Biester über Zur Neuedition der Tagebücher des Leipziger Verlegers Heinrich Brockhaus

Björn Biester

Zur Neuedition der Tagebücher des Leipziger Verlegers Heinrich Brockhaus




  • Heinrich Brockhaus: Tagebücher. Italien, Spanien und Portugal 1834 bis 1872. Hg. von Volker Titel. Erlangen: filos-Verlag 2003. 302 S. 17 s/w Abb. Broschiert. EUR 19,80.
    ISBN: 3-9808983-0-X.
  • Heinrich Brockhaus: Tagebücher. Deutschland 1821 bis 1874. Hg. von Volker Titel. Erlangen: filos-Verlag 2004. 640 S. 40 s/w Abb. Gebunden. EUR 49,80.
    ISBN: 3-9808983-2-6.


[1] 

Der Aufschwung
der Leipziger Buchhandels-
und Verlagsgeschichte

[2] 

Die Beschäftigung mit der faszinierenden Buchhandels- und Verlagsgeschichte Leipzigs, dem unbestrittenen Mittelpunkt des deutschen und internationalen Buchgewerbes bis zum Zweiten Weltkrieg, hat seit 1989 / 90 einen enormen, beeindruckenden Aufschwung genommen. In diesem weiteren Zusammenhang steht die anzuzeigende kommentierte Neuedition der Tagebücher des Leipziger Verlegers Heinrich Brockhaus (1804–1874) durch eine Arbeitsgruppe am Institut für Buchwissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg. Es liegen bislang zwei Bände dieser Edition vor, die sich auf einen von Heinrich Brockhaus’ Sohn Rudolf besorgten fünfbändigen Privatdruck stützt, der 1884 bis 1887 in geringer Auflage für die Familie und ausgewählte Freunde hergestellt wurde und nur in wenigen deutschen Bibliotheken und Archiven verfügbar ist.

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Der erste, 2003 erschienene Band der Neuedition widmet sich den von Heinrich Brockhaus unternommenen großen Reisen nach Italien, Spanien und Portugal. 1 Das Kernstück des Editionsprojekts, die Tagebücher Deutschland 1834 bis 1872, dokumentiert hauptsächlich Brockhaus’ Tätigkeit als Verleger, seine Stellung als Unternehmer und Familienvater sowie seine vielfältigen Interessen als aktiver Kunst- und Literaturliebhaber. Beide Bände – abgekürzt im folgenden mit ISP für Tagebücher Italien, Spanien und Portugal sowie D für die Tagebücher Deutschland und der jeweiligen Seitenzahl – gehören in biographischer und inhaltlicher Perspektive zusammen. Im Vordergrund stehen hier allerdings die insgesamt bedeutenderen Deutschland-Tagebücher, unter gelegentlicher Einziehung der Reiseberichte.

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Heinrich Brockhaus –
ein führender deutscher Verleger
des 19. Jahrhunderts

[5] 

Wer war Heinrich Brockhaus? Den Deutschland-Tagebüchern steht eine biographische Skizze aus der Feder des Buchwissenschaftlers und Historikers Volker Titel voran (D 9–56), der für die Erlanger Arbeitsgruppe als Herausgeber der Neuedition fungiert. Titel, in den letzten Jahren mit zahlreichen einschlägigen Publikationen hervorgetreten (u.a. über buchhändlerische Vereinigungen des 19. Jahrhunderts und die Geschichte des Buchhandelsplatzes Leipzig 2), weist auf den Expansionskurs des Unternehmens hin, das nach seiner Gründung durch Friedrich Arnold Brockhaus zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Amsterdam rasche Erfolge feiern konnte. 1817 erfolgte die Übersiedlung in die sächsische Metropole, zuvor hatte es aus finanziellen Erwägungen eine Zwischenstation im nahen Altenburg gegeben (seit 1811).

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Zum Träger des wirtschaftlichen Aufstiegs von F. A. Brockhaus entwickelte sich das als Prototyp des bürgerlichen Nachschlagewerks geltende Conversations-Lexikon, dessen Verlagsrechte 1808 während eines Besuchs der Leipziger Messe erworben wurden. Von der 5. Auflage des Lexikons (1820 abgeschlossen) konnten 10.000 Exemplare abgesetzt werden. Es folgten in kurzen Abständen mehrere Neudrucke dieser Auflage, die ebenfalls gute Aufnahme beim Publikum fanden.

[7] 

Autoren wie Ernst Moritz Arndt, Karl August Varnhagen von Ense, E. T. A. Hoffmann, Arthur und Johanna Schopenhauer, Friedrich Rückert sowie Therese Huber ließen in diesen Jahrzehnten Bücher bei F. A. Brockhaus erscheinen und trugen damit zum wachsenden Ruf des Verlags bei, ebenso wie Johann Peter Eckermanns Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens (1836), um die es allerdings zum erbitterten Rechtsstreit zwischen Autor und Verleger kam – Eckermann warf Brockhaus vor, die vereinbarte Auflagenhöhe zu überschreiten, konnte dies jedoch vor Gericht nicht beweisen. Auch die Druckerei, in der ab 1834 innovative Dampfmaschinentechnik eingesetzt wurde (D 42 f.; vgl. D 135, 137–140 und öfter), prosperierte und trug zum Umsatz bei.

[8] 

Als der noch nicht zwanzigjährige Heinrich Brockhaus, der zur Vollendung seiner praktischen Ausbildung gerne ein Studium an der Leipziger Universität aufgenommen hätte, gemeinsam mit seinem älteren Bruder Friedrich nach dem Tod des Vaters im August 1823 die geschäftliche Mitverantwortung für den Verlag erhielt, wurde die Betreuung des Programms als sein spezielles Aufgabengebiet bestimmt. Daß Heinrich Brockhaus trotz dieser enormen beruflichen Belastung – die 1850 nach dem einvernehmlichen Ausscheiden des Bruders Friedrich (gest. 1865) noch anstieg – Zeit und Energie für ausgedehnte, mehrmonatige Reisen durch Deutschland und ins Ausland fand, ist eigentlich erstaunlich. Andererseits diente das Reisen, das für Brockhaus »ein potenzirtes Leben« bedeutete (D 539), zur Anbahnung oder Pflege von Geschäftskontakten (erwähnt werden z.B. die Schriftstellerin Ludmilla Assing und die Buchhändler Theodor Längner in Mailand, Julius Ebhardt in Padua und Hermann Loescher in Turin).

[9] 

Überhaupt bestanden genaue Vorstellungen davon, welche Aufgaben der Chef zu erledigen hatte und welche er besser an Mitarbeiter delegierte. Heinrich Brockhaus notierte hierzu in seinem Tagebuch:

[10] 
[30. März 1847] Die Leute wundern sich oft, wie ich durchkomme; das ganze Geheimniß heißt: keine Allotria treiben, keine Rückstände dulden, und um freie Zeit für die Leitung und freien Blick für das Ganze zu behalten, nur dasjenige selbst machen, was kein anderer ebenso gut machen kann. (D 316)
[11] 

Eine verantwortungsvolle Rolle nahm der langjährige Prokurist Ferdinand Bochmann (gest. 1852) ein. Nach dem Eintritt seiner Söhne Rudolf und Eduard in das Familienunternehmen verbrachte Heinrich Brockhaus zunehmend mehr Zeit auf dem 1847 erworbenen Landsitz »Berg« bei Dresden, wo er sich seinen privaten Studien, dem Ordnen der Privatbibliothek und dergleichen widmete.

[12] 

Inhalt und Charakter
der Tagebücher

[13] 

Die komplexe Textgattung Tagebuch läßt sich schwer inhaltlich zusammenfassen. Das gilt zumal bei einer Persönlichkeit wie Heinrich Brockhaus, der ein weit über Deutschland hinausreichendes Netzwerk von privaten und geschäftlichen Beziehungen pflegte. Dennoch lassen sich die meisten der Einträge – der Deutschland-Band beginnt unter dem Datum 1. März 1827, Notizen ab 1821 werden von Volker Titel in seiner biographischen Skizze berücksichtigt – ungezwungen in mehrere thematische Hauptgruppen verteilen, um Inhalt und Charakter der Tagebücher anschaulich werden zu lassen.

[14] 

Persönliches und Politisches

[15] 

Es gibt eine Vielzahl von Einträgen, in denen Heinrich Brockhaus sich selbst von seinen politischen und religiösen Vorstellungen Rechenschaft ablegt oder über Familiendinge spricht. Politisch war er durchaus ein fortschrittlicher Mann, dem bürgerlich-nationalen Liberalismus zugeneigt und sich als »entschiedener Republikaner« bezeichnend (ISP 282). Diese Grundhaltung bestimmte auch sein pragmatisches Verhältnis zu Buchhandelskollegen jüdischer Herkunft, denen er offenbar mehr Rechte einzuräumen bereit war als andere Branchenvertreter:

[16] 
[17. Mai 1829; über die Hauptversammlung des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler in Leipzig] [...] Endlich wurde über die Juden, die jetzt von der Buchhändler-Börse ausgeschlossen sind, hin und her gesprochen und viel gelärmt. [...] Auf jeden Fall hat man viel zu beschränkte Ansichten und verkennt ganz, was die Börse eigentlich sein soll und nur sein kann: eine Erleichterung des gegenseitigen Ordnens der Rechnungen, und wenn man dies verkennt, ihr irgendeine andere Bestimmung geben will, namentlich aber Beschränkungen wegen der Religion macht, so schadet man sich selbst wie der Allgemeinheit. Es ist wahrhaft lächerlich, jemand den Besuch der Messe zu verbieten, wenn man sich doch nicht scheut, mit ihm in Rechnung zu stehen! (D 80 f.)
[17] 

Bemerkenswert ist weiter ein Eintrag zu seiner eigenen religiösen Haltung. Der Protestant Brockhaus erweist sich als geistiges Kind der Zeit, in der entsprechende Ansichten verbreitet waren:

[18] 
[21. Juli 1828] Abends entstand ein religiöses Gespräch und ich nannte im Eifer die Märtyrer für das Christenthum unter den meisten Verhältnissen rechte Narren, was den jungen Rudolf Hasse sehr in Harnisch versetzte. Ich wurde von ihm und seiner Mutter als eine Art Gottesleugner angesehen, was ich nie sein kann, solange mein Herz so warm schlägt wie jetzt, solange ich durch die Natur auf ein höheres Wesen hingewiesen werde, und solange ich meiner Sinne mächtig bin. Aber so hoch Christus mir als Mensch steht, so kann ich ihn doch eben auch nur als einen Menschen ansehen, und das Christenthum gilt mir nur etwas als die beste Form zur Erreichung des Höchsten. Ich vermeide religiöse Gespräche und lasse gern jedem einen recht innigen Glauben; nur muß niemand verlangen, daß ich meine innerste Ueberzeugung hintansetzen soll. (D 75 f.)
[19] 

In solchen Aussagen tritt dem Leser der aufgeklärte, skeptische Bürger des 19. Jahrhunderts entgegen, der sich durch die offizielle Theologie und kirchliche Verkündigung nicht mehr angesprochen fühlt, aber dennoch grundsätzliche religiöse Fragen reflektiert.

[20] 

Heinrich Brockhaus,
der väterliche Firmenchef

[21] 

Die Notizen zu geschäftlichen Vorgängen nehmen natürlich eine mindestens ebenso große Rolle ein, wie diese privateren Dinge. Es finden sich Hinweise auf Erfolge (oder Mißerfolge), wiederholt werden die Übernahmen anderer Firmen im Zuge der Expansion des erfolgreichen Unternehmens erwähnt. Nicht immer konnten freilich Planungen realisiert werden, so 1825 bei den Verhandlungen um die Rechte an einer Goethe-Werkausgabe. Zwar empfing Goethe die Brüder Friedrich und Heinrich Brockhaus wohlwollend in seinem Haus in Weimar. Der Stuttgarter Verleger Cotta ging aus dem Bieten um das prestigeträchtige Publikationsunternehmen schließlich als Sieger hervor.

[22] 

Auffällig ist Heinrich Brockhaus’ Fürsorge für seine Angestellten, deren Wohlergehen seine ehrliche Anteilnahme galt. Es zeigt sich ein kaum mehr vorstellbares Verständnis des Unternehmens als familiärer Gemeinschaft, in welcher der Firmenpatriarch besondere Verantwortung trägt. Fähigen Mitarbeitern, von deren Potential Brockhaus überzeugt war, wurde aber selbständiges Handeln erlaubt. Das galt beispielsweise im Dezember 1861 für Paul Trömel (1832–1863), Leiter der Sortiments- und Antiquariatsabteilung von Brockhaus (vgl. D 508). Trömel, der sich als Bibliograph einen bleibenden Ruf erwarb (Schiller-Bibliothek, 1865 postum, 1924 nachgedruckt; Americana-Katalog, 1861), konnte ab Mai 1862 nur kurze Zeit als Teilhaber von F. A. Brockhaus wirken, er verstarb viel zu früh nach längerer Krankheit. Das war ein herber Verlust für die Firma.

[23] 

Buchhändlerische Vereinigungen –
der Leipziger Börsenverein

[24] 

Dem im April 1825 in Leipzig gegründeten Börsenverein der Deutschen Buchhändler und seinem Vertretungsanspruch stand Heinrich Brockhaus zunächst, wie manche seiner Kollegen, skeptisch gegenüber, das zeigt bereits seine oben zitierte Äußerung. Die Funktionäre des Börsenvereins, die sich in Ehrenämtern gefielen, verspottete er nach der Teilnahme an der 1826er Kantateversammlung: »Friedrich Campe präsidierte und nahm alles sehr wichtig« (D 33). Später veränderte sich diese Einschätzung, und Brockhaus war bereit, die Rolle der Standesvertretung anzuerkennen. Vermutlich hing dies mit dem Aufstieg und der Ausdifferenzierung des Leipziger Platzes zusammen, der eine moderne Organisation unabdingbar erscheinen ließ. 3 Eine Mitgliedschaft im Börsenverein war für Heinrich und Friedrich Brockhaus allerdings schon aus Branchen- und Kollegenrücksichten unverzichtbar (der Eintritt erfolgte 1827).

[25] 

Goethe, Mommsen, Schliemann,
Kaspar Hauser – die Zeitgenossen

[26] 

Eine weitere Hauptgruppe der Tagebuch-Eintragungen besteht aus Bemerkungen von Heinrich Brockhaus über seine Zeitgenossen. Diese Äußerungen sind meist nicht originell im sprachlichen oder literarischen Sinn, aber aufschlußreich und informativ. Brockhaus notierte beispielsweise im März 1832 über die in seiner Wahrnehmung zu geringe Resonanz auf den Tod Goethes:

[27] 
Ich bin gegen diejenigen, die der deutschen Nation Uebles nachreden, weil sie nicht wie die französische aufbraust; aber etwas mehr Enthusiasmus für das wirklich Große, das ihr angehört, wäre in der That zu wünschen. (D 113)
[28] 

Einträge zum rätselhaften Schicksal Kaspar Hausers finden sich im Tagebuch von 1828 bis 1833, wobei Brockhaus nach dessen Tod optimistische Erwartungen hegte, die sich nicht erfüllten: »Wahrscheinlich wird nun irgendeine Spur seiner Herkunft sich finden.« (D 136).

[29] 

Ein Hausbesuch bei dem Althistoriker Theodor Mommsen (1817–1903), der zu den eminenten Gelehrten des 19. Jahrhunderts zählt, wird im Februar 1867 wie folgt geschildert:

[30] 
(Berlin.) Bei Mommsen, dem Geschichtschreiber [sic] Roms, sieht es recht wie bei einem Gelehrten aus. Er hat einen Haufen Kinder, von denen sich einige herumtummelten, während andere krank daniederlagen. Er war verstimmt über die Militärdespotie, der wir entschieden entgegengingen. (D 565)
[31] 

Otto von Bismarck, dessen Ministerium ihm mehr als einmal Schwierigkeiten bereitete, gehörte gewiß nicht zu Brockhaus’ politischen Favoriten. Mehrfach geriet der Verlag in Konflikt mit den strengen preußischen Zensurbehörden. 1864 wurde »wieder einmal« die Deutsche Allgemeine Zeitung wegen ihrer kritischen Berichterstattung in Preußen verboten, wozu Brockhaus nüchtern vermerkte:

[32] 
[1. Dezember 1864] Wir sind ja den augenblicklichen Machthabern in Berlin lange unbequem gewesen, und da braucht man sich denn bei einem Ministerium Bismarck nicht über ein rasches Urtheil zu verwundern. Ob es formell gerechtfertigt ist, steht noch dahin [...]. (D 547)
[33] 

Eine von vielen wissenschaftsgeschichtlich aufschlußreichen Informationen ist, was in den Tagebüchern über den Archäologen Heinrich Schliemann (1822–1890) gesagt wird. Brockhaus, der eine Reihe der Publikationen Schliemanns verlegte, war sich der Zweifel, die viele Fachgelehrte an dessen Glaubwürdigkeit hegten (und die heute noch bestehen), bewußt. Dennoch besaß der enthusiastische Entdecker-Unternehmer in Heinrich Brockhaus einen »Gläubigen«, wie er es bezeichnete (D 615). Der Absatz, den Schliemanns Trojanische Altertümer (1874) beim Publikum fanden, wird den Verleger zumal erfreut haben.

[34] 

Heinrich Brockhaus’ Lektüren

[35] 

Aus der überreichen Fülle der Tagebücher soll abschließend nur auf Brockhaus’ Lektüreeindrücke eingegangen werden. Es versteht sich fast von selbst, daß ein Verleger den Überblick über den Markt der literarischen Neuerscheinungen behalten muß, um seine eigenen Programmentscheidungen treffen zu können. Bei Brockhaus, der über Jahrzehnte auch als engagierter Kunstsammler und Förderer der Leipziger Kunst- und Musikszene hervortrat, kam ein tieferes persönliches Interesse am zeitgenössischen geistigen und gesellschaftlichen Leben hinzu. Zwei Beispiele, mehr oder minder zufällig herausgegriffen: Im Frühjahr 1835 notierte Brockhaus knapp seine Zustimmung zu Friedrich Schleiermachers Vertrauten Briefen über Friedrich Schlegels Lucinde: »Es ist viel Schönes darin und man kann z.B. über falsche Schamhaftigkeit nicht treffender sprechen.« (D 145; es handelt sich um die von Karl Gutzkow postum herausgegebene Neuausgabe).

[36] 

Das Buch Uncle Tom’s cabin von Harriet Beecher-Stowe (1811–1896) ließ ihn grundsätzliche und im Blick auf den bevorstehenden amerikanischen Bürgerkrieg hellsichtige Betrachtungen zur katastrophalen Lage der Sklaven in den Vereinigten Staaten anstellen:

[37] 
[1. November 1852] In Amerika, in England wie in Deutschland macht ein Buch das ungeheuerste Aufsehen, dessen Verfasserin bisher völlig unbekannt war [...]. [...] ich habe die zwei Bände in einigen Tagen rasch hintereinander gelesen, selbst mehrere eigentlich dem Geschäft gewidmete Stunden darauf verwendet und bin aufs tiefste davon ergriffen worden [...]. Das Buch muß in seiner überzeugenden Einfachheit von ungeheuerer Wirkung sein, und man kann sich eigentlich nicht denken, wie einem solchen Schrei der empörten Humanität gegenüber das Sklavenwesen in den südlichen Theilen der Union sich wird erhalten können. Das Buch wird jedenfalls mehr wirken als alle Bestrebungen der Abolitionistengesellschaften. Wie dieser Schandfleck, der am meisten einer freien Republik unwürdig ist, noch zuletzt wird beseitigt werden, ist schwer zu sagen; versteht es aber die Gesetzgebung nicht, hier allmählich einzulenken und einen vernünftigen Uebergang zu bereiten, so werden gerade von diesem Punkte aus die gesammten Verhältnisse der Vereinigten Staaten sich neu gestalten nach furchtbaren Krämpfen und Zuckungen. (D 418 f.)
[38] 

Die Tagebücher
als Nachschlagewerk

[39] 

Zu den hervorhebenswerten Aspekten der vorliegenden Edition gehört der ausführliche Stellenkommentar – zumeist handelt es sich um Nachweise zu Personen und der von Brockhaus erwähnten Literatur, herangezogen wurde hierzu vielfach die klassische 14. Auflage der Brockhaus Enzyklopädie – und die Erschließung durch Personenregister (der Reiseband enthält zusätzlich ein Ortsverzeichnis). Hierdurch sind die Tagebücher als Nachschlagewerk benutzbar.

[40] 

Gewünscht hätte man sich lediglich in der Editorischen Notiz des Herausgebers etwas detailliertere Angaben zum Schicksal der wahrscheinlich verlorenen Originaltagebücher. Verbrannten sie im Dezember 1943 während der schweren alliierten Luftangriffe auf Leipzig (vgl. ISP 13 und D 7)? Oder wurden sie viel früher, eventuell bereits in den 1880er Jahren, von den Söhnen Heinrich Brockhaus’ nach Fertigstellung ihres oben erwähnten fünfbändigen Privatdrucks zerstört, »um einen späteren Missbrauch zu verhindern« (ISP 13)? Welche Hinweise liegen vor für die eine oder die andere Version der Ereignisse? Welche Archivnachforschungen wurden in dieser Angelegenheit unternommen? Diese Fragen sind zumindest für Spezialisten angesichts der großen Bedeutung dieser Dokumente interessant.

[41] 

Jedoch fallen diese Anmerkungen angesichts der Vorzüge der Edition kaum ins Gewicht. Für die Leipziger Buchhandels- und Verlagsgeschichte, aber auch für die sozial- und kulturhistorisch orientierte Literaturwissenschaft sowie die Bürgertumsforschung liegt mit Heinrich Brockhaus’ Tagebüchern eine wichtige Quelle in neuer Gestalt vor.


Dr. Björn Biester
Starkenburgring 3
DE - 63069 Offenbach am Main

Ins Netz gestellt am 16.11.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Dr. Thomas Keiderling. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Natalia Igl.

Empfohlene Zitierweise:

Björn Biester: Zur Neuedition der Tagebücher des Leipziger Verlegers Heinrich Brockhaus. (Rezension über: Heinrich Brockhaus: Tagebücher. Italien, Spanien und Portugal 1834 bis 1872. Hg. von Volker Titel. Erlangen: filos-Verlag 2003. – Heinrich Brockhaus: Tagebücher. Deutschland 1821 bis 1874. Hg. von Volker Titel. Erlangen: filos-Verlag 2004.)
In: IASLonline [16.11.2004]
URL: <http://iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/Biester398089830X_1048.html>
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Anmerkungen

2005 sollen die Tagebücher der Orient-Reisen von Heinrich Brockhaus veröffentlicht werden. Es existieren außerdem weitere Reiseberichte aus England und Frankreich, deren Publikation geplant ist. 1873 hatte Heinrich Bockhaus zwei umfangreiche Bände unter dem Titel Reisetagebuch aus den Jahren 1867 und 1868 in Leipzig privat drucken lassen (Untertitel: Island, England, Schottland, Irland, Frankreich, Algerien, Tunis und Karthago bzw. Spanien und Portugal. Zweiter Aufenthalt in Frankreich und England); dieses Vorhaben wird wohl in seiner Vorbereitungsphase 1870 im Tagebuch indirekt erwähnt: »[10. März 1870] Dann ward eine Art Tauffest gefeiert, indem gewissermaßen die ersten Bogen von zwei Unternehmungen, die mich noch sehr in Anspruch nehmen werden, aus der Taufe gehoben wurden: der erste Bogen unsers großen raisonnirenden Verlagskatalogs und der erste Bogen meiner Tagebücher, Auszüge über meine letzte große Reise enthaltend.« (D 579)   zurück
Nur als Auswahl selbständiger Veröffentlichungen seien genannt Volker Titel: Geschäft und Gemeinschaft. Buchhändlerische Vereine im 19. Jahrhundert. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 52 (1999), S. 1–227; Sabine Knopf / Volker Titel: Der Leipziger Gutenbergweg. Geschichte und Topographie einer Buchstadt. Beucha: Sax 2001.   zurück
Vgl. die folgende Bemerkung: »[23. Februar 1869] [...] Die Bedeutung der buchhändlerischen Geschäfte und Beziehungen in Leipzig ist in den letzten zwanzig bis fünfundzwanzig Jahren kolossal gewachsen. Sich sagen zu dürfen, daß man auch an der Spitze dieser Geschäfte steht, von keiner andern Firma an Umfang und Verzweigtheit übertroffen wird, erfüllt einen doch mit einiger Befriedigung. Sie wirkt aber nie auf mich wie eine Stimulanz der Eitelkeit, sondern kann mich nur anregen, weiter nach dem Höchsten zu streben.« (D 574)   zurück