Cebulla über Köhler: Sie werden plaziert

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Florian Cebulla

Viel mehr als eine Kaffeemaschine

Kurzrezension zu
  • Tilo Köhler: Sie werden plaziert! Die Geschichte der Mitropa. Berlin: Transit Buchverlag 2002. 176 S. Geb. EUR (D) 19,50.
    ISBN 3-88747-177-6.


Viel mehr als eine Kaffeemaschine gewinnen die Leserinnen und Leser der neuen kulturgeschichtlichen Darstellung über die Mitropa. Tilo Köhler, seines Zeichens Literaturwissenschaftler, freier Journalist und einstmals Speisewagenkellner in der DDR, entführt in die Welt der Dienstleistungen und Versorgungseinrichtungen der Mitteleuropäischen Schlafwagen- und Speisewagen-Aktiengesellschaft.

Die kulinarische Eisenbahnreise –
Die Gründung der Mitropa während des Ersten Weltkriegs

Ausgehend von der kriegsbedingten Unternehmensgründung im Jahre 1916 unternimmt der Autor auf Basis profunder Sachkenntnis, Quellenrecherche und eigener Erfahrung eine Zeitreise durch die Geschichte der Mitropa bis zu ihrem Verschwinden in jüngster Zeit. Ein Gewinn, denn Tilo Köhler führt eine kulinarische (Eisenbahn-) Reise durch das komfortable Speiseangebot der 20er und 30er Jahre, durch die Rationierungen in Kriegs- und Nachkriegszeit, vor allem aber durch die Ernährungspraxis der DDR-Mangelwirtschaft, die jedoch seit den 70er Jahren mit der automatisierten Produktion von Convenience-Produkten westlichen Catering-Konzepten nicht mehr fern stand (S. 151–152).

Ein reicher Fundus an Bildquellen, von der Werbegrafik und -fotografie über die Ablichtung von Mitarbeitern, Reisenden und Betriebseinrichtungen bis hin zur Speisekarte, macht den besonderen Reiz des Buches aus. Es finden sich auch zahlreiche Fotos von der westdeutschen Konkurrenz, der Deutschen Schlafwagengesellschaft (DSG). Das Bildmaterial ergänzt den Text oftmals vortrefflich (vgl. besonders S. 91–93) und regt zu weiteren Interpretationen an. Es gibt Aufschluss über die jeweilige Selbstdarstellung des Unternehmens und die Stilisierung durch spezielle Werbetechniken. Zum Ausdruck kommen zeitspezifische Moden und die sich wandelnde Produkt-Ästhetik.

Die "Versüßung" der Mobilität

Text und Bild liefern einen Streifzug durch die Reisekultur des 20. Jahrhunderts. Die >Versüßung< der Mobilität durch ein mehr oder weniger umfangreiches und luxuriöses Schlaf- und Speisewagenangebot steht dabei im Mittelpunkt. Geschildert wird die reisebedingte Alltags- und Konsumentenkultur in Abhängigkeit zu den jeweiligen politischen und ökonomischen Basisbedingungen von der Weimarer Republik über den Nationalsozialismus bis hin zum >real existierenden Sozialismus<. Die Geschichte der Mitropa als Schlaf- und Speisewagenunternehmen der DDR dominiert allerdings die Darstellung (S. 45–158). Die Zeit zwischen 1916 und 1945 wird leider nur sehr verkürzt, quasi als Vorgeschichte, behandelt (S. 7–44).

Dennoch erfahren wir, dass die Mitropa im Ersten Weltkrieg als Gegenpol der Achsenmächte zur monopolistischen französisch-belgischen Internationalen Schlafwagen-Gesellschaft (ISG) gegründet wurde (S. 12), dass dies unter den Bedingungen der Versailler Nachkriegsordnung die Position der Mitropa schwächte, die allerdings versuchte, mindestens ebenso luxuriös wie die ISG aufzuwarten und mit dem >Rheingold< paradierte (S. 16–18). Wir erfahren auch von berühmten Passagieren, die in den 20er und 30er Jahren bei der Mitropa dinierten. Dass hier die Comedian Harmonists auf Hitler und seine Paladine prallten und dass die Mitropa-Wagen zum Tummelplatz von Gestapo-Agenten wurden, die hier Emigranten auszuforschen trachteten (S. 23–20).

Im Schwerpunkt gibt es jedoch etwas über die Geschäftszweige, das Personal, das kulinarische Angebot und den – wie der Autor immer wieder betont – "muffligen" Service der Mitropa in der "biertrinkenden Fortschrittsgemeinde DDR" (S. 50) zu lesen. Der Besuch des volkseigenen Mitropa-Speisewagens wird in Tilo Köhlers essayistischer Darstellung auch im Nachhinein noch zum Erlebnis:

Da aber hatte längst das nationale proletarische Kulinariat über die bürgerlich rückständige Gastlichkeit triumphiert. Der Kellner war König, dem man einen Wunsch nur in vollendeter Form unerbittlicher Unterwerfung vorzutragen wagte. Kulinarische Unwägbarkeiten wie >Hacki<, die legendäre Hackroulade, deren Innenleben zu den letzten großen Welträtseln gehörte, garantierten Abenteuer des Schienenstrangs, gegen die Jack Londons lebensgefährliche Kohlentrimmerfahrten als Sommerausflüge erschienen. (S. 64)

Als historisches Faktum erfahren wir, dass die Konzessionierung für die Bahnhofswirtschaften seitens der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) der Grundstein für die Wiederbelebung der Mitropa in der Nachkriegszeit war (S. 49). Improvisation und Organisationstalent der Speisewagenbesatzungen hielten den Betrieb – trotz Zuteilungsmängeln – im Fluss. Unterschlagungen und Menü-Kalkulationen durch das Personal besserten manchmal die kärgliche Grundentlohnung und die spärlichen Leistungsprämien auf den Verkauf von Speisen und Getränken aus (S. 110–111).

Die Erweiterung des Wirkungsfelds der Mitropa

Schließlich werden die Lesenden über den verstärkten Alkoholumsatz der Mitropa und somit den erheblichen Alkoholkonsum der DDR-Bürger aufgeklärt. Offenbar war die Diktatur nur im Vollrausch mittels Hektolitern an Bier und dem erfolgreichen "Kleinflaschenprogramm", also Hochprozentigem in Flachmännern, zu bewältigen (S. 113–114). Seinen größten Umsatz erreichte das Unternehmen mit dem Betrieb der Bahnhofsgaststätten und Autobahnraststätten, weniger im Speisewagenbereich (S. 126). Daneben betrieb die Mitropa Frisiersalons und sorgte für das kulinarische Angebot auf Fahrgastschiffen, im Flugzeug-Catering und in Flughafenrestaurants. Auch um die Beziehungen zur westdeutschen DSG stand es nicht schlecht, was die Zusammenführung der beiden Unternehmen 1990 förderte – so die Bewertung Tilo Köhlers (S. 161–172).

DBNachtzug und CityNightLine –
Das Ende der Mitropa

Heute existiert die Mitropa als Name nicht mehr im Bereich der Eisenbahn. Der gute alte Speisewagen hat ausgedient. Den Mitropa-Schlafwagen haben DBNachtzug und die >neudeutsche< Marke CityNightLine abgelöst. In Tilo Köhlers Buch lebt die Mitropa fort, ihre Gäste, ihre Mitarbeiter, der Betriebsalltag. Das Buch will keine detailreiche Unternehmensgeschichte sein wie sie z. B. in der rechtswissenschaftlichen Studie von Gudrun Bechtloff 1 vorliegt. Es ist auch kein technikhistorisches Sachbuch für Eisenbahnfreunde oder gar eine, politischen Diktionen unterliegende Unternehmensgeschichte. Wer in diese Richtung interessiert ist, greife zu den Büchern von Albert Mühl 2 und einem DDR-Autorenkollektiv 3 .

Tilo Köhler leistet mehr und anderes. Mit dem Erfahrungsschatz eigener Speisewagenkellnerei und aus der Perspektive der Reisenden hat er den Mitarbeitern, den >Mitropisten<, die mit Auflösung der Unternehmenssparte >Service im Zug< ihren Bezugspunkt verloren haben, ein Denkmal gesetzt. Er hat damit zugleich auch der aussterbenden Spezies der klassischen Speisewagenbesucher und Schlafwagenbenutzer ein Denkmal gesetzt. Diese wird angesichts einer verflachten neuen Reisekultur mit Fast-Food-Catering, Minibar und komfortloser Mobilität in Billigfliegern zunehmend zerrieben.

Die Geschichte der Mitropa
vor dem Hintergrund der DDR

Schließlich erzählt Tilo Köhler die Geschichte der Mitropa in großen Teilen als Geschichte der DDR. Er bewahrt mit der Hommage an die vergangene Institution ein Stück DDR-Identität, eine historisch relevante Erinnerung an einen untergegangenen Staat. Das Verschwinden der DDR und der Mitropa wird so zumindest intellektuell ein wenig kompensiert, allerdings keineswegs in einer Idealisierung des >real existierenden Sozialismus<, sondern ganz im Gegenteil in einer ungeschminkten Abrechnung mit den sozialen und ökonomischen Zuständen der sozialistischen Mangelwirtschaft. Dies führt vor allem im ersten Drittel des Buches – das muss hier kritisch angemerkt werden – oft zu einer unglücklichen Gegenüberstellung der Vorkriegs-Mitropa der 20er und 30er Jahre und der volkseigenen DDR-Mitropa. Erstere wird dabei idealisiert. Letztere wird in ihren Leistungen zu stark abgewertet.

Alles in allem leistet Tilo Köhler einen gewinnbringenden Beitrag zur Kulturgeschichte des Reisens in der Moderne. Mit Witz, Esprit und Sprachspielen gelingt es dem Autor die Lesenden auf essayistisch hohem Niveau zu begeistern. Die Schilderungen der DDR-Realität und die Systemkritik, die mit sprödem Humor vorgetragen wird, machen das Buch besonders lesenswert. Darüber hinaus vermag Tilo Köhler, Eisenbahnbegriffe in ihrer Doppeldeutigkeit auf gesellschaftliche Zustände anzuwenden und damit eine Brücke zwischen technischer und gesellschaftlicher Mobilität und Kommunikation zu schlagen. Er betont damit immer wieder Zwischenmenschliches. Dazu abschließend eine Kostprobe:

Irgendwann verdrehte der geduldigste Kollege den geübten Kellnerblick, wenn wieder ein bezechter Gast beteuerte, nach dieser Fahrt die Lebensweichen völlig neu zu stellen. Auch die größten Herzen unter ihren ausgeblichenen Kellnerjacken schlugen irgendwann nur noch für den verdienten Feierabend, ohne deshalb gleich zu riskieren, den Anschluß an das pralle Landleben der Zeitgenossen zu verlieren. Denn nicht ganz zufällig trafen sich, vor allem in der zweiten, also volkseigenen Hälfte ihres Lebens, bei der Mitropa die Schlusslichter der kulinarisch abgehängten Republik. (S. 8–9).


Dr. Florian Cebulla
Universität Kassel
IAG Kulturforschung
Gottschalkstraße 26
D-34109 Kassel

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Ins Netz gestellt am 13.07.2003
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Diese Rezension wurde betreut von unsere Fachreferentin Dr. Christine Haug. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Katrin Fischer.


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Anmerkungen

1 Gudrun Bechtloff: Die Mitropa AG. Ein privatrechtliches Unternehmen des Schlafwagen- und Speisewagenverkehrs im Spannungsfeld wirtschaftlicher Interessen und staatlicher Einflüsse und Abhängigkeiten von 1916–1990. Frankfurt / M.: Lang 2000.   zurück

2 Albert Mühl (Hg.): 75 Jahre Mitropa. Die Geschichte der Mitteleuropäischen Schlafwagen- und Speisewagen-Aktiengesellschaft. Freiburg: EK-Verlag 1992.   zurück

3 Karl-Heinz Gummich / Johannes Puschmann / Rolf Horstmann: Mitropa zwischen gestern und morgen. Berlin (Ost): transpress VEB Verlag für Verkehrswesen 1966.   zurück