Albrecht Classen
Anita Obermeier: The History and Anatomy of Auctorial Self-Criticism in the European Middle Ages. (Internationale Forschungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft, 32) Amsterdam - Atlanta, GA, 1999. 314 S. Hfl. 100,-.
Das Phänomen der auktorialen Selbstkritik
Was soll ein moderner Literaturkritiker davon halten, daß oftmals sowohl in der Antike als auch in der Moderne die unterschiedlichsten Dichter und Schriftsteller in ihren Werken Entschuldigungen einbauen und sich sozusagen von ihren eigenen Texten zu distanzieren bemühen, sei es aus einem Sündenbewußtsein heraus, sei es, daß sie von der Kirche, dem Hof oder Individuen für ihre Aussagen angegriffen wurden? Wie ist diese Form der auktorialen Selbstkritik, wie es Anita Obermeier in ihrer, für den Druck überarbeiteten Dissertation (Arizona State University, Tempe - diese Tatsache ist freilich in ihrem Vorwort nur indirekt angedeutet) umschreibt, in literarhistorischer Hinsicht zu beurteilen? Muß man wirklich davon ausgehen, daß diese Selbstkritik, Ausdruck für einen fundamentalen Sinneswandel, als solche aufzufassen ist, oder verbergen sich dahinter möglicherweise dichterische Strategien, polemische Attacken, Selbstironie, politische Schachzüge oder ideologische Ausweichmanöver? Wie Obermeier in ihrem großen Überblick nur zu deutlich macht, reicht die Tradition der recantatio aber so weit zurück und bietet eine solche Fülle an Beispielen, daß etwa von Zufall oder schlichter Änderung in der Einstellung eines Dichters oder einer Schriftstellerin nicht auszugehen wäre. Eines der berühmtesten Beispiele für dieses Phänomen mag die Palinodie ("Retraction”) Geoffrey Chaucers zum Abschluß der Canterbury Tales sein, bei der die Forschung bisher weitgehend davon ausgegangen ist, daß sich Chaucer angesichts seines drohenden Todes angstvoll von seinem weltlich bestimmten Werk abgewandt und durch die selbst geübte Kritik die Verzeihung Gottes angestrebt habe.
"recantatio" heute
Aber auch in der unmittelbaren Gegenwart lassen sich solche Formen der recantatio feststellen, worauf Obermeier in der Einleitung hinweist. In Milan Kunderas Roman The Unbearable Lightness of Being von 1984 kommt dieses Thema explizit zum Ausdruck, freilich verbunden mit einer abschätzigen Beurteilung des Mittelalters, als vermeintlich die religiös fundierte freiwillige Verurteilung der eigenen Werke gang und gäbe war. Aber der Fall von Salman Rushdies öffentlicher Selbstkritik von 1988 und 1990, um die Bedrohung durch die fatwa, also das Todesurteil in absentia durch den Ayatollah Khomeini wegen seines Romans The Satanic Verses (in der Bibliographie nicht aufgenommen), zu vermeiden, aktualisierte diese Erscheinung ungeheuer und wirkt seitdem belähmend auf alle heute schreibenden Autoren, die sich durch die religiös-fanatische Zensur seitens des iranischen Staates oder anderer Fanatiker bedroht sehen.
Ibn Hazm und Salman Rushdie: Schriften gegen den Islam?
Obermeier macht zugleich auf einen mittelalterlichen Parallelfall aufmerksam, nämlich die Verfolgung Ibn Hazms (994-1064) wegen seines Werkes The Ring of the Dove, doch stellt sie ausdrücklich fest, daß Hazm zu einer Zeit und in einer Welt lebte, in der das geschriebene Wort noch nicht absolute Dominanz gewonnen, die Religion noch nicht logozentrisch geworden war. Der Fanatismus, gegen den sich Rushdie, und so auch seit 1993 die Frauenrechtlerin Taslima Nasrin aus Bangladesh, zu wehren hatte, rührt aber aus einer neuen fundamentalistischen, wortbezogenen Theokratie, die jeglichen Angriff auf die heiligen Texte mit der Todesstrafe ahndet. Hazm sah sich zwar auch angegriffen, doch war er beileibe noch nicht mit der Notwendigkeit konfrontiert, sich für seine Schriften zu entschuldigen, und konnte sich noch darauf verlassen, daß moslemische Glaubensbekenntnisse sowohl durch Worte als auch durch Taten ausgedrückt werden konnten. Der Vergleich zwischen Hazm und Rushdie hinkt jedoch ein wenig, weil ersterer einen Liebestraktat verfaßt und mit keinem Wort die Grundlagen des Islams angegriffen hatte, was aber - so zumindest die Kritiker - Rushdie sich hatte zuschulde kommen lassen. Auch wenn Hazm Allah anrief, aus den Schriften islamischer Gelehrter autoritative Stellen zitierte, die geistige Liebe der körperlichen voranstellte, sah er sich trotzdem für seinen Traktat angegriffen und bemühte sich um eine Verteidigung - und insoweit besitzt die Gegenüberstellung mit Rushdie in gewisser Weise vielleicht doch ihre Rechtfertigung.
Noch einmal sei aber Kritik angemeldet, denn Obermeier postuliert, "that Islam is less logocentric than Christianity" (S. 14), was deutlich im Widerspruch steht zur Tatsache, daß über Rushdie die fatwa ausgesprochen wurde und generell der Islam mit dem Koran ein genauso heiliges Buch besitzt wie das Christentum mit der Bibel. Immerhin, der gemeinsame Nenner bleibt die öffentliche Entschuldigung, der Versuch, den Zorn des Publikums (oder Gottes) zu mildern, indem der Autor sich von seinen eigenen Worten distanziert und um Vergebung bittet. Insoweit ist der Sprung vom Mittelalter bis in die unmittelbare Gegenwart doch gerechtfertigt.
Die Reflexion des Autors über seinen Text
Zwar ließe sich daraus schließen, daß solche literarischen Rückzieher bzw. mea-culpa-Gesten aus religiöser, moralischer Sicht zu bewerten wären, doch machte die breite und weitzurückreichende Tradition Obermeier zu Recht mißtrauisch und trieb sie dazu, die topische Natur dieser Entschuldigungsformeln komparatistisch zu analysieren und in einen großen chronologischen Zusammenhang zu stellen. Zwar ist ihr sehr wohl die theoretische Forderung Roland Barthes bekannt, daß seit der Postmoderne das Konzept vom Autor als Individualität nicht mehr zu berücksichtigen sei, doch beweist gerade die Formel der höchst vielfältig gebrochenen recantatio das Gegenteil, auch wenn viele intertextuelle Strategien und Prozesse mitzuberücksichtigen sind (erneut trifft also zu, daß der Dekonstruktivismus zwar intellektuell sehr anregend wirkt, bei genauer literarischer Analyse aber oftmals ins Leere läuft). Obermeier erkennt zum einen interauktoriale Selbstkritik, bei der sich der Autor mit der eigenen Autor-Persönlichkeit auseinandersetzt. Dann geht sie von Intra-Auktorialität aus, also einer "negativen" auktorialen Selbstreferentialität, bei der die Eigenständigkeit eines literarischen Werkes zurückgenommen und durch "one continuous auctorial text" (S. 20) ersetzt wird. Letztlich läuft diese Unterscheidung darauf hinaus, daß ein Dichter sich in einem kreativen Austausch mit dem eigenen Text befindet und aus ironischer Perspektive diesen und sich selbst in eine intrigante kommunikative Beziehung setzt. Noch einfacher gesagt, Texte können gewisse Selbständigkeit gewinnen und den Autor dazu zwingen,über seine eigenen Schriften zu reflektieren.
Drei Formen der recantantio
Obermeier beobachtet drei Typen der recantatio, und zwar die gegenüber Göttern oder einem Gott ausgesprochene, um die eigene Seele angesichts des nahenden Todes zu retten, dann die an ein weltliches Publikum, ja oftmals an Frauen als Ansprechpartner oder Mäzeninnen gerichtete, und schließlich die recantatio, die verschiedene Formen der Entschuldigungen in sich vereint.
Klassisch: Die Strafe der Götter
Um die Geschichte der Autor-Selbstkritik in den Griff zu bekommen, behandelt Obermeier zunächst die klassische Epoche, in der sie vor allem das von Stesiochorus entwickelte Paradigma konstatiert, der wegen seiner vehementen Angriffe auf Helena angeblich von den Göttern mit Blindheit geschlagen wurde und erst nach der Abfassung seines Gedichts "Palinodia" sein Augenlicht wieder zurückbekam. "‘Palinodia’ is his admission of literary transgression - against the truth in this case" (27). Ähnliche literarische Formen der Bitte um Verzeihung finden sich bei Euripides, Callimachus, Catull, Horaz, Ovid, Apuleius und Lucian, die sich fast immer an Götter oder Frauen wendeten und bei diesen ihre eigene Schuld bekannten. In den folgenden Kapiteln, ja durchweg im ganzen Buch, schreitet Obermeier von einer Epoche zur anderen und untersucht die individuellen Dichter jeweils daraufhin, wie sie sich zu diesem Thema geäußert und wie sie den Topos konzeptionell für bestimmte Strategien und Intentionen einsetzten.
Dichtung im Mittelalter
Die historische Abfolge führt uns von der frühchristlichen Zeit zum Frühmittelalter, von dort zur mittelhochdeutschen Literatur, zur altfranzösischen und altitalienischen Dichtung, dann zur englischen und spanischen Tradition, um schließlich mit einer Betrachtung der recantatio seitens verschiedener Autorinnen zu enden, d.h. insbesondere einiger frühmittelalterlicher Nonnen und hoch- und spätmittelalterlicher Mystikerinnen (hier nicht notwendigerweise gegenseitig ausschließend), die alle durch ihre idiosynkratischen Formen der apologia deutlich Abstand zu der männlichen Rhetorik nahmen und sich in ihrer Demutshaltung selbst stark in Bezug zu Gott setzten.
Vielzahl behandelter Texte
Mehr als siebzig verschiedene Autoren aus mehr als zweitausend Jahren europäischer Literaturgeschichte kommen hier zu Wort, was einerseits aus komparatistischer Sicht als außerordentlich anzusehen ist, andererseits auch eine Reihe von Problemen aufwirft, die nur jeweils in detaillierter Auseinandersetzung mit den einzelnen Texten analysiert werden könnten. Grundsätzlich muß man Obermeier Anerkennung aussprechen, sowohl in linguistischer als auch literarhistorischer Hinsicht eine beachtliche Leistung vollbracht zu haben, denn alle behandelten Texte werden im Original zitiert und, sehen wir von den mittelenglischen ab, ins moderne Englische übersetzt. Die Autorin beweist eine solide Kenntnis des jeweiligen Kontexts und auch der einschlägigen Forschung. Allerdings treten dabei doch oft schmerzliche Lücken oder Fehlgriffe auf, was jedoch bei einem so breiten Zuschnitt letztlich kaum ganz zu vermeiden ist.
Strategien der Selbstkritik in der Antike
Für die Geschichte der mittelalterlichen Literatur besitzt die von Obermeier deutlich herausgearbeitete Tradition des Widerrufs, der Selbstkritik bzw. der Palinodie, die bis in die griechische Antike zurückreicht, eine nicht zu unterschätzende Bedeutung und muß jeweils mitberücksichtigt werden, wenn man die späteren Zeugen untersucht. Schon bei Stesichorus und Catull, um nur zwei Namen zu nennen, besaß die recantatio eine rhetorische oder ironische Funktion, mochte insbesondere, wenn sich der Dichter bei den Frauen im Publikum entschuldigte, eine subtile Form des Antifeminismus gewesen sein (S. 30). Bei Ovid wurde diese Strategie zur Methode, wie sich anhand der Ars amatoria und den Remedia Amoris erkennen läßt; zugleich nahm Ovid als erster die Zuhörer bzw. Leser in den Kreis derer auf, die sich bei falscher Einstellung durch die Ars moralisch schädigen ließen, übertrug also die Verantwortung für seine eigenen Texte auf das Publikum (S. 38). Lucian war dann der erste, der die Palinodie als literarische Konvention verspottete und somit die wesentlichste Tendenz der poetischen Entschuldigung bloßlegte.
Recantatio als Zeichen christlicher Demut
Davon waren die frühchristlichen Autoren weit entfernt, und doch bedienten sie sich gerne und ausgiebig der recantatio, denn damit konnten sie christliche Demut mit lateinischer Rhetorik verbinden und zugleich indirekt mit einem gewissen Stolz auf ihre früheren Werke aufmerksam machen, was Obermeier einen "Kontrastierungstopos” (S. 50) nennt. Augustinus freilich distanzierte sich nicht so radikal von seinen Jugendschriften, sondern bemühte sich nur in seinen reiferen Arbeiten um Korrektur und Revision, womit er "intra-auctorial growth” (S. 54) beweisen wollte. Insoweit läßt er sich nur bedingt in die von Obermeier verfolgte Tradition einfügen, weil er auch im hohen Alter die frühen Werke als nützlich für sein Publikum bezeichnete. Selbst Boethius kommt hier zur Sprache, denn Philosophia verscheucht bei ihrem Auftreten in den "Consolationes" die Musen und behauptet ganz allein für sich das Feld. Mit etwas Mühe folgt man hier der Argumentation Obermeiers, denn die neue Situation, in der sich der Dichter befindet, dient nicht im eigentlichen Sinne dazu, poetische Werke schlechthin zu verurteilen. Obwohl im Text zu lesen ist, daß die Musen als Huren des Theaters abqualifiziert werden, bemühte sich Boethius nicht direkt um eine recantatio, sondern strebte danach, eine neue philosophische Position zu erreichen, die angesichts der Todesstrafe die allein angemessene ist, während die Poesie in dieser Situation keinen Nutzen bietet.
Wie gar nicht anders zu erwarten gewesen wäre, übte Augustinus’ - freilich letztlich hinsichtlich der Apologie doch nicht so eindeutiges - Beispiel (s.o) großen Einfluß auf die frühmittelalterlichen Autoren wie Beda Venerabilis, Gerald of Wales, Wandalbert von Prüm, Marbod de Rennes etc. aus, die gleichermaßen recht sorgfältig in apologetischer Weise ihr noch säkulares Frühwerk bzw. die heidnische Dichtung, in der sie sich geschult hatten, kritisch beurteilten und sogar verurteilten und damit eine Traditionen fortsetzten, die weit bis ins Spätmittelalter und wohl auch darüber hinaus nachzuweisen ist. Im 15. Jahrhundert bediente sich zwar Aneas Silvius Piccolomini auch der recantatio-Formel, doch gab er zugleich, was Obermeiers Thesen an dieser Stelle etwas unterminiert, deutlich zuerkennen, daß ein Schuldbekenntnis wegen früherer Werke im Grunde unangebracht sei (S. 93).
Fortsetzung der Tradition in der mittelhochdeutschen Dichtung
Von hier an begibt sich die Autorin in die Welt der volkssprachlichen Dichtung, angefangen mit Vertretern der mittelhochdeutschen Literatur, so Hartmann von Aue, Konrad von Fußesbrunnen, Ulrich von Türheim, Rudolf von Ems, Walther von der Vogelweide und Neidhart (nicht ‘von Reuental’, wie es hier durchweg irrtümlich heißt, denn dabei handelt es sich nur um eine ironische Selbstanspielung des Dichters). Von recantatio immer und überall zu sprechen, würde jedoch das dargebotene literarische Zeugnis überanstrengen, denn einesteils handelt es sich nur um contemptus-mundi-Formeln wie bei Hartmann von Aue, anderenteils um ironische Selbstverweise wie bei Neidhart. Walther distanzierte sich keineswegs grundlegend von seinen früheren Liedern, sondern differenzierte viel eher zwischen wahren und schlechten Liebesliedern. Trotzdem vermag man Obermeiers Schlußfolgerung zu folgen, daß die mittelhochdeutschen Dichter sowohl intertextuelle als auch intratextuelle Selbstverweise einsetzten und damit die Tradition der literarischen apologia auf ihre eigene Weise fortsetzten.
Misogyne Tendenzen
Auf französischer Seite, vor allem wenn man die Dichter des 13. und 14. Jahrhunderts berücksichtigt, machte sich zunehmends eine misogyne Tendenz bemerkbar, wenn die recantatio eingesetzt wurde. Auch hier vernimmt man oftmals, daß die Jugendwerke als frivol eingeschätzt und nun im Alter zurückgewiesen wurden. Obermeier streicht insbesondere heraus, wie doppeldeutig viele Geständnisse männlicher Autoren anzusehen seien, die sich zwar wegen ihrer früheren Blankoverurteilung von Frauen entschuldigten (so Jean le Fèvre), dann aber immer noch deutlich zwischen guten und bösen Frauen unterschieden, mithin weiter misogyne Vorurteile hegten. Wenn man dagegen die Aussage von Marbod de Rennes hält, daß allgemeine Thesen hinsichtlich des einen oder des anderen Geschlechts schlichtweg unmöglich seien (Liber IV, 122f., hier S. 83), wird schon deutlich, daß Obermeier mit ihrer Beobachtung Recht hat. Dennoch wäre in bezug auf die späteren Dichter vorsichtiger zu argumentieren, weil Verse wie "Que des bonnes point ne mesdis/Ne n’ay voulenté de mesdire" (da ich von den guten [Frauen] nichts Schlechtes sage und auch nichts Schlechtes zu sagen wünsche; hier S. 131) nicht grundsätzlich als misogyn zu deuten wären.
Wieso Alain Chartier (1380/90-1430) zum Schluß dieses Kapitels noch berücksichtigt wird, findet keine gute Erklärung, auch wenn im literarischen Diskurs in seiner Nachfolge eine recantatio gefordert wurde. In seiner allegorischen Traumdichtung La Belle dame sans mercy findet sich jedenfalls kein Beleg für die von Obermeier verfolgte Tradition, denn "Chartier denies any wrongdoing and attests himself the God of Love’s most humble servant” (S. 134). Hier wie auch sonst noch recht häufig fühlt sich der Leser auf unsicherem Boden, denn wegen der Fülle an Dichtern, die die Autorin heranzieht, steht für jeden nur sehr wenig Raum zur Verfügung, was wie im Fall von Chartier leicht bedeuten kann, daß seine höchst komplexen Aussagen nicht zureichend analysiert werden.
Die Verehrung des Ewig-Weiblichen
Im siebten Kapitel beschäftigt sich die Autorin mit den italienischen Vertretern, die aber meistens hinsichtlich der verehrten Dame eher idealisierend auftraten als misogyn, so Dante Alighieri, aber auch Francesco Petrarca, der, hier sehr postmodern ausgedrückt, ohne daß dies viel bedeuten würde, "writes the body of Laura" (S. 141). Petrarca allerdings distanzierte sich in seinem ‘Brief an die Nachwelt’ und im ersten Gedicht seines Canzoniere ebenfalls von den literarischen Jugendsünden. Das Zeugnis von Boccaccio erweist sich hingegen als erheblich diffiziler, denn er bezog oftmals sein Publikum in seine Selbstverteidigung ein, entwarf aber gleichermaßen apologetische Schriften wie De mulieribus claris als Entschuldigung für den Corbaccio und mag sowieso ein religiöses Erlebnis gehabt haben, das ihn aus persönlicher Sicht zur Einkehr und somit zur recantatio zwang. Die italienische Dichtung stand also, wie Obermeier abschließend bemerkt, unter dem absoluten Zwang, sich dem "Ewig-Weiblichen", wie es Goethe verstanden hatte, anheimzugeben (S. 167) - eine etwas klischeehaft wirkende Abrundung des Kapitels.
Geoffrey Chaucer's "Retraction" überzeugend interpretiert
Sowohl in der altenglischen als auch in der altwalisischen Dichtung stößt die Autorin auf unterschiedliche Beispiele der Apologie-Tradition, was sie im achten Kapitel demonstriert. Auch wenn es sich um andere Stimmen und um andere Sprachen handelt, erkennt der Leser rasch das allgemein zugrundeliegende Prinzip, das hier erneut seine Bestätigung erfährt. Spannend wird es freilich bei Geoffrey Chaucer, weil dessen "Retraction" am Ende der Canterbury Tales bereits vielfach diskutiert wurde, ohne daß man bisher jemals so wie hier eine komparatistische Analyse unternommen hätte. Obermeier konstatiert zum einen, daß Chaucer in vielen seiner anderen Werke ebenfalls Elemente der hier behandelten rhetorischen Tradition benutzte, so in Troilus and Criseyde, The Legends of Good Women und A Treatise on the Astrolabe, daß er aber zum anderen in der "Retraction" große Teile seines gesamten Werkes noch einmal Parade passieren und den reuevollen Autor als Kunstkonstrukt auftreten ließ. Auch wenn Obermeier nicht gänzlich die ernstlichen Intentionen Chaucers zurückweist, vermag sie doch endgültig sowohl intratextuell als auch intertextuell den Beweis zu erbringen, daß die "Retraction" stark ironisch durchsetzt ist und topischen Charakter besitzt, womit ein sehr langer literarhistorischer Streit zugunsten der postmodernen Sichtweise entschieden sein dürfte. Außerdem folgte Chaucer auch in dieser Hinsicht sein "Schüler" Thomas Hoccleve - leider ohne daß Obermeier in diesem Zusammenhang auch Lydgate oder den Pearl-Dichter mitberücksichtigte.
Die spanische Tradition der Apologie
Hinsichtlich der spanischen Tradition, bei der Obermeier Ramon Llull, Juan Ruiz, Juan Rodríguez del Padrón, Diego de San Pedro, Alfonso Martínez de Toledo, Pere Torroella, Juan de Tapia und Hernán Mexía berücksichtigt, wäre nun nicht mehr so viel hinzuzufügen, denn auch hier macht sich das gleiche Schema bemerkbar, gewinnt die Autorin neues Beweismaterial für ihre These und vermag somit, die Apologia-Tradition auch im südwestlichen Europa festzumachen. Im einzelnen fühlt man sich allerdings doch hin und wieder zum Widerspruch gereizt, denn das Gebet an die Jungfrau Maria in Juan Ruiz’ Libro de Buen Amor enthüllt sich keineswegs als Palinodie, auch wenn sich Obermeier auf die diesbezügliche These von Otis Green stützt, die (der?) wohl die Verse "E yo, desque salí de todo aqueste rroído/torné rrogar a dios que me non diese a olvido” (und ich, sobald ich mich von dieser Spaltung entfernte,/ wandte ich mich zu Gott mit der Bitte, mich nicht zu vergessen) nicht nur zu individuell interpretierte, sondern auch eine dementsprechend textgelöste englische Übersetzung anbot, die einfach nicht genau genug ist (S. 232). Dafür trifft aber Obermeiers Beobachtung wieder zu, daß auch Ruiz die persönliche Verantwortung für seinen Text ablegte und dem Leser/Zuhörer die Verantwortung zuschob, falls diese böse Gedanken hinter seinen Worten entdeckten: "No ha mala palabra si non es a mal tenida” (es gibt kein böses Wort, es sei denn, es werde böse aufgefaßt; S. 233).
Die Demutsgesten der Frauen
Wieso am Ende nur in einem kurzen Kapitel weiblichen Autoren und ihren Bemühungen, sich in ihren Texten wegen ihrer möglichen literarischen Vergehen zu entschuldigen, Raum gewährt wird, bleibt unersichtlich, vor allem, da sich Obermeier auf weite Strecken insbesondere für die antifeministische Argumentationsweise in der Apologia-Tradition interessiert hatte. Dabei bedienten sich die Frauen offensichtlich oftmals ganz anderer Strategien, die übliche Form der recantatio einzusetzen. Während die männlichen Dichter meistens intertextuell ihre Entschuldigung anbrachten, sich also von ihren früheren Werken distanzierten ("post-culpam apologies", S. 251), argumentierten die weiblichen intraxtextuell während des Schreibprozesses. Ob die meisten Männer ihre Bitten um Vergebung seitens des weiblichen Publikums wirklich nur ironisch und letztlich doch misogyn beabsichtigen, wie die Autorin hier noch einmal postuliert (S. 251), bleibt aber unbeweisbar und wird wohl auch noch lange einen Streitpunkt bilden. Mittelalterliche Frauen erwähnten oftmals, daß männliche Mäzene ihre Arbeit in Auftrag gegeben hätten, sie wiesen auf ihre mangelnde Bildung hin und gestanden, daß sie für sich als Frauen unzulässig einen Platz im literarischen Universum beansprucht hätten.
Bei ihren Untersuchungen der Werke von Baudonivia von Poitiers, Dhuoda von Uzès, Hugeberc von Hildesheim, Hrotsvita von Gandersheim, Hildegard von Bingen, Mechthild von Magdeburg und Teresa de Cartagena vermag aber Obermeier zufriedenstellend zu beweisen, daß es sich auch hier um rhetorische Topoi handelte, um ein Spiel mit literarischen Formeln, um die bekannte recantatio bzw. apologia. Wieso aber werden diese weiblichen Zeugen so sehr an den Rand gedrängt, in ein Schlußkapitel verwiesen, wenn sie doch eine solch wichtige Gegenstimme innerhalb dieser Tradition darstellten, insoweit sie mehr nach der Selbstdemütigung strebten als nach Korrektur, Distanzierung, Revision und post-factum-Verzeihung seitens des Publikums oder Gottes?
Zustimmung und Ablehnung
Am Ende bemüht sich Obermeier um eine knappe Zusammenfassung ihrer Ergebnisse und um eine theoretische Konzeptionalisierung aus postmoderner Sicht. Die Distanzierung zur Topos-Lehre von Curtius und zur Traditions-Definition von Guillén führt freilich nicht sehr weit, sollten ja deren Erkenntnisse vielmehr schlicht als Unterstützung ihrer eigenen Thesen anerkannt werden. Mit den abschließenden Versuchen, die Apologia-Tradition als Attacke auf den traditionellen Logozentrismus, wie er von Julia Kristeva, Stan Fogel u.a. definiert wurde, und die ironische Gestaltung der recantatio als Unterminierung des Kanons anzusehen, vermag ich nicht viel anzufangen, handelt es sich ja mehr um rhetorisches (modisches?) Geplänkel als um ernsthafte interpretative Durchdringung des untersuchten Phänomens. Unbedingt zuzustimmen wäre aber Obermeiers letzte Beobachtung, daß heutige Urteile über das Mittelalter als einer ‘primitiven’ und unkritischen Welt angesichts der höchst komplexen Verwendung von recantatio und der verwandten apologia entschieden zurückzuweisen sind: "the apology tradition characterized by interauctoriality, intertextuality, and intratextuality, enables self-critical authors to refer not only backward but also-primarily-forward, making the medieval apology a progressive strategy that engenders new literature" (S. 269).
Diverse Kritikpunkte
Die Verdienste Obermeiers liegen ganz klar auf der Hand - ihre Studie schafft eine solide Grundlage, die in der Mediävistik und auch in der allgemeinen Literaturwissenschaft zu beachten sein wird. Im einzelnen ergeben sich freilich eine Reihe von kleinen Kritikpunkten. Die gesamte zitierte Literatur erscheint sowohl in den Fußnoten - und dies sogar mehrfach - als auch in der Bibliographie am Ende des Buches, was doch hätte vermieden werden sollen. Eine wichtige Erklärung von Salman Rushdie wird aus der Arizona Republic zitiert, anstatt aus einer international zugänglichen Zeitung (S. 15, Anm. 17). Sowohl in der Einleitung als auch im Schlußwort tauchen unvermittelt postmoderne Reflexionen auf, die unpassend und wenig hilfreich für die eigentliche Themenstellung sind (z.B. S. 17: "Many medieval authors were indeed considered unsavory because of their violations of the logocentric Bible"). Die jüngere Forschung sowohl zu den einzelnen Dichtern als auch zu übergreifenden Fragestellungen ist manchmal konsultiert worden, dann aber machen sich wieder bedauerliche Lücken bemerkbar. Obermeier konsultierte zwar Joan Ferrantes To the Glory of her Sex von 1997, übersah aber, wenn auch in einem anderen Kontext, die bedeutende Arbeit von C. Stephen Jaeger, The Origins of Courtliness, 1985.
Gerade hinsichtlich der mittelhochdeutschen Literatur fällt auf, daß doch die einschlägige Sekundärliteratur nur recht sporadisch zu Rate gezogen wurde, wobei sich auch eine Reihe von Fehlern eingeschlichen hat (z.B. S. 101, Fn. 23). Die jüngere Forschung zu Thomas Hoccleve fehlt weitgehend (siehe z.B. A. Classen: Autobiographische Lyrik, 1991), was sich auch sonst noch öfters feststellen läßt; andererseits befindet sich jedoch Obermeier auf eigenen Wegen und konnte unmöglich jeweils die gesamte Sekundärliteratur zitieren. Der Marienkult nahm nicht erst im 14. Jahrhundert größeren Umfang an, sondern setzte bereits stark im 12. Jahrhundert ein, ja wird heute z.T. sogar als Erklärung für das Auftreten der höfischen Liebesdichtung angesehen (S. 178). Gelegentlich machen sich noch Spuren des muttersprachlichen Deutschen in Obermeiers Arbeit bemerkbar (S. 210, Fn. 119), doch ansonsten verfügt die Autorin über ein glänzendes Englisch.
Fundierte Untersuchung
Man wird über diese kleinen Mängel ohne weiteres hinwegsehen können, denn die Autorin demonstriert in der Tat, daß die apologia bzw. recantatio ein topisches Strukturelement in der westlichen Literatur von der Antike bis zum Spätmittelalter gewesen ist. Von nun an müssen Versuche, religiöse Palinoden wörtlich zu lesen, höchst vorsichtig betrachtet und im Licht der von Obermeier präsentierten Untersuchungsergebnisse gesehen werden, die sehr anerkennenswert interdisziplinär und komparatistisch fundiert sind.
Albrecht Classen
The University of Arizona
College of Arts and Sciences/Dept. of German
571 Modern Language Bldp.
Az 85721 Tuscon
USA
Ins Netz gestellt am 07.12.1999.
Copyright © by the author. All rights reserved.
This work may be copied for non-profit educational use if proper credit ist given to the author and IASL online.
For other permission, please contact
IASL online.
Weitere Rezensionen stehen auf der Liste
neuer Rezensionen und geordnet nach
zur Verfügung.
Möchten Sie zu dieser Rezension Stellung nehmen?
Oder selbst für IASL rezensieren? Bitte
informieren
Sie sich hier!