
- Diogenes. Eine illustrierte Verlagschronik 1952–2002. Aufgezeichnet von Daniel Kampa. Zürich: Diogenes 2003. 992 S. Kart. EUR (D) 15,-.
ISBN 3 257 05600 1.
Siegfried Unseld, den im vergangenen Jahr verstorbenen Chef des Suhrkamp Verlages, kennt jeder, der sich für Bücher in Deutschland interessiert. Kennt auch jeder Daniel Keel? Wohl kaum. Dabei steht dieser Verleger seinem Kollegen in nichts nach. Er hat einem der faszinierendsten europäischen Verlage, dem Diogenes Verlag in Zürich, ein Profil gegeben, das sich abhebt von den Konkurrenten und seit Jahrzehnten nichts an Kontur verloren hat, eher im Gegenteil. Ein halbes Jahrhundert existiert nun dieser Verlag, der beinahe ausschließlich – was das Literarische anbelangt, der geschäftliche Teil obliegt dem, auf seinem Feld offenbar gleichermaßen begabten, Rudolf C. Bettschart (dazu gibt es im Buch die hübsche Zeichnung von Tomi Ungerer "Der Daniel prägt / Der Ruedi trägt." S. 343) – ein Werk Keels ist.
Daniel Kampa hat mit zahlreichen Helferinnen und Helfern eine illustrierte Verlagschronik 1952–2002 "aufgezeichnet", wie es auf dem Buchdeckel steht, die 987 Seiten umfasst. Indes: keine Seite zuviel. Entstanden ist nämlich ein Buch, das zu den schönsten Chroniken verlegerischer Arbeit gehört, die diese Gattung hervorgebracht hat. Es spiegelt eine Liebe zum Buch, die wie jede Liebe, mag sie gleichen wem oder was immer, eigen und einzig ist. Ein halbes Jahrhundert weltliterarischer Sensationen hat sie hervorgebracht und scheint doch vor jeder neuen literarischen Entdeckung zu jener Andacht fähig, die sie von jedem anderen Gefühl scheidet.
"-zig germanistische Hochschulsemester verbilden für den Beruf" – Daniel Keel, ein Autodidakt geht auf Verlagsreise
So kann, wer dieses Buch in die Hand nimmt, sich auf die Verlagsreise begeben. Er kann aus vier Teilen, die Kampa, bedacht auf Transparenz, zusammengefügt hat, wählen: Da ist der erste Teil, der sich mit den Jahren 1952 bis 1959 beschäftigt. Nichts liest sich hinreißender als der scheinbar, natürlich nur scheinbar, kümmerliche Auftakt eines später so grandiosen Unternehmens.
Man begegnet einem jungen Mann, "fast ein Knabe noch, er wirkte etwas schüchtern und etwas schlau und hatte etwas von einem Theologen an sich" (S. 29). Das jedenfalls ist die Erinnerung von Paul Flora, dem österreichischen Zeichner. Sie führt den Leser in eine Züricher Mansardenwohnung des Jahres 1953 und direkt in die Bekanntschaft mit Daniel Keel. Und natürlich trifft er keinen examinierten oder promovierten Germanisten oder Romanisten, sondern einen Mann, der mit vierzehn sein Gymnasium in einer Klosterschule im Kanton Schwyz abbrach, um in die Welt von Verlagen und Buchhandel zu stolpern, wo er schon rasch den sicheren Schritt beherrscht und Klaus Wagenbachs Ausruf an zukünftige Verleger bestätigt, sie sollten Sprachen lernen und sich um Gottes Willen nicht in -zig germanistischen Hochschulsemestern für den Beruf verbilden lassen ...
Kosmopolitismus und Lebenszugewandtheit – ein Verlag gewinnt Konturen
Und mit den Rechten an den Zeichnungen von Ronald Searle hatte es bei Keel am 4. September 1952 begonnen. Als Erich Kästner das gewünschte Vorwort zum Searle-Buch ablehnen musste, rückte ein anderer nach, dem der Verleger – wie vielen Autorinnen und Autoren in den folgenden Jahrzehnten – mit Verehrung zugetan war: Friedrich Dürrenmatt. Die Neigung ist groß, die wahrhaften Mythen der frühen Jahre des Verlags nachzuerzählen, die sich hier Seite um Seite entfalten und eine Magie haben, der man sich kaum entziehen kann. Bald steht neben dem Namen von Dürrenmatt der von zahllosen anderen bildenden Künstlerinnen / Künstlern und Schriftstellerinnen / Schriftstellern.
Und natürlich erfährt, wer es wissen will, warum als Verlagsname gerade Diogenes erkoren wurde. Keel hatte hundert Namen aus der Kulturgeschichte aufnotiert und sich endlich für Diogenes entschieden, "weil er findet, dass man unter diesem Namen machen kann, was man will." Ihm behagte dessen Kosmopolitismus als auch die derbe, kräftige Bejahung alles Lebens. Besonders habe ihn erheitert: "Nichts Geschriebenes von ihm ist bekannt, sein Geist aber lebt." (S. 33)
Von diesem ersten Teil kann, wer will und sich nicht sofort festliest, fortschreiten zu den anderen. Chronik und Exkurse wechseln sich hier wie in allen weiteren Teilen ab. Teil II widmet sich dem Jahrzehnt 1960 bis 1969, Teil III den Jahren 1970 bis 1984 und der vierte Teil endlich führt aus dem Jahr 1985 in die unmittelbare Gegenwart unserer Buch-Tage, denen die Verhältnisse so ungünstig scheinen. Anekdotisches strukturiert glücklich die Texte, die auch deshalb so lesbar sind. Langeweile ist ausgeschlossen. Die Auswahl der Zeugnisse, die an ein geradezu mustergültig geführtes Archiv glauben lassen – seien es Briefe oder Zeichnungen – seien es Quittungen oder Fotografien – ist überwältigend. Dass dies in einem Verlegerleben, denn davon künden die meisten Seiten ohne jede Eitelkeit oder Selbstpräsentation, Platz hat – der Leser will es kaum glauben.
Loriots Bestseller "Auf den Hund gekommen" – ein erster Verlagserfolg
Aus dem ersten Teil muss ein Verlagsautor geradezu obligatorisch genannt und am besten zitiert werden. Nicht, weil er in diesem Jahr sein achtes Lebensjahrzehnt vollendet hat, sondern weil der Diogenes Verlag in ihm einen seiner wertvollsten Autoren hat: Vicco von Bülow, dessen Bücher unter dem Pseudonym Loriot seit 1954 in dem Züricher Verlagshaus erscheinen. Sein erstes Schreiben an Keel aus dem Jahr 1953 schloss mit den Worten: "Ohne Ihnen im geringsten schmeicheln zu wollen – ich finde Ihr Unternehmen großartig, auch dann, wenn ich auf keine Gegenliebe stossen sollte." (S. 66) Wir wissen, Loriots Liebe wurde erwidert – und sein Buch "Auf den Hund gekommen" der erste Erfolg des Verlages.
Von Homer bis Andersch – eine Autorengalerie von europäischem Format
Wer Diogenes auf Loriot und Dürrenmatt reduzieren möchte, dem ist die Autorenbildergalerie zu empfehlen, mit der die Chronik die Geschichte des Verlags ins rechte Licht rückt. Sie beginnt mit Homer, dessen Ilias und Odyssee im Programm stehen, geht weiter mit Lao Tse, Ovid und Franz von Assisi. Wessen Name dem Kultur- und Literaturbeflissenen auch in den Sinn kommt, er wird ihn in der Bilderwelt porträtiert finden: Michel Montaigne ebenso wie Jonathan Swift, Goethe ebenso wie Heine, Puschkin und Schopenhauer, Keller und Fontane, Leo Tolstoi und Oscar Wilde, Pablo Picasso, Agatha Christie und Isaak Babel. Robert Walser ist zu entdecken wie William Faulkner, Doris Lessing und Patricia Highsmith.
Einige der Aufgezählten haben sogar eine Gesamtausgabe bekommen. Gerade ist eine weitere im Entstehen, die das Werk des für Diogenes so wichtigen Autors Alfred Andersch in geschlossener Gestalt präsentiert. Wer denn doch den einen oder anderen Autor vermisst, der wird, wie im Fall von Samuel Beckett mit dem Faksimile einer Karte des großen Dramatikers entschädigt und erfährt, dass es Keel zwar misslang, Becketts Werk bei Diogenes zu veröffentlichen, doch: "Der Kontakt zum Autor bleibt dennoch bestehen." (S. 46)
"Wer ruft da, fuck fiction" – ein Verlegerplädoyer für die Urteilskraft des Einzelnen
Es besticht, und damit ist auf den Beginn zurückzukommen, wie Daniel Keels literarische Welt, die eigene Vorlieben nie leugnet, ein Spiegel europäischer Buchkultur geworden ist. Ohne Manipulation und Taschenspielertricks, mit dem unbefangenen Glauben an den eigenen Geschmack und dessen unbestechliche Sensoren für Kunst, die den Tag überdauert. Um einen Begriff von Keels Art selbst in öffentlichen Fehden (die doch eher die Ausnahme sind) zu bekommen, muss man nur seine Entgegnung "Wer ruft da >fuck fiction<" aus dem Jahr 1971 nachlesen, mit der er auf Karl-Heinz Bohrers Attacke gegen die zeitgenössische belletristische Literatur reagierte.
Es ist eine feine Klinge, die er führt. Nicht den Gegner will er treffen, sondern dessen verfehltes Urteil. "[...], bitte gestatten Sie mir – trotz der nicht ganz geringen Abhängigkeit gerade des belletristischen Verlegers vom Feuilletonredakteur –, auf Ihren Aufsatz über >Literatur und Sachbuch am Beispiel von sieben Verlagen< [...] kritisch einzugehen." (S. 140) In geschliffener Prosa und mit der Gabe, die Faktenlage ebenso plausibel wie brillant zu präsentieren, liefert dieser Text ein Muster seiner Gattung. Es ist die Verteidigungsrede eines Verlegers für seine Autoren und ein Plädoyer für die Urteilskraft des Einzelnen über jedes Anbiedern an den gängigen Durchschnitt: "Unser kleines Haus" werde sich der "Miss Fiction [...], und zwar ihr allein, offenhalten. Wir werden in ihrem Sinne nicht jene Bücher verlegen, die gerade >marktgerecht< sind, sondern dem Publikum Bücher anbieten, die uns gefallen." (S. 145)
Hochkarätige Kriminalliteratur – auch ein Markenzeichen des Diogenes-Verlags
Jeder Leser von hochkarätiger Kriminalliteratur ist Kunde bei Diogenes: von Agatha Christie über George Simenon bis Donna Leon sind dort die besten Namen vertreten. Wie schön die Anekdote des exzessiv schreibenden Simenon, die das Buch erzählt! Der Verleger habe in einer dringlichen Sache bei seinem Autor angerufen, dessen Frau nahm ab und beschied dem Anrufer, ihr Mann habe gerade einen neuen Roman angefangen. Darauf Keel: ">Gut, ich warte.<" (S. 323). Geschichten wie diese sind nicht die Ausnahme, sie entdeckt, wer durch das Buch spaziert – ein Spaziergang, dessen einzige Last das Gewicht der "Chronik" selbst ist. Nie werden die Geschichten prätentiös erzählt. Immer herrscht jener Ton leiser Heiterkeit, der, ohne die Dimension der Werke zu verkennen, um die Kapricen weiß, die Verleger und Dichter nur zu gerne in ein literarisches Paar verwandeln.
1993, erzählt die Chronik, habe eine Amerikanerin einen Kriminalroman geschrieben, der in Venedig spielt. Die Leserschaft in den USA lässt ihn floppen, er wird ins Deutsche übersetzt – und ist über diesen Umweg in kürzester Zeit mit seiner Hauptfigur, dem liebenswürdigen Commissario Brunetti, ein Welterfolg. Seine Schöpferin, Donna Leon, zeigt eine Fotografie stilgerecht in einer venezianischen Gondel sitzend: das einzige Mal, so lesen wir, dass Leon eine dieser Gondeln bestiegen habe. Die Erinnerung Donna Leons, gewiss eine der anmutigsten Autorinnen der zeitgenössischen Literatur in Wort und Person, an ihre erste Begegnung mit "meine[n] Jungs" (S. 534, gemeint sind Keel und Bettschart) spiegelt den Zauber, der über dem Treffen lag. Man habe über "Essen, italienischen Wein, Fellini (Diogenes-Autor! – d. Verf.), die Toskana und ein Leben in langsamerem Takt" geplaudert – auf italienisch und englisch. Die Themenbreite dehnte sich aus bis zum Restaurieren von Häusern in Italien – nie aber sei über Verlegerei, Buchverkäufe und Verträge gesprochen worden. "Das größte Glück in diesem ganzen Buchabenteuer war es, von Diogenes adoptiert zu werden." (Donna Leon 1999 an Bettschart; S. 534)
"Diogenes Bücher liebt man" – das Erfolgsrezept des Verlags
Der Vermutung, die Rezension wolle die Lektüre der Chronik selbst ersetzen, ist durch Abbruch an dieser Stelle entgegenzutreten – entschieden. Ebenso entschieden ist zu relativieren, was der Tenor der Besprechung zu sein scheint, dass hier nämlich zwei Zauberer am Werk gewesen seien und ganz für sich ihr kleines, großes weltliterarisches Reich errichtet hätten. Die >Fragen eines Diogenes-Lesers<, ob es nicht auch Köche und Bauleute gegeben habe, beantwortet das Buch mit einer schönen Bildergalerie (S. 647–679) – ähnlich der aller Autorinnen und Autoren des Verlags auf den ersten Seiten – und einer langen Dankesliste am Schluss des Buches. Dass Daniel Kampa auch noch jenen dankt, die in der letzten hektischen Entstehungsphase dieses wunderbaren Buches in den Kampf gegen die mit Tarnkappen bewehrten Tippfehler gezogen sind, ist mehr als eine Geste. Es ist der Geist, der die Chronik >prägt und trägt< – eben der des Verlages, der sich keine Feier organisieren muss, sondern sich kopfschüttelnd die endlosen Anlässe vor Augen führen darf, die ihn feiern.
Als Daniel Keel und Rudolf C. Bettschart ihr siebentes Lebensjahrzehnt vollendeten, widmete man ihnen zu Ehren eine Festschrift, die nicht in den Handel kam. In ihr ist ein Brief Siegfried Unselds abgedruckt. Dort findet sich der Satz: "Ich denke oft, wäre ich Autor, würde ich von Diogenes verlegt sein wollen." Und er gibt einen Grund an: "Diogenes Bücher liebt man." (S. 627)
Prof. Dr. Roland Berbig
Humboldt Universität zu Berlin
Philosophische Fakultät II
Institut für neuere deutsche Literatur
Unter den Linden 6
D-10099 Berlin
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Ins Netz gestellt am 10.02.2004

IASLonline ISSN 1612-0442
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Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Dr. Christine Haug. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.
Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Katrin Fischer.
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