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Markus Buntfuß

"Zu einem Bruder will ich euch führen..."

  • Hermann Fischer: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher. (Beck'sche Reihe — Denker, Band 563) München : Beck 2001. 168 S. 10 Abb. Kart. DM 24,90.
    ISBN 3-406-45974-9.


Repräsentant einer ganzen Epoche

Folgt man Friedrich Schleiermachers (1768—1834) eigenen Darlegungen "Über den Begriff des großen Mannes", so bestimmt sich dieser nicht dadurch, dass er "eine Schule stiftet, sondern ein Zeitalter". 1 Nun wurde Schleiermacher zwar auch als >Kant des Protestantismus< (David Friedrich Strauß) charakterisiert und als Vater der "Vermittlungstheologie" gewürdigt. Hermann Fischer jedoch kann in seiner Einführung zeigen, dass Schleiermacher darüber hinaus sein eigenes Kriterium eines großen Mannes erfüllt, insofern er nicht nur als Begründer einer theologischen Schule, sondern auch als Stifter und Repräsentant einer ganzen Epoche, als "der Herzschlag der neuen Zeit" (Novalis) 2 gelten darf.

Schleiermacher, der Professor und Pfarrer, Mitglied der Königlichen Akademie der Wissenschaften und Wegbereiter einer Kirchenunion zwischen lutherischer und reformierter Konfession, bildungspolitischer Berater Wilhelm von Humboldts und Mitbegründer der neuen Berliner Universität, WG-Genosse von Friedrich Schlegel und viel gerühmter Übersetzer Platons sowie erfolgreichster Prediger seiner Zeit, hat nicht nur in der Theologie die Disziplinen einer ganzen Fakultät (mit Ausnahme des Alten Testaments) abgedeckt, sondern auch in der philosophischen Ethik und Hermeneutik, in der Geschichte der antiken Philosophie, in der Ästhetik und Pädagogik Maßstäbe gesetzt, die teilweise noch heute auf ihre Erschließung warten.

Der Verfasser der Einführung, Hermann Fischer, ist emeritierter Professor für Systematische Theologie und gilt als ausgewiesener Kenner der Materie, der aufgrund seiner jahrzehntelangen Beschäftigung mit Schleiermacher auch als leitender Herausgeber der "Kritischen Gesamtausgabe" fungiert sowie einen grundlegenden Artikel zu Schleiermacher in der renommierten Theologischen Realenzyklopädie 3 veröffentlicht hat.

"Das Werk eines Schriftstellers [...],
ist letztlich er selbst" (Foucault)

Das Buch gliedert sich in zwei Teile zu Biographie und Werkgeschichte (S. 15—50) sowie zum philosophisch-theologischen Werk (S. 51—135). Im ersten Teil zeichnet Fischer die wichtigsten Stationen eines zunächst recht verschlungenen Lebensweges nach und macht die Biographie auf entstehende Fragestellungen hin transparent.

So werden Schleiermachers Grund- und Lebensthemen, die Wechselbeziehung zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen privater Frömmigkeit und religiöser Geselligkeit, zwischen Spontaneität und Rezeptivität auch auf dem Hintergrund einer früh erlebten Spannung zwischen schulischer Erziehung und individueller Hochbegabung, zwischen religiöser Sozialisation und persönlichem Reflektionsbedürfnis verständlich.

Kritisch anzumerken bleibt gleichwohl, dass die vorgenommene Zweiteilung des Buches eine fruchtbare Verschränkung von Leben und Werk nur in beschränktem Maße ermöglicht, obwohl Fischer seine Darlegungen selbst unter das Motto einer Sentenz von Michel Foucault stellt (S. 15), demzufolge das Werk eines Schriftstellers nicht seine Bücher, sondern seine ganze Existenz ist.

"Meine Philosophie also und meine Dogmatik
sind fest entschlossen, sich nicht zu
widersprechen" (Schleiermacher)

Der zweite Hauptteil wendet sich der Darstellung des philosophisch-theologischen Werkes zu, wobei Fischer seinen Darlegungen eine gelungene Synthese aus werkbezogener und sachbezogener Rekonstruktion zugrunde legt. Die Interpretation muß sich freilich angesichts des begrenzten Umfangs von 86 Seiten auf leitende Intentionen, Architektonik und Grundargumente beschränken, was durchwegs in ausgewogener Weise und unter Kennzeichnung abweichender Extrempositionen geschieht.

Indessen gibt sich auch Fischer als Vertreter einer bestimmten Interpretationsrichtung zu erkennen, die das Denken Schleiermachers in der Fortführung der Fragestellung Immanuel Kants und Johann Gottlieb Fichtes einer subjektivitätstheoretischen Deutung unterzieht.

  • Im Hinblick auf das Opus magnum, die Glaubenslehre 4 etwa urteilt Fischer, es entspreche "dem subjektivitätstheoretischen Ansatz der Dogmatik Schleiermachers, dass die göttlichen Eigenschaften als Spiegelungen des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls interpretiert werden" (S. 107). Abgesehen von der — beabsichtigten oder unbeabsichtigten? — Nähe der Spiegelmetapher zur Projektionsmetapher der Religionskritik, die sich in Gestalt Ludwig Feuerbachs ausdrücklich auf Schleiermacher berufen hat, konnte in der Forschung auch die entgegengesetzte These vertreten werden, wonach das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl seinerseits als Spiegelung der schlechthinnigen Ursächlichkeit Gottes zu verstehen sei — so zumindest die Pointe des großen Religionswissenschaftlers Rudolf Otto in seinem Hauptwerk "Das Heilige" von 1917: "Das Gefühl einer >schlechthinnigen Abhängigkeit< meiner hat zur Voraussetzung ein Gefühl einer >schlechthinnigen Überlegenheit (und Unnahbarkeit)< seiner." 5

  • Stellt die Eliminierung des Begriffs der Anschauung in der zweiten Auflage der berühmten Reden "Über die Religion" (1. Auflage 1799; 2. Auflage 1806) eher eine Frage der Einzelexegese dar, so kann ihre Erläuterung durch Fischer doch als Symptom für dessen Deutungsperspektive gelten. Schleiermacher habe demnach den in der 1. Auflage prominenten Begriff der Anschauung (Religion als >Anschauen des Universums<) aus Rücksicht auf den kantischen Sprachgebrauch zurückgenommen und durch den Gefühlsbegriff ersetzt. Betont Fischer generell Schleiermachers "subjektivitätstheoretisch fundierte theologische Argumentationen, die den Erkenntnissen der Transzendentalphilosophie Kants Rechnung tragen" (S. 140), so meint er auch im Falle dieser Streichung eine Korrektur nach Maßgabe der kantischen Vernunftkritik annehmen zu müssen. "Da nach Kant alle Anschauung sinnlich bedingt ist, kann die Kategorie der Anschauung für die Gottesidee nicht in Betracht kommen" (S. 57). Hier jedoch verstellt die transzendentalphilosophische Betrachtungsweise mehr als sie erhellt.

    1. Denn zum einen war Schleiermacher der kantische Sprachgebrauch seit seines Studiums geläufig, so dass eine unterstellte Verwendung wider besseres Wissen den Autor schlechter verstehen würde, als er sich selbst verstand. Schleiermacher dachte demgegenüber bei dem Begriff >Anschauung< im bewußten Gegensatz zu Kant nicht an einen Terminus des sensualistischen Empirismus, sondern an den philosophiegeschichtlich und problemgeschichtlich viel umfassenderen Intuitionsbegriff, der von Platons theoria über die antike und mittelalterliche Lehre vom schöpferischen nous und das Wesenswissen der Neuzeit bei Spinoza bis zu Schellings intellektueller Anschauung reicht (von der er sich jedoch absetzt; siehe Punkt d)).

    2. Selbst wenn Schleiermacher eine nachträgliche Anpassung an die transzendentalphilosophische Terminologie vorgenommen hätte, könnte seine Lösung nicht als tragfähige Antwort gelten, da Kant nicht nur die Anschauung, sondern auch die "Gefühle, welche zu empirischen Erkenntnisquellen gehören" 6 , eng an die Sinnlichkeit bindet. Der Gefühlsbegriff stellt bei Kant gar keinen theoretischen, sondern einen praktischen Begriff dar, der "außer der gesamten Erkenntniskraft liegt" und deshalb "nicht in den Inbegriff der Transzendentalphilosophie, welche lediglich mit reinen Erkenntnissen a priori zu tun hat" 7 , gehört.

    3. Sodann kann ausgerechnet die Gottesidee, für die der Anschauungsbegriff nach Fischer untauglich ist, nicht als Kriterium für eine adäquate Bestimmung der Religion in den >Reden< herangezogen werden, da eine deren Hauptintentionen die Entschränkung von Religionsbegriff und Gottesbegriff ist. Demnach ist es nach Schleiermacher sehr wohl möglich, "daß eine Religion ohne Gott beßer sein kann, als ein andre mit Gott" 8 . "In der Religion also steht die Idee von Gott nicht so hoch als Ihr meint." 9

    4. Schließlich hat bereits Hermann Süskind 10 plausibel gemacht, dass Schleiermacher mit jenem Eingriff auf eine neue Konstellation in der philosophischen Fachterminologie seiner Zeit reagiert: Schellings Reklamation der Anschauung des Universums für die Philosophie und die höchste Form der wissenschaftlichen Erkenntnis. Dieser Sprachgebrauch stand nun aber tatsächlich im Widerspruch zur Bestimmung der Religion in den >Reden<, hatte Schleiermacher doch unmißverständlich festgestellt, die Religion sei weder ein Wissen, noch begründe sie eine Metaphysik. Angesichts seiner Karriere bei Schelling und um ein Mißverständnis von Religion als Wissen, resp. Wissenschaft auszuschließen, streicht Schleiermacher den Anschauungsbegriff und behält allein den Gefühlsbegriff übrig. 11

In Ergänzung zu dem von Fischer hervorgehobenen "subjektivitätstheoretisch durchgeklärten Begriff von Frömmigkeit" (S. 140) wird man bei Schleiermacher also ebenso von einem identitätstheoretisch konzipierten sowie kulturtheoretisch gewendeten Begriff von Religion auszugehen haben, der auf die individuelle Aneignung und Gestaltung eines überindividuellen Einheitshorizontes (Universum) abhebt. Denn wenn in Bezug auf Schleiermachers weit gespannte Denktätigkeit ein durchgängiges Motiv benannt werden kann, dann die lebendige Vermittlung und wechselseitige Durchdringung von Individuellem und Allgemeinem, von Endlichem und Unendlichem, welche sich nicht im Sinne einer monokausalen Begründungslogik auf ein Relat reduzieren läßt.

"dass auch auf die schönste Weise meine Menschheit
auf Menschheit wirke" (Schleiermacher)

Die abschließenden Seiten widmet Fischer einigen weiterführenden Hinweisen zur Rezeption und Wirkung Schleiermachers, die freilich außerhalb der Theologie recht marginal geblieben ist, was auch mit der Veröffentlichungspolitik Schleiermachers zu tun hat, der nur wenige Schriften bis zur Publikation gebracht hat. Das erklärt schließlich auch die für eine breitenwirksame Rezeption hinderliche Editionslage, die sich erst seit dem Entstehen der Kritischen Gesamtausgabe entscheidend verbessert, aber noch einen weiten Weg vor sich hat. Für eine interdisziplinäre Beschäftigung mit Schleiermacher wird schließlich auch die Herausgabe der Schriften durch Andreas Arndt im Suhrkamp Taschenbuch — Programm günstige Ausgangsbedingungen schaffen, weshalb dem Projekt eine zügige Bearbeitung zu wünschen ist.

5. Fazit

In einer klaren Sprache, die auf angestrengte Überkompliziertheit ebenso wie auf spezialistische Fachterminologie verzichtet, gelingt es Fischer in souveräner Weise, die Fülle der Tätigkeiten und Themenfelder, die den Denker und Autor Schleiermacher beschäftigt haben, in ihrer enzyklopädischen Weite, aber auch in ihrer durchreflektierten Tiefe zur Darstellung zu bringen.

Für eine erste aber auch eindringende Begegnung mit dem Denken und Wirken Schleiermachers ist das Buch somit bestens geeignet, ebenso für einen Überblick über den Zusammenhang eines enzyklopädisch angelegten Oeuvres, das sich nicht auf einige theologische Hauptgedanken reduzieren läßt. 12


Dr. Markus Buntfuß
Julius-Maximilians-Universität Würzburg
Lehrstuhl für Evangelische Theologie
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Ins Netz gestellt am 22.01.2002
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Anmerkungen

1 Friedrich Schleiermacher's sämmtliche Werke, Abt. III, Bd. 3, Berlin: Reimer 1835, S. 83.   zurück

2 Mit diesen emphatischen Worten begrüßt Novalis in "Die Christenheit oder Europa" (entstanden 1799) die im gleichen Jahr erschienenen Reden Schleiermachers "Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern" und unter Anspielung auf seinen Namen auch den anonymen Verfasser: "Zu einem Bruder will ich euch führen, der soll mit euch reden, daß euch die Herzen aufgehn [...]. Dieser Bruder ist der Herzschlag der neuen Zeit, wer ihn gefühlt hat zweifelt nicht mehr an ihrem Kommen, und tritt mit süßem Stolz auf seine Zeitgenossenschaft auch aus dem Haufen hervor zu der neuen Schaar der Jünger. Er hat einen neuen Schleier für die Heilige gemacht" (Novalis, Schriften, 3 Bde., hrsg. v. Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1999, Bd. 2, S. 746f.).   zurück

3 Theologische Realenzyklopädie, Bd. 30, 143—189; die vorliegende Einführung basiert weitgehend auf diesem Artikel, der nur geringfügig überarbeitet, aber um etliche Passagen zur Platon-Übersetzung (Kap. 3, 2b), zum Ausbau des philosophischen Systems (Kap. 5), zur Glaubenslehre (Kap. 6, c), sowie zu den theologischen Vorlesungen (Kap. 7, b) bis d)) ergänzt wurde. Außerdem bietet der TRE-Artikel ein umfassendes Literaturverzeichnis bis 1999, während sich die Einführung auf eine orientierende Auswahl der wichtigsten Titel bis einschließlich 2001 beschränkt.   zurück

4 Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, Berlin: Reimer 1821 / 22.   zurück

5 Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen (1917), München: Beck 1987, hier Rudolf Otto war es auch, der 1899 anläßlich des 100jährigen Erscheinens von Schleiermachers Reden "Über die Religion" eine Jubiläumsausgabe veranstaltet und dabei wieder die 1. Auflage der Reden zugrunde gelegt hat, die seither die Rezeption dieses Textes bestimmt.   zurück

6 KrV A 15, B 29.   zurück

7 KrV A 801, B 829, Anmerkung.   zurück

8 Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, hrsg. v. Günter Meckenstock, Berlin: de Gruyter 1999, S. 112.   zurück

9 Ebd., S. 113.   zurück

10 Der Einfluß Schellings auf die Entwicklung von Schleiermachers System, Tübingen. Mohr 1909.   zurück

11 Dieser Argumentation hat sich unter Beibringung zusätzlicher Gründe auch Jan Rohls angeschlossen: Frömmigkeit als Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit. Zu Schleiermachers Religionstheorie in der "Glaubenslehre"., In: Internationaler Schleiermacher-Kongreß, Berlin 1984, hrsg. v. Kurt-Victor Selge / Hermann Fischer, Berlin: de Gruyter 1985, S. 221—252.   zurück

12 Hervorgehoben sei außerdem noch der sorgfältig erarbeitete Anhang mit Zeittafel, thematischer Bibliographie, sowie Personen- und einem sehr detaillierten Sachregister.   zurück