Brodersen über Nägele: Literarische Vexierbilder

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Momme Brodersen

"Vexier Er sich!"
Die Narretei des Dekonstruktivismus

  • Rainer Nägele: Literarische Vexierbilder. Drei Versuche zu einer Figur. Essays. Eggingen: Edition Isele 2001. 72 S. Kart. EUR (D) 10,50.
    ISBN 3-86142-224-7.


Es gibt Bücher, die es ihrem Kritiker insofern schwer machen, als sie den – wenigstens virtuellen – Dialog zwischen Autor und Leser verweigern und im Grunde genommen nur zwei Arten der Stellungnahme zulassen: die einer mehr oder minder uneingeschränkten Zustimmung oder aber einer, sei's milden, sei's heftigen Ablehnung; tertium non datur. Und mit einem solchen Werk hat man es im Falle der drei Versuche Rainer Nägeles zur Figur des literarischen Vexierbilds zu tun.

Den Verdacht, daß der Verfasser kaum Rücksichten auf seine potentiellen Leser zu nehmen gewillt ist, nährt bereits die lapidare Bemerkung, die diesem gut 70seitigen Büchlein gewissermaßen die Legitimation verleiht: "Bei Gelegenheit kann es geschehen, daß ein oft überlesener Text auf einmal zu sprechen beginnt. So geschah es dem Leser und Autor der folgenden drei Versuche [...]." (S. 7) Wer aus dieser Bemerkung erwartungsfroh das Versprechen herausliest, im Folgenden zu erfahren, unter welchen Voraussetzungen und mit welchen Methoden die Texte Kafkas, Benjamins und Brechts zum Reden gebracht werden, dürfte das Werk nach der Lektüre enttäuscht beiseite legen.

Denn genau dazu – Prämissen und Verfahrensweisen auszustellen und zu erläutern, um seine Argumentation nachvollziehbar zu machen – läßt sich der Autor gar nicht erst herab. Alles bleibt autoreferentiell, wie man in heutigem Jargon dieses monologisierende Assoziieren vielleicht nennen darf, dessen >Methode< einzig darin besteht, seinen Gegenstand auseinanderzusprengen, aufzulösen, um ihn anschließend neu zusammenzusetzen. Und solcher >Dekonstruktion< fallen nicht nur wichtige historische Kontexte zum Opfer, sondern das Ganze geht auch sonst nicht ohne Verluste ab, wenn das angestrebte Ziel erreicht werden soll: "Und wie in einem Vexierbild erscheint sogleich auch die deutsche Übersetzung in der Fortsetzung, als ob er die Leiche begütigen müsse: wenn man das >er die< einklammert, liest und hört man: ob [...] Leiche – >o bleiche<." (S. 57) So einfach ist das.

Was ist ein literarisches Vexierbild?

Die Schwierigkeiten, sich dieser Veröffentlichung kommentierend zu nähern, setzen sich fort beim eigentlichen Gegenstand: Was ist denn ein literarisches Vexierbild? Für den Bereich der Literatur dürfte kaum allgemeines Einverständnis darüber herzustellen sein, was der Begriff bezeichne, geschweige denn, daß es leicht wäre, ihn klar und deutlich beispielsweise vom Wortspiel abzugrenzen. Nicht von ungefähr sucht man ihn daher in einschlägigen literaturwissenschaftlichen Handbüchern vergebens. Was hingegen ein Vexierbild ohne einschränkende Adjektiva sei, dazu bieten kunsthistorische Nachschlagewerke wie auch Universal-Enzyklopädien Definitionen zuhauf an, meist sogar griffige. So heißt es beispielsweise im 24bändigen Brockhaus kurz und bündig: "Vexierbild [...], Bild, das den Betrachter narrt, da er je nach Disposition und Blicksituation zwei verschiedene Bildinhalte wahrnimmt, z.B. durch ein besonders ausgewogenes (konstruiertes) Figur-Grund-Verhältnis; auch Suchbild, das außer dem sofort erkennbaren Sujet eine nicht sofort erkennbare Figur enthält." Doch läßt sich, was hier von einem Sujet der darstellenden Kunst gesagt wird, umstandslos auf die des Wortes, sprich: auf die Literatur übertragen?

Nägele scheint diesbezüglich keinerlei Zweifel zu hegen. Wie eine bloße Paraphrase liest sich seine Bestimmung des Vexierbildes im zweiten Abschnitt ("Vexierbilder des Lebens: Benjamins autobiographische Kurztexte", S. 31–50): "Was in den Zügen des Vexierbilds deutlich sich abzeichnet, ist ein im Zusammenhang des Aufgezeichneten Fremdes [...], das in der manifesten Komposition von Zeichnung oder Text sich verbirgt." (S. 58) Aber auch die übrigen, durchaus zahlreich eingetreuten Umschreibungen des Terminus sind kaum anderes als bloße Variationen der bündigen Brockhaus-Definition: "Das Vexierbild", so heißt es im ersten, "Vexierbilder des andern: Kafkas Identitäten" (S. 9–29) überschriebenen Versuch, "ist die Erscheinung eines andern im scheinbar zusammenhängend Identischen." (S. 45) Und um hier ein drittes und letztes Beispiel (aus dem beschließenden Kapitel "Echos und bleiche Leichen: im Fluß der Übertragungen", S. 51–72) beizubringen: "Struktur des Vexierbildes [...]. Es handelt sich [...] um einen ständigen Blickwechsel, in dem das jeweils gesehene Bild immer auch die Züge eines andern an und in sich hat. Das manifeste Bild enthält ein anderes, ungesehenes ihm Fremdes [...]. Dieses andere Bild ist nicht >hinter< oder >unter< dem gesehenen Bild, sondern in ihm, seine Züge ausmachend." (S. 63)

Reizendes Aussehen –
grauenhafter Eindruck

Man muß sich diese und ähnliche Bemerkungen nicht erst lange auf der Zunge zergehen lassen, um zu erkennen, daß hier Binsenweisheiten verbreitet werden. Denn selbstverständlich erlauscht der Konzertbesucher bei jedem wiederholten Hören der 9. Symphonie Beethovens neue Töne, liest der Bücherfreund aus Goethes Wahlverwandtschaften mit der Zweit- oder Drittlektüre anderes aus dem Roman heraus und hat der Museumsbesucher mit jeder zeitlich auseinanderliegenden Betrachtung von Picassos Guernica differierende Assoziationen. Außerdem suggerieren derlei Formeln eine Einheitlichkeit im Verständnis des Begriffs, wie sie wenigstens in der literarischen Überlieferung nicht zu haben ist.

Denn geht man seinen Spuren in der Tradition vom Barock bis zur Klassik, von der Romantik bis zur Gegenwartsliteratur nach, so stößt man allenthalben auf Widersprüchliches, sich gegenseitig Ausschließendes, Disparates und Inkonsistentes. Wo und wann immer in den Schriften eines Lessing oder Goethe, eines Jean Paul (in dessen Werk man im übrigen auf das >Vexier-< in allen möglichen Kombinationen stößt: Vexier-Ästhetik, -Wort, -Köpfe, -Moralität, -Soldateska, -Einsturz, -Sterben, -Schmerzen, -Schemen u.a.m.) oder E.T.A. Hoffmann, Gotthelf oder Keller die Rede vom >Vexieren< oder dem >Vexierbild< ist, bleibt nicht nur die Zwei- und Mehrdeutigkeit, sondern ebenso und vor allem das Fragwürdige, nicht nur das Trügerische, sondern auch der Betrug oder >nur< die Narretei bzw. Fopperei, bisweilen auch das Grauenhafte des Begriffs präsent.

"Was ist aber das Wortspiel?" fragt Jean Paul in seiner Vorschule der Ästhetik. "Wenn der unbildliche Witz meistens auf ein gleichsetzendes Prädikat für zwei unähnliche Subjekte auslief, das nur von der Sprache den Schein der Gleichheit erhielt: so kommt ja der optische und akustische Betrug des Wortspiels gleichfalls auf ein solches Vexierbild hinaus, das zwar nicht sinn-, aber klangmäßig zweien Wesen angehört. Daher oft in der einen Sprache das unbildlicher Witz ist, was in der andern ein Wortspiel ausmacht [...]." 1 Und in Friedrich Hebbels Tagebüchern kann man nachlesen, daß "Vexirbilder [...] von der einen Seite betrachtet" zwar "reizend aussehen," jedoch "von der andern ins Auge gefaßt, einen grauenhaften Eindruck machen".

Der genarrte Leser

Gewissermaßen >Grauen< verbreiten auch Nägeles Versuche, vor allem durch die zahllosen Plattitüden, die häufig so gestelzt einherkommen, daß man ihrem Urheber nie wünschen möchte, aus den erklommenen (und sprachlich meist erborgten) Höhen der Abstraktion abzustürzen: "Lesen setzt die Erkenntnis voraus, daß auch Selbstaussagen des Autors über sich und seine Texte, wie alle Texte, wie alles Gesagte mit dem, was sie aussprechen, auch immer etwas verdecken." (S. 11) Oder: "Es gibt kein ewiges Bild der Vergangenheit, sondern nur das, was so einmalig als das jeweilig wahre Bild sich ereignet." (S. 38)

Schließlich: "Erleben [...] ist bei Benjamin der Gegenbegriff zu Erfahrung: Das Erleben meint, es hat alles schon hinter sich; die Erfahrung beginnt mit der Erfahrung, die sagt: Wie viel liegt da noch hinter uns." (S. 45) Und wenn der Autor den folgenden Satz in der Überzeugung niedergeschrieben haben sollte, Neues entdeckt zu haben, dann drängt sich dem Leser der Eindruck auf, an dem Verfasser sei ein ganzes Jahrhundert Geistesgeschichte spurlos vorübergegangen: "Aber besinnen wir uns [...]. Immerhin zeichnet sich [...] eine erste Ahnung ab, wie im Kleinsten, in einzelnen Wörtern und Silben gewaltige Geschichten auf kleinstem Raum sich auftun. Was im intertextuellen Motivnetz [...] lesbar wird, ist ein anderer langer Text, der nicht die Kontinuierlichkeit einer Lebensgeschichte erzählt, sondern die Konstellationen einer Lebenserfahrung auf einem anderen Schauplatz einschreibt." (S. 37)

Das hat Siegfried Kracauer (in seinem Essay über Das Ornament der Masse) vor nunmehr schon einem dreiviertel Jahrhundert weit klarer, differenzierter und weniger prätentiös so ausgedrückt: "Der Ort, den eine Epoche im Geschichtsprozeß einnimmt, ist aus der Analyse ihrer unscheinbaren Oberflächenäußerungen schlagender zu bestimmen als aus den Urteilen der Epoche über sich selbst. Diese sind als der Ausdruck von Zeittendenzen kein bündiges Zeugnis für die Gesamtverfassung der Zeit. Jene gewähren ihrer Unbewußtheit wegen einen unmittelbaren Zugang zu dem Grundgehalt des Bestehenden. An seine Erkenntnis ist umgekehrt ihre Deutung geknüpft. Der Grundgehalt einer Epoche und ihre unbeachteten Regungen erhellen sich wechselseitig." 2

Der Begriff des Vexierbildes leitet sich bekanntlich vom lateinischen >vexare< ab, das man, je nach Zusammenhang, mit >schütteln<, >narren<, >mißhandeln<, >plagen<, >peinigen<, >quälen< oder auch >verheeren< und >plündern< übersetzen kann. Von alldem enthält das Werk Rainer Nägeles etwas. Denn bei seiner Lektüre fühlt sich der Leser nur genarrt, bisweilen auch geplagt, gepeinigt und gequält. Mißhandelt, verheert und geplündert aber werden hier die durchgeschüttelten Werke einiger bedeutender Autoren unserer Geistesgeschichte. Und so möchte man zu guter Letzt (und etwas barsch) dem Autor nur ein Wort Goethes entgegenschleudern, das er seinen Jetter im Egmont sagen läßt: "Vexier Er sich!" 3


Prof. Dr. Momme Brodersen
Universita di Palermo
Viale delle Scienze
IT - 90128 Palermo

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Ins Netz gestellt am 14.11.2003
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Anmerkungen

1 Jean Paul: Werke. Hrsg. von Norbert Miller und Gustav Lohmann. Bd. 5. München: Hanser 1959–1963, S. 192.   zurück

2 Siegfried Kracauer: Schriften. Hrsg. von Inka Mülder-Bach. Bd. 5.1–3: Aufsätze. Bd. 5.2. Frankfurt / M.: Suhrkamp 1990, S. 57.   zurück

3 Johann Wolfgang von Goethe: Egmont. In: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hg. von Erich Trunz. Bd. 4. München: dtv 1982, S. 376.   zurück