen Stellen die 'Formationsregeln' des im Folgenden dann material- und kenntnisreich Dargestellten bereits festgeschrieben würden. Besonders fatal ist das in Kapitel I.2.2.2, wo jene Stereotypen des weiblichen Geschlechtscharakters in einem fünfseitigen Schnelldurchgang vom Hexenhammer zu Charcot mal eben festgeklopft werden, in deren Aufspüren sich fortan die Deutungkompetenz der Studie erschöpft.

Eigenleben der Quellen

Zugegeben ist es nicht einfach, komplexe diskursive Formationen (den bisweilen immer noch sogenannten 'historischen Hintergrund') in die eigene Darstellung zu integrieren, aber zu diesem Zweck und zur Vermeidung der entsprechenden Zirkel und Aporien hat man die Diskursanalyse ja schließlich erfunden. Hier wie anderswo jedoch erfüllt die akademisch genormte Ordnung und Abfolge von allgemeinem historischem Rahmen und spezifischer Ausfüllung das diskursgeschichtliche Konzept nicht nur nicht, sondern läuft ihm fundamental zuwider.

Daß Paraphrasieren besser sei als Zitieren, ist eine andere Regel, deren Befolgung kulturwissenschaftlichen Studien nicht gerade gut tut. Zwar gehören die anhand des Materials nacherzählten Giftmord-Fälle für den Leser schon allein dadurch zu den Highlights der Studie, daß die Stoffe so spannend sind. Sie gewinnen auch sofort ein Eigenleben gegenüber ihrer argumentativen Funktion im Kontext der Untersuchung: Ausführlich erfahren wir etwa von der publizistischen Aufarbeitung des Beier-Falles, der in der Presse gar nicht als Giftmord rezipiert wurde. Auch die allgemeine Diskussion um die Möglichkeit von und die Konsequenzen aus Justizirrtümern, die anläßlich des Falles Rohbach geführt wurde, erhält breiten Raum.

Umständlicher Aufbau der Arbeit

Das Lesevergnügen wird allerdings geschmälert zum einen durch den Aufbau, der im Hauptteil eine dreimalige Wiederholung jedes Falles verlangt (was zu erheblichen Redundanzen, Doppelzitaten etc. führt), zum andern und vor allem aber durch den Zwang, dem eigenen Text die zitierenswerten Formulierungen der historischen Vorlagen zu assimilieren. Ergebnis ist ein extrem kleinteiliges Zitieren, das den Belegcharakter des Materials ebenso mindert wie die Eigenständigkeit der eigenen Formulierung (aus reiner Formulierungsnot wird schließlich Grete Beier im Text als 'die Bürgermeisterstochter' (S.133) apostrophiert, wird ohne Anführungszeichen von "Leidenschaftsverbrecherinnen" (S.120) gesprochen - damit ist man wider besseres Wissen auf dem Niveau der Vorlagen).

Was man sich damit vergibt, wird überall dort erahnbar, wo die Verfasserin sich zu mehrzeiligen Zitaten aus dem publizistischen Material entschließen kann. In der intertextuellen Montage werden die jeweiligen Rückgriffe auf frühere Texte und Topoi sinnfälliger als je in der deutenden Paraphrase. Auf diese Weise bekommt der Rezipient überdies die Chance, auch solche Konstanten des Diskurses in den Blick zu nehmen, die die Studie selbst nicht in den Vordergrund stellt. Zum Beispiel fällt in den publizistischen Falldarstellungen ein durchgängiger und durchaus expliziter Bezug auf literarische Muster und Vorbilder auf, der in seiner Spezifik über die Pitaval-tyischen Interferenzen literarischer und wissenschaftlicher Darstellungsmuster hinausgeht und eigener Betrachtung wert wäre.

Alternative Formen wissenschaftlicher Präsentation

Wie könnte man, so ließe sich fragen, ein Material wie das von der Verfasserin in jahrelanger Arbeit gesichtete und gesammelte noch besser zum Sprechen bringen? Ein Desiderat wäre wie gesagt eine umfassendere Präsentation des Materials, in diesem Falle der publizistischen und (populär-)wissenschaftlichen Texte zu den Giftmorden. Vielleicht erleben wir es ja noch, daß eine für den Wissenschaftsbetrieb funktionalere Zweckform diese Art von wissenschaftlicher Studie ablöst, z.B. ein elektronischer Datenträger mit den Originaltexten, begleitet von einem schmalen Band mit Thesen. Im vorliegenden Falle jedenfalls wünscht sich der Leser immer wieder dort, wo sich ein Zitat spannend anläßt, anstelle einer verallgemeinernden Einordnung lieber dessen ausführliche Fortsetzung.

Dieses Verlangen nach base materialism empfindet man dort besonders schmerzlich, wo es um historisches Bildmaterial geht (z.B. eine Simplicissimus-Karikatur zur Hinrichtung Grete Beiers, S.126). Vollends im vierten Teil, der die Fotoreportagen der Nachkriegs-Illustrierten zum Gegenstand hat, wären Illustrationen für den Nachvollzug des Gesagten unbedingt erforderlich gewesen. Ohne diese gerät, was eine medienhistorische Pionierleistung - von Attraktivität auch für ein breiteres Publikum - hätte werden können, zur akademischen Trockenübung für die Fachbereichsbibliothek.

Anregung an den wissenschaftlichen Publikationsbetrieb

Vielleicht könnte auch eine konsequenter kulturpoetische Textgestaltung zur Belebung des Materials beitragen. Wie wäre es zum Beispiel, wenn man die Darstellung mit den offensichtlichen Fehlschlüssen des Rohrbach-Prozesses beginnen würde, um zunächst am konkreten Fall die Vorurteile und Stereotypen zu lokalisieren, die hier die Urteilskraft von Gesellschaft, Zeugen, Gutachtern und Justiz gleichermaßen trübten? Von hier aus ließe sich doch die Frage nach dem diskursgeschichtlichen Ort dieser Präsuppositionen ganz anders motivieren, die historische Analyse könnte zur Fahndung nach Herkunft und Wandlungen dieses dubiosen "Giftmordwissens" werden, zu einer Reise in die Labyrinthe des Diskurses, die - zumal ausgestattet mit entsprechenden Illustrationen - sicher nicht nur für den einschlägig interessierten akademischen Leser von Wert wäre. Will sagen: aufgrund der selben Beobachtungen am selben Material wäre eine Darstellung denkbar, die dem kulturwissenschaftlichen Ansatz der Arbeit deutlicher Profil verliehe; denn dieser hat - hier wie in vergleichbaren Fällen - durchaus das Zeug nicht nur zu einer soliden akademischen Studie, sondern auch zu einem guten Buch.

Es versteht sich, daß diese Kritik in wesentlichen Punkten nicht die individuelle wissenschaftliche Leistung der Autorin schmälert, deren Dissertation so vernünftigerweise wie gezwungenermaßen vorgegebenen Standards folgt. Es wäre Sache des Wissenschafts- und besonders des wissenschaftlichen Publikationsbetriebs, Leistungen wie dieser durch die Ermutigung und Bereitstellung adäquater publizistischer Formate zu ihrem verdienten Lohn zu verhelfen.


Dr. Moritz Baßler
Gerhart-Hauptmann-Str. 9
D-18055 Rostock

Ins Netz gestellt am 25.01.1999.

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