Caduff über Gilman / Steinecke: Deutsch-jüdische Literatur

IASLonline


Corina Caduff

"Gefestigt, klar und selbstbewusst".
Ein Aufsatzband zur deutsch-jüdischen
Literatur der 1990er Jahre

  • Sander L. Gilman / Hartmut Steinecke (Hg.): Deutsch-jüdische Literatur der neunziger Jahre. Die Generation nach der Shoah. Beiträge des internationalen Symposions 26.–29. November 2000 im Literarischen Colloquium Berlin-Wannsee (Beihefte zur Zeitschrift für deutsche Philologie; 11) Berlin: Erich Schmidt Verlag 2002. 272 S. Kart. € 46,80.
    ISBN 3-503-06125-8.


Deutsch-jüdische Literatur. Auf dem Cover des Sammelbandes wird dieser Titel-Begriff ganz selbstverständlich und schnörkellos gesetzt. Doch im Beschreibungstext auf der Rückseite des Buches findet er sich bei der ersten Nennung in Anführungszeichen:

Seit Ende der 1980er Jahre erschienen zahlreiche Werke jüdischer Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die nach der Shoah geboren wurden. Es entstand, was vor einem Jahrzehnt niemand vorausgesehen und erwartet hätte: eine neue Blüte der >deutsch-jüdischen Literatur<.

Markieren die Anführungszeichen hier explizit eine begriffliche Unsicherheit, so werden sie allerdings einige Zeilen weiter, wo erneut von der deutsch-jüdischen Literatur die Rede ist, wieder fallengelassen. Das ist nicht als Inkonsequenz zu kritisieren, denn das, was die Anführungszeichen zum Ausdruck bringen, ist ja eben da: ein Unbewältigtes, ein begrifflich nicht restlos zu Bewältigendes, für das die Interpunktion als Platzhalter einspringt.

Wie schwer man sich mit dem Verhältnis der Worte >deutsch< und >jüdisch< tut, zeigen – um noch einen Moment bei der Textsorte zu bleiben – so manche Klappentexte literarischer Bücher, in denen jüdische Autoren und deutsches Schreiben zusammenformuliert werden. So setzt etwa die Beschreibung eines Essaybandes von Esther Dischereit (edition suhrkamp, 1998) folgendermaßen ein:

Mit den Übungen, jüdisch zu sein legt die Autorin eine Sammlung von Aufsätzen vor, in denen sie sich mit der Fremd- und Eigenwahrnehmung eines Jüdisch-Seins in Deutschland – deutscher Herkunft – nach 1945 auseinandersetzt.

Das Einsprengsel "deutscher Herkunft" ist eigentümlich: fungiert es als Präzisierung, als Korrektur, als Zurücknahme, als Variante? Noch eklatanter nimmt sich ein anderes Klappentext-Beispiel aus, mit dem die Schriftstellerin Barbara Honigmann als gewordene Nationaldichterin etikettiert wird:

Barbara Honigmann ist 1984 von Ostberlin nach Strassburg gezogen, doch mit ihren Büchern, die bei Leserinnen und Lesern durch ihren ebenso direkten wie poetischen Ton ein begeistertes Echo fanden, ist sie eine deutsche Autorin geworden. (Damals, dann und danach, Hanser, 1999). 1

Die Etablierung neuer deutsch-jüdischer Literatur

Gemäß dieser Problematik geht Hartmut Steinecke, einer der beiden Herausgeber des Bandes "Deutsch-jüdische Literatur der neunziger Jahre", in seiner Einleitung ausführlich auf die neue Konjunktur des Begriffes "deutsch-jüdische Literatur" ein, der im deutschsprachigen Raum seit den neunziger Jahren wieder diskutiert wird. Dabei hebt er hervor, dass Literaturwissenschaftler, die außerhalb Deutschlands arbeiten, offensiver an die Sache herangegangen sind, wie zum Beispiel Sander Gilman, der schon vor einem Jahrzehnt für die Wiedereinführung des Begriffs plädierte. Mit dem im Jahre 2000 herausgekommenen "Metzler-Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur" 2 hat sich die Rede von einer deutsch-jüdischen Literatur im literaturbetrieblichen Diskurs nach Jahrzehnten der Vermeidung und Abwehr scheinbar etabliert, und diese Etablierung wird vom nun vorliegenden Aufsatzband nachhaltig unterstützt.

Darin wird Literatur von Autoren besprochen, die nach 1945 geboren sind, die also die Shoah nicht unmittelbar erlebt, sondern durch Erzählungen und Berichte vermittelt bekommen haben, und die mit ihren Texten in den 1980er und 1990er Jahren an die literarische Öffentlichkeit getreten sind. Im wesentlichen gibt es drei Bezugspunkte, über die eine deutsch-jüdische Literatur gefasst wird und um die auch die Beiträge in dem neuen Sammelband kreisen: die Zugehörigkeit der Autoren zum Judentum, die Themen, und schließlich poetische Figurationen und Verfahren.

Konservatives von außen, Radikales von innen

Die Aufsatzsammlung geht auf ein internationales Symposion im Literarischen Colloquium Berlin (November 2000) zurück. Sie enthält Studien zu einzelnen Schriftstellerinnen und Schriftstellern, zu übergreifenden Fragestellungen wie z.B. der Exterritorialitäts- und Erinnerungsdarstellung sowie komparatistische Beiträge zur französisch-jüdischen Literatur oder zur Rezeption der deutsch-jüdischen Literatur in Amerika. Obschon die Einzelstudien – zum Beispiel zu Maxim Biller (Norbert Otto Eke), Esther Dischereit (Norbert Oellers) oder Robert Schindel (Dieter Lamping) – zweifellos interessant und notwendig sind, liegt der Gewinn des Bandes doch eher in den Beiträgen, die größere Fragestellungen entwickeln und Texte verschiedener Autoren berücksichtigen.

Generell, so mag man mit Dagmar Lorenz festhalten, ist der Ton der deutsch-jüdischen Literatur der neunziger Jahre "gefestigt, klar und selbstbewusst". Die Schreiborte und Schreibstrategien aber, die diesen Ton hervorbringen, sind durchaus unterschiedlich. So beschäftigt sich Andreas Kilcher, Herausgeber des genannten Metzler-Lexikons, mit dem Problem der Exterritorialität: er unterscheidet zwischen einem "Schreiben vor Ort", d.h. zwischen Autoren, die in Deutschland leben und schreiben, und einer neuen deutsch-jüdischen Emigrationsliteratur (von Autoren wie Lea Fleischmann, Barbara Honigman und Chaim Noll, die Deutschland in den achtziger Jahren verlassen haben). Letztere präsentieren, so Kilcher profiliert, eine Literatur, die "mit eher klassischen ästhetischen Mitteln und traditionellen Erzählweisen ein sublimiertes Kultur- und Literaturdeutschland konstruiert, das dem historischen und realen entgegensteht."

Esther Dischereit und Maxim Biller hingegen oder auch der österreichische Jude Doron Rabinovici, die im deutschsprachigen Raum schreiben und damit in ihrem Schreiben nicht eine geographische, sondern eine kulturelle Exterritorialität bezeugen, artikulieren sich um vieles radikaler und progressiver. Sie entwickeln wie Rabinovici Schreibweisen, in denen insbesondere der Witz – "ein dezidiert jüdisches Schreibverfahren des Gedenkens" (S.139), "eine ästhetische Strategie gegen das Vergessen" (133f.) – sowie Strategien der Polemik und des Zynismus (eine Spezialität von Maxim Biller) eine zentrale Rolle spielen (vgl. S.143).

Dagmar Lorenz erörtert im Anschluss daran die "Erinnerung um die Jahrtausendwende" in der aktuellen deutsch-jüdischen Literatur, und Hartmut Steinecke geht der Frage nach, wie jüdische Schriftsteller auf die Wende reagiert haben, wobei er insbesondere Autoren berücksichtigt, die literarisch und journalistisch an die Öffentlichkeit getreten sind (Henryk M. Broder, Rafael Seligmann, Maxim Biller) sowie Autoren aus der DDR (Hans / Chaim Noll und Barbara Honigmann). Aufgezeigt wird dabei, wie der Diskurs der Wende und die Diskussion des neuen Antisemitismus ineinandergreifen und zur literarischen Produktion von neuer jüdischer Literatur (und Identität) beigetragen haben.

Amir Eshels methodische Reflexion

Die wohl weitestgehende methodische Reflexion in dem Band bietet der Stanforder Literaturwissenschaftler Amir Eshel. In seinem Beitrag, der etwas unglücklich in die Einzelstudien eingereiht ist, fordert er zwei vergleichende Perspektivierungen: Zum einen plädiert er dafür, die deutsch-jüdische Literatur mit jüdischer Literatur anderer Sprachen zusammenzulesen, zum andern sei sie im Kontext der deutschen (nicht-jüdischen) Gegenwartsliteratur zu sehen.

Während der Band den ersten Punkt mit Beiträgen zur jüdischen Kultur und Literatur in der Schweiz, in Frankreich und Amerika einlöst, bleibt der zweite gänzlich unberücksichtigt. Einzig Amir Eshel selbst setzt ihn in die Praxis um, indem er eine Poetik des Verlusts in einer Ko-Lektüre von Ulrich Treichels "Der Verlorene" und Barbara Honigmanns "Soharas Reise" untersucht. In beiden Texten geht es um den Verlust eines Kindes, der einen genealogischen und historischen Bruch markiert. In Treichels Roman drückt eine von Russen bedrohte deutsche Mutter ihr Kind einer fremden Frau in die Arme; im Nachhinein stellt sich heraus, dass sie gar nicht bedroht gewesen war, dass der Verlust des Kindes also >sinnlos< gewesen ist. In Honigmanns Roman wirft eine Frau, kurz vor der Deportation in ein deutsches Konzentrationslager, ihr Kind vom Balkon aus in die Arme einer anderen Frau. Eshel arbeitet die Analogien dieser beiden Verlust-Fälle heraus und schließt mit der Bemerkung, dass solche vergleichenden Perspektiven über die disziplinären Grenzen der bisherigen Diskussion einer deutsch-jüdischen Literatur hinausweisen könnten (und sollten).

Gerade mit einem vermehrten vergleichenden Einbezug auch von nicht-jüdischer deutscher Literatur wäre dem Problem der Partikularisierung und Marginalisierung entgegenzuwirken, zum Beispiel eben mit Analysen von bestimmten poetischen Figurationen und entsprechenden narrativen Strukturen der Texte:

Über die Frage der thematisch-mimetischen Darstellung des Historischen, der Shoah hinaus, könnte das weitaus breitere Problem poetischer Figuration historischer Zeit untersucht werden. Eine solchermaßen akzentuiertere poetisch-rhetorische Lektüre könnte uns nicht nur neue Dimensionen in der Erforschung der jungen deutsch-jüdischen Literatur eröffnen, sondern nicht zuletzt gegen die allzu evidente Gefahr einer Hochstilisierung und philosemitischen Marginalisierung dieser Literatur wirken. (S.62f.)

Solcher Marginalisierung leisten etwa jüngste Anthologien mit "neuer jüdischer Prosa" Vorschub, wenn sie offenbar soviel Texte wie nur möglich versammeln, deren unterschiedliche Qualität mit dem Bezug auf das allen gemeinsame "Jüdische" nivelliert wird. 3 Wünschenswert in dieser Richtung wären, dies sei als Desiderat in bezug auf den vorliegenden Aufsatzband formuliert, m.E. auch Untersuchungen von (inhaltlichen, terminologischen, literaturbetrieblichen) Analogien und Differenzen zwischen der neueren deutsch-jüdischen Literatur und anderen, emanzipatorisch-identifikatorischen Literaturen wie beispielsweise der Frauenliteratur oder Schwulenliteratur; damit könnten möglicherweise ähnliche literaturbetriebliche Fallen und problematische Autorschaftskonzepte vermieden und weiterführende theoretische Erkenntnisse über die gegenwärtigen Voraussetzungen einer "deutsch-jüdischen Literatur" gewonnen werden.

Das drohende Verschwinden früherer Generationen 4

In der Fokussierung von Texten der neunziger Jahre droht die Literatur jüdischer Autoren der vorangegangenen Generation – u.a. Celan, Hildesheimer, Hilsenrath, Nelly Sachs, Grete Weil – zu verschwinden. Stephan Braese hat in seiner brillant-subtilen Habilitationsschrift "Die andere Erinnerung. Jüdische Autoren in der westdeutschen Nachkriegsliteratur" (2001) diskursanalytisch aufgezeigt, mit welchen Strategien jüdische Thematiken in den Nachkriegsjahrzehnten getilgt worden sind. In dem von Gilman und Steinecke herausgegebenen Band ist er mit dem Eröffnungsbeitrag vertreten, in dem er die sprachpolitische Auslöschung der Juden – z.B. in der Gruppe 47 – nachzeichnet und die Disposition deutscher literarischer Verhältnisse nach 45 gegenüber jüdischen Autoren herausarbeitet.

Hinsichtlich der aktuellen deutsch-jüdischen Literatur zieht er dabei folgendes Fazit:

Im Blick auf die deutsche Gegenwartsliteratur der neunziger Jahre [...] erscheinen die Werke jener jüdischen Autoren deutscher Sprache, die in den Jahrzehnten etwa zwischen 1950 und 1980 arbeiteten, wie versunken, verloren – fast, als ob die Erinnerung an sie unweigerlich einem Eingedenken ihrer Niederlage gleichkäme. (S.28)

Dieser Befund ist angesichts der Aufsatzsammlung nicht von der Hand zu weisen, und es ließe sich auch sagen, dass Braeses Artikel in dem Band selbst einen etwas versunkenen und verlorenen Ort einnimmt. Zwar suchen manche Beiträger durchaus, Spuren vorangegangener Literatur in den Texten der jüngeren Autoren-Generation herauszulesen und aufzuheben; doch tatsächlich scheint der vorherrschend >laute Ton< der aktuellen deutsch-jüdischen Literatur ("gefestigt, klar und selbstbewusst") das leise und marginalisierte frühere Erzählen leicht zu verdecken.

Noch einmal: zur Etablierung
neuer deutsch-jüdischer Literatur

Der Band "Deutsch-jüdische Literatur der neunziger Jahre" leistet in vortrefflicher Weise zweierlei: zum einen präsentiert er vielschichtige Lektüren verschiedenster Texte, die deutlich zeigen, dass die aktuelle "deutsch-jüdische Literatur" keineswegs als Bedeutungseinheit zu verstehen ist, sondern als Nebeneinander heterogener Themen, Schreibweisen und Identitätskonzepte. Zum andern geht aus den Beiträgen ebenso deutlich hervor, dass auch die voranschreitende Etablierung einer "deutsch-jüdischen Literatur" die Schwierigkeiten und Risiken einer solchen Begriffsbildung nicht zugleich beseitigen kann und auch nicht versuchen sollte, sie zu beseitigen; vielmehr scheint es wichtig, dass dieser fortschreitenden Begriffs-Etablierung eine ebenfalls fortschreitende Begriffs-Reflexion einhergeht.

Wer sich eingehend mit der aktuellen deutsch-jüdischen Literatur und ihrer Rezeption beschäftigen möchte, findet in dem Band eine 25-seitige Bibliographie mit Primär- und Sekundärtiteln, die Petra Renneke dankenswerterweise erstellt hat.


PD Dr. Corina Caduff
Technische Universität Berlin
Institut für Deutsche Philologie
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Ins Netz gestellt am 31.07.2002
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Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Prof. Dr. Norbert Otto Eke. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.


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Anmerkungen

1 Am selben Ort ist im weiteren gar die Rede von "jüdisch-deutschen [sic] Schicksalen in diesem Jahrhundert".    zurück

2 Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur. Jüdische Autorinnen und Autoren deutscher Sprache von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Hg. von Andreas Kilcher. Stuttgart u.a.: Metzler 2000.   zurück

3 Vgl. den Band "Zweifache Eigenheit. Neuere jüdische Literatur in der Schweiz". Hg. von Rafaël Newman. Zürich: dtv 2001, oder die Anthologie "Nur wenn ich lache. Neue jüdische Prosa". Hg. von Olga Mannheimer und Ellen Presser. München: dtv 2002.   zurück

4 Zu der aktuellen Problematisierung des Generationenbegriffs als Zähleinheit historischer Zeit siehe die Beiträge von Sigrid Weigel: Die "Generation" als symbolische Form. Zum genealogischen Diskurs im Gedächtnis nach 1945. In: Figurationen. Gender, Literatur, Kultur. Nr. 0 (1999), S.158–173; Generation, Geneaologie, Geschlecht. In: Kulturwissenschaften. Forschung – Praxis – Positionen. Hg. von Lutz Musner und Gotthart Wunberg. Wien: Facultas 2002, S.161–190.    zurück