Bosse über Fetz / Kastberger: Von der ersten zur letzten Hand

IASLonline


Anke Bosse

Literarische Edition in Österreich
— seit fast 200 Jahren.
Ein Überblick

  • Bernhard Fetz / Klaus Kastberger (Hg.): Von der ersten zur letzten Hand. Theorie und Praxis der literarischen Edition. (Österreichisches Literaturarchiv — Forschung 7) Wien / Bozen: Folio Verlag 2000. 160 S. Kart. DM 48,90.
    ISBN 3-85256-155-8.


Inhalt

1. Ziele und Appelle | 2. Ergebnisse | 3. Kritik
4. Zu den einzelnen Beiträgen
Philipp Hafner: Kommentierte Werkausgabe | Ferdinand Raimund : Edition aus Bühnenmanuskripten | Johann Nepomuk Nestroy: Die neue historisch-kritische Ausgabe | Franz Grillparzer: Der Nachlaß und die historisch-kritische Ausgabe | Georg Büchner: Karl Emil Franzos als Editor | Adalbert Stifter: Die neue historisch-kritische Ausgabe | Franz Michael Felder: Aus meinem Leben | Franz Kafka: Stationen eines Editionsprozesses | Georg Trakl: Innsbrucker Ausgabe | Das Karl-Kraus-Archiv | Ödön von Horváth: Voraussetzungen einer kritisch-genetischen Ausgabe | Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften | Ludwig von Ficker: Briefwechsel | Ludwig Wittgenstein: Gesamtbriefwechsel | Ludwig Wittgenstein: Tagebücher | Grete Gulbransson: Tagebücher | Ferdinand Ebner: Das Tagebuch aus Mühlau | Fritz von Herzmanovsky-Orlando: Zwei Editionen | Heimito von Doderer: Historisch-kritische Edition der Dämonen | Ingeborg Bachmann: Das Gier-Fragment | Christine Lavant: Der Gesamtbriefwechsel | Erich Fried: Herausforderungen einer Leseausgabe | Albert Drach: Projekt einer Werkausgabe | Reinhard Priessnitz: Werkausgabe | Friederike Mayröcker: Modell einer genetischen Analyse | Ernst Jandl: Überlegungen zu einer werkgenetischen Ausgabe

Ausgangspunkt des ansprechend gestalteten Sammelbands ist die grundlegende Einsicht in die prägende Vermittlerrolle des Editors: Indem er die Form der Überlieferung literarischer Werke bestimmt, bildet er die wesentliche Schaltstelle zwischen Autor und Leser. Dabei konzentriert sich der Band auf die Rolle österreichischer Editoren bei der Vermittlung österreichischer Literatur in den letzten 200 Jahren (mit einer Ausnahme: das Werk Georg Büchners). Vorgelegt werden 26 kurze, 3- bis 9-seitige Fallstudien, die in ihrer ersten Hälfte kundige Einblicke in ältere, gerade abgeschlossene, laufende oder projektierte Editionen bieten. In ihrer zweiten Hälfte legen sie dazu einladend gestaltete Buch- und / oder Manuskriptillustrationen vor. Impuls und Koordination dieses Unternehmens gingen vom Österreichischen Literaturarchiv aus, dem die beiden Herausgeber, Bernhard Fetz und Klaus Kastberger, angehören.

1. Ziele und Appelle

Die publikumswirksame Darbietung - begrenzter Beitragsumfang, reichhaltige Illustrationen — kommt den Zielsetzungen des Sammelbands fraglos zugute:

  • Über das Fachpublikum hinaus wird auf diese Weise ein größerer Interessentenkreis angesprochen.

  • Es wird ein Überblick über die editorischen Leistungen der österreichischen Literaturarchive und der österreichischen Germanistik seit fast 200 Jahren geboten (Fetz / Kastberger, S. 6), und zwar in Form einer "kritische[n] Sichtung des Vorliegenden", einer "Beschreibung des Status quo" und einer "Präsentation von Projekten" (Wendelin Schmidt-Dengler, S. 7).

  • Es soll explizit kein "Rechenschaftsbericht" oder eine "Leistungsschau" (ebd.) vorlegt werden. Aber es geht durchaus darum, die noch anstehenden Aufgaben zu umreißen: also darum, auch die jüngere Forschergeneration für das Edieren zu gewinnen und damit Kontinuität zu sichern (S. 8), darum, die in diesem Band erstmals dokumentierte Koordination zwischen Archiven, Handschriftensammlungen und Lehrenden an Universitäten in Zukunft zu verstärken (S. 10) und darum, insbesondere die (ökonomische) Förderung editorischer Unternehmungen auch in Hinkunft zu intensivieren (ebd.).

Dem breiten Publikum, vor allem aber den für Förderung Verantwortlichen gegenüber kann gar nicht oft genug betont werden, was Wendelin Schmidt-Dengler eingangs zu bedenken gibt:

Die Befassung mit Ausgaben hat immer Konjunktur, denn Bedarf für sie gibt es weit über die Fachgrenzen hinaus, und nirgends lassen sich die Standards im Umgang mit der literarischen Tradition eines Landes so deutlich und genau bestimmen wie durch das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein fachmännisch besorgter Editionen von Werken namhafter Autorinnen und Autoren. (S. 7)

Wie der vorliegende Band zeigt: In Österreich hat man hier Beachtliches geleistet. Doch sind Editoren wie fördernde Institutionen und Personen weiterhin in der Verantwortung, wenn man sich vor Augen hält, was projektiert ist bzw. noch ganz aussteht. Nach Auskunft des vorliegenden Sammelbandes wären dies etwa Gesamtausgaben Ferdinand Raimunds, Marie Ebner-Eschenbachs, Ferdinand von Saars, eine kritisch-genetische Ödön-von-Horváth-Ausgabe, eine neue historisch-kritische Grillparzer-Ausgabe, genetische Einzelausgaben der Werke Karl Kraus', eine Neuauflage der Hermanovsky-Orlando-Ausgabe von 1984—1994, eine werkgenetische Jandl-Ausgabe u.v.m.

2. Ergebnisse

Aus den chronologisch gereihten Einzelbeiträgen des Bands lassen sich signifikante Entwicklungen und Typen in der Editionsphilologie (natürlich nicht nur Österreichs) seit Beginn des 19. Jahrhunderts nachzeichnen:

  • In der ältesten Generation von Editoren finden sich naheliegenderweise die meisten, deren Verdienst darin besteht, mit ihren Ausgaben eine Reihe von Autoren vor dem Vergessen bewahrt zu haben (z.B. Sonnleithner für Hafner, Franzos für Büchner, Brod für Kafka). Es handelt sich meist um textkritisch anspruchslose Leseausgaben.

  • In dieser Generation finden sich aber zugleich jene Vertreter, die sich quasi zu Co-Autoren aufschwangen, also am radikalsten in den Autor-Text eingriffen, die (ohne Ausweis) auswählend, normierend und emendierend einen eigenen Text erstellten oder nach eigenen Interessen stilisierten (z.B. Chiavacci / Ganghofers Nestroy-Ausgabe, Franzos' Büchner Ausgaben, Torbergs Hermanovsky-Orlando-Ausgabe).

  • Dieses selbstherrliche Editorenverhalten, die daraus resultierende Unverläßlichkeit der Ausgaben, der Wissenschaftsboom wie auch die Wissenschaftsgläubigkeit des 19. Jahrhunderts waren Auslöser für die dann einsetzenden Großunternehmen der historisch-kritischen Ausgaben mit umfänglichen Apparaten. Der immense personelle, materielle und zeitliche Aufwand hat nicht immer zu überzeugenden Resultaten geführt, den Abschluß solcher Ausgaben verzögert oder gar verhindert (z.B. Sauer / Backmanns Grillparzer-Ausgabe).

  • Inzwischen stellt sich daher prinzipiell die Frage nach der Haltbarkeit und Machbarkeit von historisch-kritischen Ausgaben. Es zeichnet sich ab, daß sie in Zukunft nicht mehr in aufwendiger Buchform mit tendenziell benutzerunfreundlichen Apparaten und zu hohen Preisen erscheinen, sondern immer mehr in Form eines gedruckten Lesetexts, der begleitet ist von einem digitalisierten, textgenetisch angelegten Apparat (ggf. mit Faksimiles der Manu- oder Typoskripte) und Kommentar auf CD-Rom oder im Internet (Witiko in der historisch-kritischen Stifter-Ausgabe, Nachlaß zu Musils Mann ohne Eigenschaften, Grete Gulbranssons Tagebücher, Ferdinand-Ebner-Ausgabe, Ausgabe der Dämonen von Doderer, Lavant-Briefwechsel).

  • Es zeigt sich überhaupt ein prinzipeller Übergang zur genetischen Ausgabe und zu Faksimile-Editionen mit diplomatischer Transkription (Historisch-kritische Kafka-Ausgabe, Innsbrucker Trakl-Ausgabe, Forderung nach kritisch-genetischer Horváth-Ausgabe) wie zur partiellen Digitalisierung, die auch komplexe textgenetische Prozesse benutzerfreundlich aufzubereiten fähig ist.

  • Den an Textgenese Interessierten sei der gleichfalls von Bernhard Fetz und Klaus Kastberger herausgegebene Band Der literarische Einfall. Über das Entstehen von Texten, Wien 1998 ( =Profile 1) empfohlen. Er bietet sich als Komplementärlektüre an, da er z.T. dieselben Autor / inn / en behandelt wie der vorliegende: Bachmann, Doderer, Drach, Fried, Herzmanovsky-Orlando, Horváth, Jandl, Mayröcker, Nestroy u.a.

  • Entgegen der herrschenden Meinung, Kommentare hätten gegenüber edierten Texten eine entschieden kürzere Verfallszeit, beweisen hier vorgeführte Beispiele die immense Bedeutung des Kommentars als kulturelles Gedächtnis, als Speicher eines sonst für immer verlorenen Wissens — und damit seine ungebrochene Nachhaltigkeit (z.B.: Sonnleithners Hafner-Ausgabe). Das Prinzip >Text geht vor Kommentar< ist an sich selbstverständlich nicht anfechtbar, führt aber zum Bedauern auch heutiger Editoren immer wieder — und zwar aus Aufwands- und vor allem ökonomischen Gründen — zum Kommentarverzicht.

  • Bei Brief- und Tagebuchausgaben zeichnet sich (gegenüber dem Text) ein besonders hoher Bedarf an Kommentierung ab sowie eine Tendenz zur rein digitalen Edition (vgl. die Beiträge zu Ludwig von Ficker, Ferdinand Ebner, Ludwig Wittgenstein, Grete Gulbransson).

3. Kritik

Einige Punkte bleiben zu kritisieren. So wäre etwa zu wünschen gewesen:

  • eine bessere Verknüpfung zwischen Beitrag und Illustrationen (Beiträge zu Hafner, Nestroy, Felder, Kraus, Horváth, Wittgenstein-Briefwechsel, Gulbransson, Lavant, Drach); entweder wären im Beitrag Verweise wie "(Abb. 1)" etc. nötig gewesen oder in vielen Fällen ein anschauliches Beispiel aus den vorgestellten Editionen im Illustrationsteil.

  • eine konkretere Vorstellung bzw. Beurteilung laufender bzw. demnächst erscheinender Editionen (Beiträge zu Raimund, Horváth, Priessnitz, Jandl).

  • ausdrücklichere Hinweise auf Desiderata, was gerade für zukünftige Editionsaufgaben wegweisend gewesen wäre: z.B. eine kommentierte Raimund-Ausgabe, genetische Einzelausgaben von Werken Karl Kraus', eine digitale Faksimilierung der Zeichnungen Fritz von Herzmanovsky-Orlandos, eine Edierung des Nachlasses Erich Frieds, genetische Werkausgabe Ernst Jandls.

4. Zu den einzelnen Beiträgen

Philipp Hafner: Kommentierte Werkausgabe (Johann Sonnleitner)

Eine "kleine editorische Sensation" soll dem Editor Joseph Sonnleithner 1812 mit seiner dreibändigen kommentierten Ausgabe der Werke Philipp Hafners gelungen sein, denn ohne sie wäre Hafner (1735—1764) vergessen und wohl nicht — wie inzwischen längst — als Begründer der (Alt-)Wiener Volkskomödie anerkannt. Weitere Verdienste Sonnleithners liegen im Kommentarbereich: ausführliche Erläuterung süddeutscher Varietäten, die Übersetzung des umfangreichen Schimpfwortrepertoires Hafnerscher Figuren, Anmerkungen zur Alltags-, Lebens- und Eßkultur im ausgehenden 18. Jahrhundert.

Zu bemängeln ist, daß dies der Beitrag nicht präzise genug mit den nachfolgenden Illustrationen zu Sonnleithners Hafner-Ausgabe verknüpft. Und wenn die spätere Hafner-Ausgabe Ernst Baums als solid ediert, fachkundig kommentiert, aber leider unvollständig bezeichnet und eine neue zweibändige Hafner-Ausgabe angekündigt wird, so ist schlicht unverständlich, warum deren Zielsetzungen auf dem Hintergrund der Ausgaben Sonnleithners und Baums hier nicht wenigstens skizziert werden.

Ferdinand Raimund : Edition aus Bühnenmanuskripten (Gerhard Renner)

Der Beitrag umreißt die verwickelte Editionsgeschichte der Dramen Raimunds, die heikle, weil auf stark variierenden Bühnenmanuskripten beruhende Textherstellung sowie Überlieferungsprobleme. Von den vier Ausgaben — Johann Nepomuk Vogls (1837), Carl Grossys und August Sauers (1881), Eduard Castles (1924—1934) und Fritz Hadamowskys (1971) — scheint die letztgenannte mit der je "ersten Abschrift" der Dramen die sicherste Textbasis zu bieten; Castles hingegen zeichnet sich durch das avancierteste (leider nur ansatzweise realisierte) Konzept aus: die Darstellung der Textentwicklung von den ersten erhaltenen Niederschriften und Entwürfen Raimunds bis zur frühesten erhaltenen Bühnenabschrift in einem umfänglichen Lesartenapparat.

Wenig hilfreich ist, daß Renner nicht weiter erläutert, inwiefern die neueste Raimund-Ausgabe von 1971 als zuverlässig anzusehen ist, und daß er das bisherige Fehlen eines Kommentars nicht klar genug als Desideratum herausstellt. Das Geleistete zu bilanzieren und zu beurteilen sowie das Fehlende aufzuzeigen, ist aber Sinn und Zweck einer Editionsgeschichte.

Johann Nepomuk Nestroy: Die neue historisch-kritische Ausgabe (Walter Obermaier)

Auch hier wird eine Editionsgeschichte geboten, allerdings mit dem Ziel, die neue historisch-kritische Nestroy-Ausgabe zu legitimieren, an der Obermaier beteiligt ist und die ab Dezember 2001 vollständig vorliegen soll. Sie setzt sich ab gegen die Ausgabe von Vincenz Chiavacci und Ludwig Ganghofer (1890 / 91), die nach "pietätvollem Ermessen" je eine Fassung der Nestroy-Stücke boten (ohne Textvarianten oder Erläuterungen). Daß sie >ihren< Text normierten, hat sich als fatal erwiesen, da einige Stücke Nestroys nur noch in dieser Fassung vollständig überliefert sind. Bezeichnenderweise übergeht Obermaier, daß in diesen Fällen auch die neue HKA ihr Ziel, den "authentischen Stücktext" anzustreben, nicht einlösen kann. Auch Otto Rommels Nestroy-Ausgabe (1948 / 49) wird verworfen wegen nicht mehr nachvollziehbarer editorischer Entscheidungen und fragwürdiger Kategorisierung der Werke Nestroys.

Ziel der neuen HKA ist, auf sicherer philologischer und historischer Grundlage stehende Texte der dramatischen Produktion Nestroys inklusive einer möglichst umfassenden Dokumentation des Schaffensprozesses (von ersten Einfällen bis zu Reinschriften und sogar Abschriften von fremder Hand in Form von Theatermanuskripten, Rollenbüchern, Drucken, Zensurmanuskripten und Partituren) mit ausführlichen Erläuterungen zu bieten.

An einem signifikanten Beispiel arbeitet Obermaier die Spezifika der drei Nestroy-Ausgaben heraus — schade, daß Hinweise auf die zugehörigen Illustrationen wie "(Abb. 1)" etc. im Haupttext fehlen.

Franz Grillparzer: Der Nachlaß und die historisch-kritische Ausgabe (Hermann Böhm)

Noch im Todesjahr Grillparzers sorgten seine Haupterbin Katharina Fröhlich und das große Verlagsinteresse für eine 10-bändige Ausgabe — eindeutig übereilt, auf der Basis eines ungeordneten Nachlasses und somit in vielem fehlerhaft. Der Gesamtnachlaß ging 1882 an die Stadt Wien, worauf August Sauer 1909 eine historisch-kritische Ausgabe begann, allerdings vor Abschluß der Nachlaß-Erschließung. Folgt das typische Schicksal vieler HKA's: mangelnde Systematik, ständige Revisionen und eine nicht realisierbare Projektierung. Auch wenn Reinhold Backmann nach dem Tod Sauers die Ausgabe weiterführte und 1948 abschloß, bleiben bis heute Mängel wie fehlende Register und vor allem fehlende Verweise auf die Originalhandschriften im Nachlaß, deren Inventarisierung ja erst später erfolgte. Eine Lösung — so läßt Böhm am Ende erkennen — böte nur eine moderne neue HKA.

Georg Büchner: Karl Emil Franzos als Editor (Jan-Christoph Hauschild)

Unbestritten ist die bahnbrechende Wirkung von Franzos' Edition, die 1879 die Neu-Entdeckung Büchners einleitete. Auch wenn Franzos immer wieder von den eigenen editorischen Grundsätzen abwich (insbesondere vom authentischen Wortlaut der Manuskripte), so ist doch beeindruckend, wie er gegen die zeitgenössische Zensur, in dauernder Auseinandersetzung mit Ludwig Büchner und mit unermüdlicher publizistischer Werbung im Vorfeld seiner Edition für die Texte Georg Büchners stritt — insbesondere für das Woyzeck-Fragment und den Hessischen Landboten. Doch erst 1902 sollte mit Franzos' zweiter, nur im Einband abweichender Ausgabe der Durchbruch gelingen — dann aber fulminant und nachhaltig.

Adalbert Stifter: Die neue historisch-kritische Ausgabe (Alfred Doppler / Wolfgang Wiesmüller)

Die neue HKA der Werke Adalbert Stifters (Beginn 1978, Abschluß der poetischen Werke 2003) ist initiiert worden durch die Unzulänglichkeiten der älteren historisch-kritischen "Prag-Reichenberger-Ausgabe" (1904 ff.) und durch die Fülle seither bekannt gewordenen Materials zu den Studien, zu den Bunten Steinen, zum Nachsommer, zur Mappe meines Urgroßvaters und zu Witiko. Besonders anschaulich — und übrigens auch einmal sinnvoll mit den Illustrationen verknüpft — stellen Doppler / Wiesmüller das höchst anspruchsvolle, vor allem textgenetisch orientierte Edieren der umfänglichen handschriftlichen Überlieferung zu Witiko dar. Die Entscheidung, sie benutzerfreundlich aufbereitet ins Internet zu stellen, ist zugleich auch als zukunftsweisend für die weitere Entwicklung von HKA's anzusehen.

Franz Michael Felder: Aus meinem Leben (Jürgen Thaler)

Einen Sonderfall bildet der "Vorarlberger Landesdichter" Felder, insofern regionales Interesse (getragen vom Franz-Michael-Felder-Verein in Bregenz) das Entstehen der zwölfbändigen Ausgabe seiner Werke bewirkte (1969—1995). Am Beispiel der Autobiographie Aus meinem Leben (Bd. 4) schildert Thaler das Problem lückenhafter Überlieferung und das Entstehen editorischer Mißverständnisse, denn dem Herausgeber des Bandes, Walter Strolz, entging, daß seine Textgrundlage nicht identisch mit der der Erstausgabe von 1904 war.

Strolz' Absicht, mit den von ihm verzeichneten Textdifferenzen die Emendationen in der Erstausgabe nachträglich auszuweisen, geht also fehl; und da noch dazu die Textgrundlage der Erstausgabe verschollen ist, kann nicht mehr rekonstruiert werden, auf wen die teilweise gravierenden Textdifferenzen zurückgehen. Thaler bietet dazu ein anschauliches Beispiel, das allerdings per Verweis direkter mit den Illustrationen zu verbinden gewesen wäre.

Franz Kafka: Stationen eines Editionsprozesses (Wilhelm Hemecker)

Die Editionsgeschichte von Kafkas Roman Der Process spiegelt geradezu idealtypisch drei Stufen in der Entwicklung der neueren Editionsphilologie wider:

Vom Editor, der das Werk einerseits >rettet<, andererseits aber in den Text normierend eingreift (hier: Max Brod), zum Editor einer kritischen Ausgabe, die in getreuer Umschrift den Text der originalen Handschriften wiedergibt, mit einem umfassenden textkritischen Apparat begleitet, aber editorisch noch insofern eingreift, als sie die überlieferten Roman-Fragmente eigenmächtig nach der Handlungslogik anordnet (hier: Malcolm Pasley). Es folgt die den Editor maximal zurücknehmende Faksimile-Edition mit diplomatischer Umschrift ohne lineare, handlungsorientierte Anordnungen des Editors (hier: Roland Reuß). Fraglos stellt sie den Leser in die Verantwortung, die Texte selbständig als Partitur zu lesen in ihrem spatialen Neben-, In- und Übereinander. Dies entspricht aber — entgegen Hemeckers etwas überzogener Formulierung — gerade nicht der "Ideologie der historisch-kritischen Ausgabe". Im Gegenteil: die Selbstbezeichnung dieser Ausgabe als "historisch-kritisch" ist, da mit guten Gründen keine Textkritik betrieben wurde, fraglich. Es herrscht hier wie überhaupt ein Klärungsbedarf, was unter "historisch-kritisch" heute zu verstehen ist.

Georg Trakl: Innsbrucker Ausgabe (Eberhard Sauermann)

Auch die noch laufende Innsbrucker Ausgabe der Werke Georg Trakls folgt Prinzipien, die sich immer mehr durchsetzen: das Verständnis des literarischen Textes als Prozeß, das Interesse für die Schreib- und Arbeitsweise des jeweiligen Autors, die Anerkennung aller Textstufen als gleichwertig und daher darstellenswert, der daraus folgende Verzicht auf Trennung von Text und Apparat, die chronologisch geordnete Handschriftendarstellung in Faksimiles mit begleitender diplomatischer Transkription. Darin setzen sich die Herausgeber Eduard Sauermann und Hermann Zwerschina, dem aktuellen Trend entsprechend, dezidiert gegen frühere Trakl-Ausgaben ab, die den jeweils letzten Textstand als >gültig< edierten. Außerdem bietet ihre Ausgabe Trakls Briefe und die Gegenbriefe in chronologischer Abfolge. Die in Sauermanns Beitrag abrupt folgenden zwei Beispiele — Edition des Gedichts Das Gewitter und Edition des Briefwechsels — sind überzeugend, eine leserorientierende Hinleitung zu ihnen wäre allerdings sinnvoll gewesen.

Das Karl-Kraus-Archiv (Hermann Böhm)

Symptomatisch ist die Geschichte des Karl-Kraus-Nachlasses — in bezug auf die unwiederbringlichen Verluste, die dennoch überlieferte Fülle an Material und die Bemühungen um eine möglichst geschlossene Archivierung. Daß nach der Nachlaß-Zusammenführung in der Wiener Stadtbibliothek eine historisch-kritische Karl-Kraus-Ausgabe nicht zustande kam, ist überaus bedauernswert — doch immerhin liegt eine solide Studienausgabe vor (Hg. Christian Wagenknecht, 1987—1994).

Die sinnvolle Lösung für die Zukunft, die Böhm expliziter hätte herausarbeiten und im Illustrationsteil dokumentieren können, dürfte wohl in exemplarischen genetischen Einzelausgaben bestehen (vgl. Kraus' Literatur oder Man wird doch da sehn, hg. Martin Leubner, 1996) bzw. in der Erschließung unveröffentlichten Materials (vgl. Böhms Ausgabe der Prozeßakten Kraus' und seines Anwalts Oskar Samek).

Ödön von Horváth: Voraussetzungen einer kritisch-genetischen Ausgabe (Klaus Kastberger)

Zur Legitimierung einer kritisch-genetischen Horváth-Ausgabe kritisiert der Beitrag die mehrfach überarbeiteten Ausgaben Traugott Krischkes und wirft ihnen u.a. ungenügende philologische Sorgfalt, unklare Editionskriterien, mangelhafte Wiedergabe der Handschriften-Topographie und in vielen Fällen ungeklärte werkgenetische Zusammenhänge vor. So berechtigt die Vorwürfe sein dürften, wären sie doch mit einem schlagenden Beispiel zu belegen gewesen — am besten in Kontrast zum bereits laufenden Projekt einer kritisch-genetischen Ausgabe der Geschichten aus dem Wiener Wald. Deren Ziele (Orientierung an einzelnen Etappen des Horváthschen Produktionsprozesses, saubere Isolierung einzelner Textstufen, präzise Transkription, genetische Reihenfolge) hätten so sinnvoll dokumentiert und im Illustrationsteil zur Geltung gebracht werden können.

Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften (Walter Fanta)

Unbestritten nimmt die 1992 erschienene CD-Rom zu Musils literarischem Nachlaß (hg. von Friedbert Aspetsberger, Karl Eibl und Adolf Frisé) eine Vorreiterrolle in der Entwicklung digitalisierter Editionen ein. Fanta zeichnet die Entstehung der CD-Rom und noch bestehende Defizite nach: ein verläßlicher, kritischer Text des Manns ohne Eigenschaften für das breite Publikum, eine ausführliche Kommentierung der digitalisierten Transkriptionen, digitalisierte Faksimiles und eindeutige Bezüge zwischen den Textfragmenten.

Vielversprechend sind daher die laufenden Projekte: eine zweite, verbesserte und erweiterte Auflage der CD-Rom mit ausführlichem Begleittext in Buchform sowie einem Kapitelkommentar zum Mann ohne Eigenschaften, eine fünfbändige Leseausgabe auf textkritischer Basis aus dem Nachlaß sowie eine textkritische Version des Dramas Die Schwärmer, die mit ihren Referenztexten im Nachlaß digital vernetzt werden soll.

Diese Projekte zeigen, wie impulsgebend digitale Editionen sein können, aber auch, daß damit nicht die Ablösung der Buch-Edition, sondern vielmehr eine sinnvolle Vernetzung beider Medien die Editionsphilologie weiterhin bestimmen wird.

Ludwig von Ficker: Briefwechsel (Walter Methlagl / Anton Unterkircher)

Der erste von insgesamt fünf Beiträgen, die Editionen des Innsbrucker Brenner-Archivs vorstellen, gilt der vierbändigen Studienausgabe mit dem Briefwechsel Ludwig von Fickers. Ihr Schwerpunkt ist eindeutig die kultur-, geistes- und zeitgeschichtliche Dokumentation im Kommentar. Er soll das literarhistorisch bedeutende Netzwerk der Personen-Beziehungen mit der Geschichte des "Brenner" verknüpfen. Allerdings ist der Kommentar, wie selbstkritisch angemerkt wird, manchmal überfrachtet und leserunfreundlich. Nur eine — heute mögliche — digitalisierte Vernetzung der Einzelstellenkommentare sei hier eine sinnvolle Alternative. Bleibt hinzuzufügen, daß dieser Hinweis in Zukunft von den Verantwortlichen ähnlicher Projekte produktiv umgesetzt werden möge.

Ludwig Wittgenstein: Gesamtbriefwechsel (Monika Seekircher)

Die am Innsbrucker Brenner-Archiv entstehende Erstellung und Kommentierung des Gesamtbriefwechsels von Ludwig Wittgenstein soll Brieftexte, Einzelstellenkommentare, übergreifende Kommentare sowie diverse Verzeichnisse digital erfassen, wodurch die diversen Texte sinnvoll vernetzbar sind. Deshalb wäre es hier dringend nötig gewesen, neben den abgebildeten Brieffaksimiles auch Abbildungen ihrer digitalisierten Transkriptionen inklusive wenigstens eines Einzelstellenkommentars zu bieten.

(Der Beitrag von Seekircher wird hier entgegen der Anordnung im vorliegenden Band vor dem Beitrag Somavillas besprochen — die Zusammenstellung der beiden Briefwechsel-Editionen und dann der drei Tagebuch-Editionen des Brenner-Archivs wäre sinnvoller gewesen.)

Ludwig Wittgenstein: Tagebücher (Ilse Somavilla)

Die Dynamik von Wittgensteins Philosophie und die seines Schreibens steht im Mittelpunkt der gleichfalls im Brenner-Archiv erstellten Edition von Ludwig Wittgensteins Tagebüchern (bisher erschienen: 1930—1932, 1936—1937). Geboten werden eine diplomatische Transkription und eine Lesefassung (wozu Somavilla im Illustrationsteil ein anschauliches Beispiel vorlegt) sowie ein umfassender Kommentar. In Planung ist die Edition der Tagebücher aus den Jahren 1914—1917; gemäß den Originalen soll sie erstmals die philosophischen, in Normalschrift verfaßten Passagen gemeinsam mit den persönlichen, in Geheimschrift geschriebenen Partien bieten.

Grete Gulbransson: Tagebücher (Ulrike Lang)

Grete Gulbranssons zentrale Rolle in der Münchner Kulturszene um die Jahrhundertwende und Anfang des 20. Jahrhunderts, ihre Kontakte zu bedeutenden Künstlern und Schriftstellern stehen gewiß außer Frage und sind der Dokumentation wert. Wiederum am Brenner-Archiv erarbeitet Lang seit 1993 aus Gulbranssons 222 Diarien eine fünfbändige, kommentierte Auswahledition mit verbindenden Zwischentexten und ausführlicher Bilddokumentation, begleitet von digitalisierter Transkription und Speicherung des gesamten Nachlaßmaterials auf CD-Rom (inklusive der umfangreichen Korrespondenz Gulbranssons). Nicht nur zu Foto- und Bildmaterial dieser Edition, sondern auch Beispiele aus der laufenden Editionsarbeit wären in deren Interesse in den Illustrationen-Teil des vorliegenden Beitrags aufzunehmen gewesen.

Ferdinand Ebner: Das Tagebuch aus Mühlau (Richard Hörmann / Monika Seekircher)

Der ebenfalls im Brenner-Archiv lagernde Nachlaß Ferdinand Ebners, den Hörmann und Seekircher als neben Wittgenstein bedeutendsten österreichischen Sprachdenker des 20. Jahrhunderts vorstellen, wird seit 1999 digital erfaßt. Zusätzlich zur Computeredition sollen ausgewählte Werke in Buchform erscheinen, begleitet von einem Einzelstellen- und Flächenkommentar, der biographische, literarische, philosophische, historische u.a. Zusammenhänge erklärt (den Anfang macht Das Tagebuch aus Mühlau). Wie schon bei den bisher besprochenen Brief- und Tagebucheditionen kommt dem Kommentar eine zentrale Rolle zu — weshalb ein anschauliches Kommentar-Beispiel im vorliegenden Beitrag sinnvoll gewesen wäre.

Fritz von Herzmanovsky-Orlando: Zwei Editionen (Klaralinda Ma-Kircher)

Anschaulich zeigt der Beitrag, wie Friedrich Torberg — verantwortlich für die erste, vierbändige Werkausgabe Herzmanovsky-Orlandos (1957—1963) — seine Herausgeberschaft als kulturpolitisches Instrument zur Identitätsstiftung der Zweiten Republik einsetzte, den Autor zur Identifikationsfigur stilisierte und auf dieser Basis höchst eigenmächtig die Texte manipulierte. Im Kontrast dazu steht die aufwendige 10-bändige Werk- und Briefausgabe von Walter Methlagl und Wendelin Schmidt-Dengler (1984—1994), die neben einem Lesetext die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte sowie relevante Varianten aller Textstufen und einen ausführlichen (nach Ma-Kircher aber noch nicht ausreichenden) Kommentar bietet.

Vor allem eine Faksimileausgabe der Zeichnungen Herzmanovsky-Orlandos, die für die Textgenese äußerst relevant sind, sei wegen der Materialfülle nicht realisierbar gewesen. Vor allem sei die 10-bändige Ausgabe inzwischen genauso vergriffen wie die daraus erarbeitete dreibändige Lizenzausgabe. Angesichts dieser Situation ist Ma-Kirchers Forderung, ein Verlag müsse zumindest auf der Basis der dreibändigen Ausgabe eine neue vorlegen, verständlich — und zugleich zu erweitern mit dem Hinweis, daß die fehlende Faksimilierung der Zeichnungen in digitalisierter Form nachzureichen wäre.

Heimito von Doderer: Historisch-kritische Edition der Dämonen (Gerald Sommer / Wendelin Schmidt-Dengler)

Eine Kombination aus Buch- und digitaler Edition scheint sich auch in anderen Fällen komplexer Materialfülle immer wieder als Lösung anzubieten — so bei Doderers Roman Die Dämonen, an dem er 28 Jahre arbeitete. Die Buchausgabe soll den kritischen Text des Romans sowie Basisinformationen vorlegen, die CD-Rom-Edition ergänzend die umfangreichen Materialien und Kommentare — inklusive der kompositorischen "Baupläne" Doderers zu einzelnen Kapiteln, von denen der vorliegende Beitrag im Illustrationsteil zwei beeindruckende Beispiele wiedergibt.

Ingeborg Bachmann: Das Gier-Fragment (Robert Pichl)

Unter der Leitung von Pichl wurde für die kritische Ausgabe von Bachmanns Todesarten-Projekt (ersch. 1995) eine "philologisch exakte Neuordnung des einschlägigen Nachlasses" durchgeführt, so daß auch für das Erzählfragment Gier entsprechende Nachlaßteile "genetisch plausibel restituiert" werden konnten. Mit engem Bezug zu Textzeugen, die im Illustrationsteil abgebildet sind, zeigt Pichl typische Probleme der Nachlaß-Edition bei Bachmann. Doch daß er "auch gegen die Überlieferung notwendige Konjekturen" statuiert, läßt aufhorchen, denn die abgebildeten Originale sind trotz Fehlerfülle lesbar, und nach heutigen editionsphilologischen Standards sind Konjekturen nur in einem >Lesetext< akzeptabel, den Abbildungen der Originale bzw. deren diplomatische Wiedergabe begleiten müßten. Ob und wie Pichl dies gelöst hat, erläutert er hier leider nicht.

Christine Lavant: Der Gesamtbriefwechsel (Ursula A. Schneider / Annette Steinsiek)

Im Kontext zur entstehenden Ausgabe der Werke Lavants wird an der Universität Klagenfurt eine Edition des Gesamtbriefwechsels erarbeitet. Er gründet sich vor allem auf die Literarizität von Lavants Briefen sowie auf die künftige Funktion des Briefwechsels für eine Biographie Lavants. Er greift auf die Erfahrungen der Edition des Wittgenstein-Gesamtbriefwechsels (s.o.) zurück und soll als Hypertext-Datenbank auf CD-Rom mit einem begleitenden Auswahlband erscheinen. Die Hypertext-Datenbank erlaubt, die weitläufigen Vernetzungen der Briefe zu erfassen und mit einem ausführlichen Kommentar zu verbinden. Dazu hätte man sich in Verbindung mit den Illustrationen (die einen Brief Lavants inklusive Transkription bieten) ein Beispiel gewünscht. Auch wäre diskussionswürdig, warum Drittbriefe, die nicht in Lavants Briefwechsel gehören und lediglich zusätzliche Informationsquellen sind, mitediert werden, statt in den Kommentar gestellt zu werden.

Erich Fried: Herausforderungen einer Leseausgabe (Volker Kaukoreit)

Der Beitrag diskutiert die Ausgangsbedingungen, Grundsatzentscheidungen und Lösungen der vierbändigen Ausgabe von Frieds Gesammelten Werken (ersch. 1995, hg. von Volker Kaukoreit und Klaus Wagenbach). Entstanden ist eine Leseausgabe, die die von Fried in Buchform veröffentlichten Texte "zuverlässig" nach der "vom Autor gewollten letzten Fassung" zusammenträgt. Aus Aufwands- und ökonomischen Gründen aber hat sie darauf verzichten müssen, die Fülle von Nachlaßtexten sowie verstreut publizierte Einzelgedichte aufzunehmen und einen ausführlichen Kommentar zu bieten. Damit sind (leider etwas zu implizit) Desiderata für zukünftige Editionen benannt. Explizit und selbstkritisch weist Kaukoreit solche Desiderata im Bereich der Register der bestehenden Ausgabe aus: wünschenswert seien eine Ausdehnung des Gedichtregisters (Verweise auf den Apparat und auf Prosatexte mit Verseinlagen) sowie ein Kurzprosa-Register.

Albert Drach: Projekt einer Werkausgabe (Bernhard Fetz / Eva Schobel)

Nach Verleihung des Büchner-Preises 1988 ist Albert Drach erst als 80jähriger von einem größeren Publikum entdeckt worden. Ihm soll ab 2002 eine zehnbändige Studienausgabe gewidmet werden, die — anders als eine kritische oder textgenetische Ausgabe — personell und finanziell machbar sein soll. Im Kontrast zur nie vollendeten Werk-Ausgabe bei Langen Müller (1964—66) soll sie basiert sein auf einer kritischen Revision bereits publizierter Texte (Vergleich mit Nachlaßmanuskripten und Druckfahnen der Erstausgaben), auf einer Neuedition vergriffener Texte, auf einer Herausgabe wichtiger Nachlaßtexte (Essays, ausgewählte Gedichte und Theaterstücke) und auf einer umfassenden Kommentierung. Das Projekt ist nicht nur begrüßenswert, sondern entspricht auch den Hoffnungen des Autors, wie seine "Werklisten" im Illustrationsteil zeigen (auf die der Beitrag mit "Abb. 1" etc. sinnvollerweise hätte hinweisen können).

Reinhard Priessnitz: Werkausgabe (Thomas Eder)

Die Werkausgabe Reinhard Priessnitz (hg. von Ferdinand Schmatz, 1987 / 88), eine Leseausgabe, bietet die Texte nach der letztgültigen Fassung, >Vorstufen< sind nur in Auswahl im Apparat wiedergegeben. An einem (mit den Illustrationen gut verknüpften) Gedicht-Beispiel zeigt Eder, wie wichtig die Erschließung der Gesamtgenese von Texten Priessnitz' wäre, um typologische Aufschlüsse über seine Dichtung zu gewinnen — aber auch, daß diese Aufgabe nur von einer zukünftigen historisch-kritischen Ausgabe erfüllt werden könnte.

Friederike Mayröcker: Modell einer genetischen Analyse (Klaus Kastberger)

Welche hohen Ansprüche eine textgenetische Edition an Darstellungs- und Analysefähigkeiten des Editors stellt, zeigt Kastbergers Beitrag. Er zieht aus Kastbergers Publikation Reinschrift des Lebens. Friederike Mayröckers "Reise durch die Nacht". Edition und Analyse ein anschauliches, mit den Illustrationen sinnvoll verknüpftes Beispiel. Es zeigt Spezifika der Schreibweise Mayröckers auf — unaufhörliches Notieren und Sammeln von Wahrnehmungen und Empfindungen (Extension), "Dehydrierung" und Verdichtung (Reduktion) und daher simultanes, in keinem genetischen Stammbaum darstellbares Arbeiten auf verschiedenen Textträgern. Das Beispiel verdeutlicht, welchen Beitrag die genetischen Analyse für die Einsicht in die spezifische ästhetische Qualität eines Textes leisten kann.

Ernst Jandl: Überlegungen zu einer werkgenetischen Ausgabe (Bernhard Fetz)

Auch der letzte Beitrag lenkt die Aufmerksamkeit auf die Möglichkeiten textgenetischer Analyse und Edition. Laut Fetz müssen dafür die dem Schaffensprozeß zugrundeliegenden Schreibmechanismen (gemäß der "critique génétique") freigelegt und dies mit der Analyse des literarischen, kulturellen und medialen Felds (nach Pierre Bourdieu) verschränkt werden. Wie speziell Jandl auf dem Weg vom >Einfall< zur Endfassung mit verschiedensten Verfahren experimentiert hat — z.B. Reduktion, Verdichtung, Verallgemeinerung — könne die genetische Textanalyse aufweisen und damit ein Gegengewicht zu den gedruckten, >kanonisierten< Jandl-Texten bilden. Fetz skizziert dazu einige Beispiele, läßt aber offen, wie dies gemäß dem Titel seines Beitrags in eine werkgenetische Ausgabe münden soll.


Prof. Dr. Anke Bosse
Université Notre Dame de la Paix
Philosophisch-Philologische Fakultät
61, rue de Bruxelles
B-5000 Namur

Ins Netz gestellt am 11.12.2001
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