
"Serienmörder erzählen Geschichten"
- Alexandra Thomas: Der Täter als Erzähler. Serienmord als semiotisches Konstrukt (Hamburger Studien zur Kriminologie und Kriminalpolitik 28) Hamburg / Münster / London: LIT Verlag 2003. 168 S. Kart. EUR (D) 17,90.
ISBN 3-8258-5315-2.
BLAUBART: Mich hält gefangen heißes Verlangen,
ein heiß' Verlangen hält mich gefangen
nach einem schönen, blonden Kind,
das ich noch eh' der Tag verinnt
mir als sieb'te Frau will fangen!
Voila! Dies der Grund, dies der Grund!
BOULOTTE: Oh, welch' Verrat!
BLAUBART: Dein Ende naht!
BOULOTTE: Sterben will ich nicht!
BLAUBART / BOULOTTE (gleichzeitig):
Unweigerlich! Die Liebe fordert deinen Tod!
Laß mich nicht sterben, lieber Gott!
BOULOTTE: Der Tod!
BLAUBART: Der Tod!
BOULOTTE: Du blutrünst'ger Räuber,
Verführer der Weiber,
oh fühle meine Not!
Sieh' flehend mich beben,
und laß' mich am Leben,
ich will nicht den Tod! 1
Mit diesen Worten wird in Jacques Offenbachs Operette Ritter Blaubart die Begegnung zwischen dem >Serientäter< Blaubart und seinem Opfer Boulotte erzählt. Die Auseinandersetzungen mit Ursprüngen, Folgen und Nebenprodukten von Lust- und Serienmorden ziehen sich durch verschiedenste Genres, Disziplinen und Medien. Alexandra Thomas fügt dem in ihrem Buch Der Täter als Erzähler eine weitere Lesart hinzu: Sie konzentriert sich auf die Zeichen, die von Serientätern produziert und hinterlassen werden.
Die Autorin geht davon aus, dass sich Serienmörder nicht in Form der gesprochenen oder geschriebenen Sprache, sondern über ihre Taten artikulieren. Diese Taten versteht Thomas als kommunikative Akte, über die sich der in seinem "eigenen Lebensmilieu als unauffällig und durchschnittlich" geltende Täter seiner Umwelt mitteilt: Durch das Töten erlangt er am Körper des Opfers Sichtbarkeit (S. 3). Thomas will einen theoretischen Deutungsrahmen entwerfen, "mit dessen Hilfe sich subjektive Lebenswelten von Serienmördern erfassen und untersuchen lassen" (S. 7 f.). Das Buch stellt somit den Versuch dar, "das sich im Körperlichen manifestierende Unaussprechliche in die Sphäre des Sprachlichen zu transferieren und scheinbar sinnlosen Tötungen eine mit Worten artikulierbare Bedeutung zu verleihen" (S. 141). Am Anfang der Analyse steht folglich der physische Gewaltakt – der Mord.
Körperliche Gewalt als Ausgangspunkt
Mit diesem Ansatz stellt Alexandra Thomas ihre Arbeit in den Kontext der neueren Gewaltforschung, wie sie z.B. von Trutz von Trotha und Brigitta Nedelmann gefordert wird. 2 Thomas geht es nicht darum, eine Universaltheorie zu entwerfen, sie möchte vielmehr den Serienmord als eine spezifische Form der Gewalt erklären, und zwar insbesondere im Hinblick auf kriminologische und soziokulturelle Aspekte. Um dieses Ziel zu erreichen, verknüpft sie soziologisch-kriminologische und literaturwissenschaftlich-linguistische Theorien, die sie im ersten Teil des Buches ausführlich erläutert (S. 9–50).
In zwei weiteren vorgeschalteten Abschnitten fasst die Autorin zusammen, durch welche spezifischen Merkmale sich Serienmorde von anderen Tötungsdelikten unterscheiden (S. 51–63) und äußert sich kritisch zu einigen der in ihrem Buch verwendeten Falldarstellungen (S. 64–73). Erst im zweiten Teil ab Seite 74 geht es um die von ihr entworfene Zeichentheorie und ihre Anwendung am Beispiel Serienmord (S. 74–136).
>Erzählung< in Zeichen
"Serienmörder erzählen Geschichten", lautet der erste Satz des Buches. Auch wenn es sich dabei um besondere >Geschichten< handelt, sind sie z.B. mit dem Märchen vom Ritter Blaubart durch die Grausamkeit des Dargestellten verbunden. Thomas betrachtet den Serienmörder als >Erzähler<. Der >Erzähler< wiederum wird mit dem Autoren gleichgesetzt und als ">Verursacher< bzw. >Urheber< einer Erzählung" verstanden (Fußnote 5, S. 9). Diesen Überlegungen zufolge beginnt der eigentliche Teil der >Erzählung<, die der Serienmörder verbreitet, mit dem Mord und sie schließt mit seinem Verlassen des Tatorts. Die Tat wird als das Resultat einer komplexen, jahrelangen Vorgeschichte verstanden. Diese Vorgeschichte kann auch Einfluss auf die Fortsetzung der >Erzählung< nehmen, wenn z.B. der Täter Leichenteile entwendet oder den Tatort verändert.
Der zweite Teil der >Erzählung< ist die Nacherzählung, die sich aus einer Vielzahl von Perspektiven zusammensetzt: aus der Sicht der Kriminalbeamten, Rechtsmediziner, Mikrobiologen, Psychologen, Kriminologen etc. Auch die Ermittler und Forensiker beschäftigen sich mit den Spuren und Zeichen, die der Täter am Körper des Opfers und am Tatort hinterlässt. Sie sind maßgebliche Bestandteile zur Aufklärung der Tat. Thomas interessieren diese Spuren aber noch in anderer Hinsicht, sie versteht sie als "selbstinszenierendes >Erzählen<" des Täters (S. 3):
Ein physischer Gewaltakt wie das Töten ist ein sensuelles, körperlich erfahrbares Erlebnis von absoluter und destruktiver Intensität. Ein aktiver, dynamischer Prozess, über den der Täter seine Vorstellungen und Selbstentwürfe realisieren kann. Nach sozialen wie rechtlichen Normen untragbar ist diese Strategie der Selbstverwirklichung, weil sie die Bemächtigung eines anderen Organismus beinhaltet und gegen das Tabu der Sterblichkeit und Verletzlichkeit verstößt [...]. Serienmord ist ein sinnstiftendes Ereignis: Der Gesellschaft erlaubt es eine Bestätigung und Verstärkung gesetzter Werte und Normen und dem Täter ermöglicht es eine pervertierte Form der Selbstentfaltung und des Sich-Mitteilens gegenüber Opfer, sozialer Gemeinschaft und staatlichen Institutionen. (Ebd.)
Am Ende des Buches fügt sie noch eine weitere sinnkonstituierende Funktion hinzu: Serienmord diene der "massenmedialen >Wund-< und Trash-Kultur als ein weiteres Spektakel" (S. 140).
Thomas grenzt sich somit von pathologischen Deutungen des Phänomens Serienmord ab und veranschaulicht das Zusammenspiel dieser Gewaltform mit allgemeinen soziokulturellen Prozessen und Mechanismen. Der Täter hat demnach seine eigene >Geschichte<, aus deren Verantwortlichkeit die Autorin ihn auch nicht entlassen will. Diese >Geschichte< hat aber auch Elemente, die in der sozialen Struktur verankert sind (S. 140). Dass die Konzeption dieser besonderen Form der >Erzählung< nicht als Verharmlosung verstanden werden soll, thematisiert die Autorin zutreffend. Zudem klassifiziert sie Serienmörder als "keine besonders zuverlässigen Erzähler" – und zwar in dem Sinne, dass in ihren Erzählungen keine geschlossenen Handlungen vorliegen, sondern Ansammlungen von Fragmenten und losen Handlungssträngen, die von den Beobachtern nachträglich zusammengefügt werden müssen (S. 1 f.).
Medium, Form, Körper, Selbstbewerkstelligung etc.
Nach Prolog und Einleitung verlangt die Autorin von ihren Lesern und Leserinnen zunächst Durchhaltevermögen: Es folgen lange Zusammenfassungen von de Saussures Zeichen- und Luhmanns Systemtheorie sowie von Konzeptionen anderer Gewährsleute wie Jakobsons Kommunikationsmodell, Kerstens Überlegungen zur geschlechtlichen Selbstbewerkstelligung usw., und zwar ohne dass diese allgemeinen wichtigen Theorien auf den Untersuchungsgegenstand explizit angewendet werden. 3 Vielmehr wird mit den gängigen Beispielen von Tisch und Hut operiert und vereinzelte Textabschnitte erscheinen in wenig modifizierter Form gleich zweimal im Buch (s. S. 19 und 106) – wohingegen das zugrunde liegende Werk von Jakobson gar nicht im Literaturverzeichnis auftaucht. Auch die Visualisierungen in Tabellenform verwirren, da sie sich teilweise über mehrere Seiten erstrecken und dadurch ihre systematisierende Funktion verlieren.
Dies alles sollte die Leser und Leserinnen nicht davon abhalten, zum eigentlichen Teil des Buches vorzudringen, nämlich der "Zeichentheorie des Serienmords" (S. 74 ff.). Aus den auf den ersten 73 Seiten zusammengetragenen theoretischen Bausteinen Erzählung, Zeichen, Medium und Form, Kommunikation, Körper, Körpergewalt und Selbstbewerkstelligung entwickelt die Autorin ihre Theorie. Im Zentrum steht der körperliche Gewaltakt. Diese Tötung wird definiert als eine "Abfolge von Handlungen (Ausübung von Gewalt, verbale Drohungen, Gegenwehr etc.) und körperlichen Reaktionen (Blutungen usw.), mittels derer Täter und Opfer ein zeitlich begrenztes und konkretes Ereignis setzen" (S. 79, Hervorhebungen im Original). Täter und Opfer sind dabei keine gleichberechtigten Akteure, vielmehr fungieren die Körper der Opfer als organische Repräsentanten für die Innenwelt der Täter. Sie offenbaren die Verletzungen der Täter, die emotionaler, körperlicher und / oder seelischer Art sein können. In den Worten von Alexandra Thomas:
(1) Mord fungiert als semiotische Verschiebung nicht sprachlich artikulierbarer Persönlichkeitsanteile und Erlebnisse in den Bereich der körperlichen Gewalt. Das nicht verarbeitete und integrierte innere Destruktionspotential, welches in Gewalt- und Mordvorstellungen präsent ist, entlädt sich in eine nach außen gerichtete Destruktion – am Körper des Opfers.
(2) Das Mordopfer wird durch diesen psychodynamischen Prozess zum semiotischen Repräsentanten des Täters – zum organischen Abbild seiner Innenwelt: seiner Vorstellungen und Bedürfnisse.
(3) Die am Tat- / Fundort und an der Leiche hinterlassenen Zeichen markieren die Koordination eines Handlungsgefüges, das in seiner Gesamtheit die Taterzählung bildet und die (Selbst-) Konstruktion des Täters widerspiegelt. (S. 91, Hervorhebung im Original, gesamter Abschnitt im Original fett)
Der Wechsel von der individuellen Seite des Täters zur sozialen Ebene führt über den Körper des Opfers, der dabei als Medium fungiert und gleichzeitig zum "semiotischen Doppel des Täters" wird (S. 96). Die Fortsetzung der Kommunikation zwischen individuellem Täter und sozialen Akteuren wird durch die Serialität des Mordens sichergestellt. Je destruktiver ein Täter handelt, desto wichtiger und >fruchtbarer< erscheint es, die hinterlassenen Spuren auf ihren semiotischen Gehalt hin zu überprüfen. Die Autorin plädiert für genaues Hinsehen – anstelle von Pauschalisierungen – und widmet sich deshalb beispielhaft einzelnen Tatmerkmalen.
Tatmerkmale und Falldarstellungen
Das Beispiel Kannibalismus
Das spezifische Moment des Kannibalismus liegt nach Thomas darin, dass der Körper des Opfers zumindest partiell im Organismus des Täters aufgeht (S. 122). Er verleibt sich den Körper des Opfers ein mit der Konsequenz, dass "die organische wie semiotische Auflösung der Leiche im Körper des Täters" erfolgt (ebd.). Kannibalismus wird zumeist am toten Organismus vollzogen. Es existieren verschiedene Formen: So wird das Fleisch des Opfers z.B. gegessen oder das Blut getrunken. Der Verzehr des Fleisches kann dabei in den soziokulturellen Kontext von Essen und Trinken eingebettet sein. Das Trinken des Blutes kann als rituelle Handlung erfolgen.
Als Beispiel für Nekrophagie am lebenden Körper des Opfers gibt die Autorin den deutschen Serienmörder Friedrich Haarmann an. Ihre Aussage belegt sie mit dem Hinweis auf "Lessing 1996". Der Textbeleg verwundert in mehrfacher Hinsicht:
Im Kapitel 4.3. ">The killer in me is the killer in you...< – Einige kritische Anmerkungen zu den in diesem Buch verwendeten Falldarstellungen" führt Thomas treffend aus, dass bei der Auswertung von Falldarstellungen "ein reflektierender und bewusster Umgang mit dem verfügbaren Erzählmaterial" erforderlich sei (S. 66). Wie schon andere Autoren vor ihr 4 verweist sie auf den >Mythos< vom Serienmord, der sich in vielen Falldarstellungen wieder findet. Drei Erzählmechanismen benennt die Autorin: den Rückgriff auf literarische, fiktive Figuren aus dem Detektivgenre, die Anleihen aus dem Horrorgenre und den Gebrauch von kulturell definierten Begriffen als Metaphern wie z.B. "Handschrift" oder "Kunst" (S. 66 f.). Allerdings bezieht sich Alexandra Thomas nur auf die US-amerikanischen Ermittler Robert Ressler und John Douglas. 5 So wichtig diese auch gewesen sind, es gibt zahlreiche weitere Autoren, auf die sich Thomas später in ihren Tatmerkmalsdarstellungen beruft, ohne das Material kritisch zu reflektieren.
Dies wäre aber notwendig, da man nach der Lektüre des Haupttextes denken könnte, dass Lessing sein Werk 1996 geschrieben habe, lediglich im Literaturverzeichnis erwähnt Thomas, dass das Buch Haarmann. Die Geschichte eines Werwolfs bereits 1925 veröffentlicht wurde. Aber auch dort unterlässt die Autorin die vollständige Angabe wichtiger bibliographischer Daten und nennt zudem keine Ausgabe von 1996, sondern eine von 1989. 6
Weiterhin behauptet sie mit Bezug auf "Lessing 1996" – leider ohne Seitenangabe –, dass Haarmann das Blut seiner Opfer getrunken habe (Thomas, S. 121). Dazu müsste sie aber auch kritisch beleuchten, dass Lessing in besonderer Weise in den Fall Haarmann involviert war und seine Falldarstellung von daher eine spezifische Konstruktion von Haarmann und seiner Zeit wiedergibt. Denn Lessing war zunächst als Berichterstatter im Haarmann-Prozess 1924 zugelassen, wurde dann aber aus dem Prozess ausgeschlossen. 7 Es reicht nicht aus, wenn die Autorin auf Seite 65 unter Hinweis auf ihr Kapitel 2.1. "Die Chiffren des Erzählens" (S. 9–12) allgemein feststellt, dass textliche Zeugnisse immer auch ein Instrumentarium sind, "um eine spezifische Sicht von Welt zu konstruieren". Sie müsste dies auch explizit bei den Autoren bedenken, deren Texte sie als Garanten für ihre Aussagen verwendet. Welches "ideologische Gerüst" (Thomas, S. 66) ist bei Lessing zu "enttarnen", welche "Konstruktion einer vermeintlichen Wirklichkeit" (ebd.) verbirgt sich in seinen Texten?
Aber auch vor dem Hintergrund der Zeichentheorie, die die Autorin entwirft, ist das Haarmann-Beispiel fragwürdig. Gemäß ihres Ansatzes müsste die Autorin die Zeichen an den Körpern der Opfer und am Tatort zum Ausgangspunkt ihrer Analyse machen. Das ist im Haarmann-Fall schwerlich möglich, da nur einzelne Knochen von zahlreichen jungen Männern in dem Fluss Leine gefunden wurden. An ihnen wurde das Tatmerkmal Kannibalismus nicht nachgewiesen, vielmehr handelte es sich um ein Gerücht. 8
Ähnliches gilt für andere Fälle: Bei Jürgen Bartsch z.B. bezieht sich Thomas u.a. auf Alice Millers Am Anfang war Erziehung (Thomas, S. 129). Auch hier müsste kritisch reflektiert werden, in welchen Kontext die Psychoanalytikerin und Autorin Miller den Fall Bartsch stellt, welche Aspekte sie hervorhebt und um was es ihr geht. Im Fall Bartsch hätte die Autorin zudem die Möglichkeit, durch Obduktionsprotokolle und Photos zumindest ein bisschen näher an den Ausgangspunkt ihrer Theorie heranzukommen: die Zeichen, die der Täter an den Körpern der Opfer und am Tatort hinterlässt. Immerhin betont sie an zahlreichen Stellen, dass ihr Ansatz strikt körperorientiert sei (siehe z.B. S. 74).
Besondere Kennzeichen: Keine
Bei diesem Tatmerkmal steht "nicht die Maskierung oder Aufspaltung des vorhergehenden Ereignisses der Tötung, sondern die Selbstunterscheidung in der Nicht-Präsenz des Tötens" im Mittelpunkt (S. 134). Unter dem Tatmerkmal "Besondere Kennzeichen: Keine – Die Unterscheidung im >unberührten< Körper" werden dann weibliche Täterinnen verortet:
Angesichts der nach wie vor praktizierten Verortung des weiblichen Geschlechts im sozialen Bereich, verwundert es nicht, dass unter dem geringen Anteil von Serienmorden, die weiblichen Tätern zugeordnet werden, die meisten Fälle in die hier thematisierte Kategorie fallen. Die Tötungen von Patienten, Pflegebedürftigen oder Schutzbefohlenen lässt sich im Rahmen alltäglicher, privater und beruflicher Kontakte und Beziehungen durchführen. Diese Ausgangssituation ist für die Mehrzahl der Täterinnen die notwendige Voraussetzung, um sich über eine ins Destruktive verschobenen Inszenierung existierender Weiblichkeitsmuster zu bewerkstelligen. Bei seriellen Kindstötungen etwa kann eine Täterin in der Rolle der >fürsorglichen< / >überforderten< / >bedauernswerten Mutter< agieren, bei Patiententötungen in der Rolle der >Altruistin<, die vorgibt, aus Mitgefühl zu handeln. (S. 135)
Erstaunlich ist die Aussage, weil die Autorin sich auch hier wieder von ihrem eigenem Anspruch, nicht zu pauschalisieren, entfernt. Sie interpretiert diese Tötungsart, indem sie sich auf diskursive Zuschreibungen bezieht. Zu diesem Aspekt liegt bereits seit 1998 eine interessante Studie von Inge Weiler vor, die sich in einer Diskursanalyse mit dem angeblich typisch weiblichen Giftmord detailliert auseinandergesetzt hat. 9 Ein kritischer Umgang mit dem Fallmaterial und dessen Produktionsbedingungen – unter Einbeziehung der bestehenden Forschung – würde der Theorie von Alexandra Thomas wesentlich größere Überzeugungskraft verleihen.
Erkenntniswert
Über den Gewinn der Zeichentheorie des Serienmordes für die Kriminalistik und die Kriminologie kann ich als Historikerin wenig sagen. Auch Alexandra Thomas gibt nur verstreut Auskunft darüber, wo der Mehrwert ihrer Arbeit im Vergleich zu anderen Methoden liegt. So heißt es z.B. an einer Stelle: "Diese Erkenntnis ist nicht neu und wird zum Teil längst praktiziert. [gemeint ist die mehrdimensionale Interpretation von sexuell konnotierten Tötungsszenarien, KB] Theoretische Ansätze wie der von Luhmann können jedoch dazu beitragen, solche kognitiven Verfahrensweisen zu stützen und zu vergegenwärtigen" (S. 93 f.). Später im Buch erläutert Thomas in einer Fußnote, in welcher Hinsicht sich ihr Ansatz von Oevermanns Konzept der objektiven Hermeneutik unterscheidet:
Der Ausgangsgedanke eines sinnkonstituierenden Operierens korrespondiert mit der Grundannahme in diesem Buch. Der Unterschied besteht darin, dass Oevermann in seinem Ansatz den Prozess des textgeleiteten Analysierens fokussiert, während hier die semiotische Funktion und Struktur des Körperlichen Im Mittelpunkt steht. Letzteres erfordert eine weitergehende Ausdifferenzierung der unmittelbaren Tatbegehung und der nachfolgenden Tatrekonstruktion in verschiedenen Ebenen der Zeichenherstellung und -deutung. (Fußnote 67, S. 111)
Notwendig wäre eine klare Positionierung an zentraler Stelle. Zumal – wie erwähnt – einige Textstellen nicht überprüfbar sind, da Seitenzahlen oder komplette Angaben im Literaturverzeichnis fehlen. Die Beispiele lassen sich noch ergänzen: So verweist Alexandra Thomas darauf, dass sich bei "Dietz et al. 2001" das Stereotyp vom sexuell motivierten Mehrfachmörder hartnäckig halte (s. Thomas, S. 6). Auch hier fehlen sowohl die Seitenzahlen als auch die Angaben im Literaturverzeichnis.
Die wenig klare Positionierung, fehlende Literaturangaben, der lange allgemeine Theorievorspann, der in der späteren Exemplifizierung der Autorin nicht immer berücksichtigt wird, und das Rekurrieren auf populäre Sekundär- und Tertiär-Semiotisierungen von >Serienmorden< lassen die Leser und Leserinnen etwas ratlos zurück.
Fazit
Wichtige Teile des interessanten Ansatzes von Alexandra Thomas, Serienmord als semiotisches Konstrukt zu verstehen, gehen durch die aufgezeigten Schwächen in der inhaltlichen und visuellen Darstellung verloren. Es reicht nicht aus, wenn in der konkreten Analyse nur pauschal auf die eingangs – ausführlich, aber allgemein – erläuterten Theorien und Überlegungen verwiesen wird. Diese müsste die Autorin an ihrem Untersuchungsgegenstand exemplifizieren.
Wegen des internationalen und interdisziplinären Austausches ist es gerade beim Thema Serienmord wichtig, sich um eine "Transparenz und Vermittelbarkeit der Ansätze" 10 zu bemühen. Deshalb wäre eine klare Positionierung in der bestehenden Forschungslandschaft und ein deutliche und stringente Darstellung des Ansatzes wünschenswert. So würde das Buch für die am Thema Serienmorde interessierten Disziplinen verständlicher und rezipierbarer.
Kerstin Brückweh
Universität Bielefeld
Fakultät für Geschichtswissenschaft und Philosophie
Graduiertenkolleg "Sozialgeschichte von Gruppen, Schichten, Klassen und Eliten"
Postfach 10 01 31
D - 33501 Bielefeld
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Ins Netz gestellt am 24.07.2003

IASLonline ISSN 1612-0442
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Anmerkungen
1 Vgl. Ritter Blaubart. Opéra Bouffe in drei Akten (4 Bildern) von Jacques Offenbach. Neue deutsche Übertragung nach dem Original von Henri Meilhac und Ludovic Halévy von Walter Felsenstein und Horst Seeger, Musikalische Einrichtung: Karl-Fritz Voigtmann, Klavierauszug mit Text. Berlin: Henschel 1964, S. 161–163. Originaltitel "Barbe-Bleue", Uraufführung am 5.2.1866 in Paris. zurück
2 Siehe z.B. Brigitta Nedelmann: Gewaltsoziologie am Scheideweg. Die Auseinandersetzungen in der gegenwärtigen und Wege der künftigen Gewaltforschung. In: Trutz von Trotha (Hg.): Soziologie der Gewalt (Sonderheft Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie KZfSS 37) Opladen / Wiesbaden 1997, S. 59–85. Trutz von Trotha: Zur Soziologie der Gewalt. In: Ebd., S. 9–56. zurück
3 Nur vereinzelt weist die Autorin auf das eigentliche Thema hin, vgl. z.B. S. 13: "Ein Zeichen ist die kleinste bedeutungstragende Einheit. Es kann ein Wort, ein Symbol, ein Bild, eine Tätowierung, ein Schrank, eine Jacke oder eine Geste sein. Fährt jemand mit einem Totenkopf auf dem Schoß durch die Gegend, so kann dies ebenfalls als ein Zeichen interpretiert werden. Denn diese Handlung kann sowohl für den Agierenden als auch für den Beobachter eine Bedeutung, eine Sinn haben. Zeichen sind vielfältig, universell und allgegenwärtig." Danach folgen wieder nur allgemeine Erläuterungen. zurück
4 Siehe Jo Reichertz: >Meine Mutter war eine Holmes<. Über Mythenbildung und die tägliche Arbeit der Crime-Profiler. In: Cornelia Musolff / Jens Hoffmann (Hg.): Täterprofile bei Gewaltverbrechen. Mythos, Theorie und Praxis des Profilings. Berlin / Heidelberg / New York: Springer 2001, S. 37–69. – Sebastian Scheerer: Mythos und Mythode. Zur sozialen Symbolik von Serienkillern und Profilern. In: Ebd., S. 71–85. – Siehe auch Beiträge in: Joachim Linder / Claus-Michael Ort (Hg.): Verbrechen – Justiz – Medien. Konstellationen in Deutschland von 1900 bis zur Gegenwart (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 70) Tübingen: Niemeyer 1999. – Jörg Schönert (Hg.): Erzählte Kriminalität. Zur Typologie und Funktion von narrativen Darstellungen in Strafrechtspflege, Publizistik und Literatur. Vorträge zu einem interdisziplinären Kolloquium, Hamburg, 10.–12. April 1985 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 27) Tübingen: Niemeyer 1991. zurück
5 Der bekannte Berliner Kriminalist Ernst Gennat z.B. bezog sich 1936 in seiner Analyse zum Serienmordfall Adolf Seefeld auch auf Sherlock Holmes, aber in anderer Hinsicht: "Auch die beste Tatbestandaufnahme wird nur in einem Bruchteil aller Fälle direkt vom Tatort, von der Tat zum Täter führen – vorausgesetzt, daß überhaupt eine >Tat< vorliegt. Sherlock Holmes, der Held der bekannten Detektivfilme und Kriminalromane, hat es leichter als sein staatlicher Berufskollege." Ernst Gennat: Bearbeitung von Mord-(Todesermittlungs)-Sachen. Einschlägige Spezialorganisation bei der Berliner Kriminalpolizei. 5. Fortsetzung. In: Kriminalistische Monatshefte. Zeitschrift für die gesamte kriminalistische Wissenschaft und Praxis, Jg. 10 (1936), H. 8, S. 179–181, hier S. 180. zurück
6 Die Autorin bezieht sich im Text auf die 1996 bei dtv, im Literaturverzeichnis hingegen auf die 1989 bei Luchterhand erschienene Ausgabe. Hinweise auf Überarbeitungen, Vorworte und Einleitungen der Herausgeber dieser neuen Ausgaben fehlen vollständig. Das Originalwerk von Theodor Lessing wurde allerdings nicht nur in diesen beiden Fassungen wieder aufgelegt, sondern z.B. auch schon 1973, in diesem Jahr ohne neue Vorworte oder Einleitungen, siehe: Theodor Lessing: Haarmann. Die Geschichte eines Werwolfs (Außenseiter der Gesellschaft – Verbrechen der Gegenwart 6) Berlin: Verlag Die Schmiede 1925, Reprint München: Verlag Rogner & Bernhard 1973. zurück
7 Lessing selbst berichtet darüber in: Zwischenfall im Haarmann-Prozeß (Berlin, 20.12.1924), in: Das Tage-Buch, Jg. 5 (1924), H. 51, S. 1795–1798. Zur zeitgenössischen Rezeption siehe u.a.: Der Haarmann-Prozeß. Professor Dr. Lessing wird die Pressekarte entzogen. Die Kriminalpolizei im Fall Witzel. In: Beilage zum Hannoverschen Kurier, Nr. 599, Dienstag, 16. Dezember. – Der Protest gegen Lessing. Die Studentenrelegationen: In Beilage zum Hannoverschen Kurier, Nr. 261, Dienstag, 8. Juni 1926. – Eine Kundgebung Lessings. Neue Herausforderung. Drahtmeldung unserer Berliner Schriftleitung, In: Hannoverscher Kurier, Sonnabend, 12. Juni 1926. – Studentenschaft, Lessing, Ministerium. Der merkwürdige Erlaß des Ministeriums – Der Fall Lessing im Spiegel der Presse. In: Beilage zum Hannoverschen Kurier, Nr. 254 / 255, Freitag, 4. Juni 1926. zurück
8 Zu Haarmann siehe zuletzt Thomas Kailer: Werwölfe, Triebtäter, minderwertige Psychopathen. Bedingungen von Wissenspopularisierung: Der Fall Haarmann. In: Carsten Kretschmann (Hg.): Wissenspopularisierung. Konzepte der Wissensverbreitung im Wandel. Berlin: Akademie Verlag 2003, S. 323–359. Kailer formuliert wesentlich vorsichtiger (z.B. S. 323): "Haarmann versprach ihnen Obdach und Verpflegung, er nahm sie mit zu sich, vollzog mit ihnen sexuelle Handlungen und tötet sie während des Höhepunkts, vermutlich durch Erwürgen, vielleicht biß er ihnen auch die Halsschlagader durch." Das Gerücht zu Haarmann bezog sich zudem darauf, dass Haarmann das Fleisch verkauft habe – dies wäre in der Zeichentheorie der Autorin wohl noch einmal anders zu interpretieren. zurück
9 Inge Weiler: Giftmordwissen und Giftmörderinnen. Eine diskursgeschichtliche Studie (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 65) Tübingen: Niemeyer 1998. Vgl. die Rezension von Moritz Baßler in IASLonline: http://www.iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/bassler.htm – Siehe u.a. auch Dies.: Giftmischerinnen – >Das Wesen des Weibes und die Nähe der Frau zum Gift<. In: Petra Henschel / Uta Klein (Hg.): Hexenjagd. Weibliche Kriminalität in den Medien, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, S. 90–108. – Dies.: Die Sensationsberichterstattung der Illustrierten in den fünfziger und sechziger Jahren. Der Fall Christa Lehmann. In: Joachim Linder / Claus-Michael Ort (Hg.): Verbrechen – Justiz – Medien (wie Anm. 3), S. 193–214. zurück
10 Dass sich viele Autoren um Transparenz und Vermittelbarkeit bemühen, stellte Cornelia Musolff jüngst in ihrer Bestandsaufnahme fest: Täterprofile und Fallanalyse. Eine Bestandsaufnahme. In: Dies. / Jens Hoffmann (Hg.): Täterprofile bei Gewaltverbrechen (wie Anm. 4), S. 1–33, hier S. 5. zurück
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