Dongowski über Trümpler: Agatha Christie und der Orient

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Christina Dongowski

Ein unwahrscheinliches Paar.
Agatha Christie und der Orient

  • Charlotte Trümpler (Hg.): Agatha Christie und der Orient. Kriminalistik und Archäologie. Begleitbuch zur Ausstellung gleichen Namens in Essen, Wien, Basel, Berlin und London. Bern u.a.: Scherz Verlag 1999. 352 S., ca. 400 Abb. Geb. € 25,50.
    ISBN 3-502-15125-3.


Agatha Christie und Max Mallowan – ein erfolgreiches Paar

Blättert man durch das Begleitbuch zur Ausstellung "Agatha Christie und der Orient. Kriminalistik und Archäologie", befällt einen die gleiche nostalgische Stimmung, die schon die Verfilmungen der beiden Hercule-Poirot-Krimis aus den 1970er Jahren durchzieht. Die britische Upper-Class in den 1920ern und 30ern erscheint fast als Utopie eines Lebensentwurfs, der intellektuelle, ethische und ästhetische Ansprüche miteinander verbindet: In allen Lebenslagen wird zwanglos Haltung bewahrt. Klimatische und emotionale Extremsituationen sind dazu da, mit Stil durchgestanden zu werden. In der Mitte von Nichts im Schutt der Jahrtausende zu buddeln rechtfertigt keineswegs ein schlecht sitzendes Jackett. Und außerdem waren die Züge selbst im entferntesten Orient pünktlich. Anders gesagt: Glücklich die, die dabei gewesen sind.

Der anhaltende Erfolg von Christies Kriminalromanen verdankt sich zu einem guten Teil auch der Nostalgie gegenüber einer Epoche und einem Habitus, die mit dem British Empire untergegangen sind. Der oft bemängelte Schematismus ihrer Plots, die grosszügige Ignoranz gegenüber den gesellschaftlichen und historischen Realitäten und die Flächigkeit ihrer Personen sind die Resultate eines sehr sicheren Stilempfindens gegenüber den eigenen Möglichkeiten und denen des Genres. Agatha Christie wusste wahrscheinlich immer, was sich gehört. Und sie wusste, wann man dem, was sich gehört, den Rücken kehren muss: Sie ließ sich 1928 von Archibald Christie scheiden und begann den Orient zu bereisen. Auf der Grabung von Leonard Woolley in Ur lernte sie 1930 dessen jungen Assistenten Max Mallowan kennen, ein halbes Jahr später heirateten sie. Sie war 40, er 26 Jahre alt.

Agatha Christie und Max Mallowan waren 45 Jahre lang glücklich verheiratet und ein extrem erfolgreiches Paar: Christie wurde zu einer der berühmtesten und auflagenstärksten Schriftstellerinnen überhaupt, Mallowan zu einem der Begründer der Vorderasiatischen Archäologie und der Assyriologie. Er lieferte das Schema für die Chronologie der frühen asiatischen Hochkulturen, sie das der klassischen Kriminalerzählung. Gemeinsam haben sie den Vorderen und Mittleren Orient umgegraben.

Agatha Christie – eine kompetente
Archäologin und Restauratorin

Christie nahm an allen Grabungskampagnen ihres Mannes Teil. Sie kümmerte sich um die Ausstattung der Camps und war für die photographische Dokumentation der Grabungen und Funde zuständig. Darüberhinaus wurde sie eine kompetetente Restauratorin assyrischer und babylonischer Keramik. Ihr größter Beitrag zur Archäologie ist die Rekonstruktion und Konservierung der elfenbeinernen Schreibtafeln, die während der irakischen Grabungskampagne 1953 in einem Brunnen gefunden wurden. Aus einem Puzzle mit mehreren Hundert Teilen, die sich teilweise wie ein Ei dem anderen glichen, stellte sie mit Scharfsinn, Geduld und Sorgfalt mehr als 30 Tafeln wieder her. 1

Es war nicht ungewöhnlich, dass die Ehefrauen von Archäologen an den Grabungskampagnen beteiligt waren und dort teilweise in verantwortlichen organisatorischen und wissenschaftlichen Positionen arbeiteten. Auch Christies relative Unsichtbarkeit in den Publikationen entsprach wissenschaftlichem Usus. Die Grabungsarbeiten von Mrs. Max Mallowan unterscheiden sich daher kaum von dem, was Katherine Woolley bei den Ausgrabungen ihres Mannes in Ur oder Barbara Campbell Thompson in Ninive taten. Während der fast jährlichen mehrmonatigen Aufenthalte im Orient schrieb sie als Agatha Christie überaus erfolgreiche Kriminalromane. Ihre literarische Berühmtheit machte sie quasi zu einer eigenständigen touristischen Attraktion, die mindestens genauso interessant für die angelsächsischen Touristen war wie die Ausgrabungen selbst.

Text- und Bildersammlung – ein visuelles Erlebnis

Die ungewöhnliche Beziehung von Christie und Mallowan ist Ausgangspunkt der Ausstellung "Agatha Christie und der Orient. Kriminalistik und Archäologie". Ihr Titel wie der des hier zu besprechenden Begleitbuches führt etwas in die Irre: Es geht weniger um die Verwandschaft und Übersetzbarkeit von kriminalistischen und archäologischen Methoden, sondern um die biographische und kulturhistorische Kontextualisierung des Werkes von Agatha Christie.

Wobei "Kontextualisierung" in Bezug auf die im Begleitbuch angesammelte Bilderflut vielleicht keine ganz glückliche Formulierung ist: Fotos von den Grabungen, Filmstills, wissenschaftliche Abbildungen, Reproduktionen ganzer Seiten aus populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen, Buchumschläge, Werbeplakate, Reiseprospekte und Grabungszeichnungen machen aus der Lektüre des Buches zuerst einmal ein visuelles Erlebnis. Keine schlechte Empfehlung für das Begleitbuch einer Ausstellung. Die Atmosphäre auf den persischen Grabungen in den 30er und 50er Jahren, der Komfort und das Abenteuer von Fernreisen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sowie die Geschichte der Buchgestaltung werden so auch für die Leser deutlich, die nicht genug Zeit oder Lust haben, sich auf die Texte des Buches einzulassen.

Wem die Bilder Lust aufs Lesen gemacht haben, sieht sich mit einer Versammlung von heterogenen Texten konfrontiert: Sie stammen nicht nur aus ganz verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, sondern gehören teilweise auch verschiedenen Gattungen an. Beiträger des Ausstellungbuches sind vorwiegend Archäologen, Kulturhistoriker und Literaturwissenschaftler, die sich auf ihre jeweilige Disziplin beschränken, – soweit sich das aus den Aufsätzen selbst schließen läßt, über die Autoren der Beiträge erfahren die Leser und Leserinnen leider fast nichts. Wie schon angedeutet, fungiert das "und" im Untertitel eher aufzählend als konjunktiv. Mit den verschiedenen Disziplinen sind auch sehr verschiedene Denk- und Schreibstile verbunden, zu schweigen von der Heterogenität ihrer Gegenstände. Der Aufbau des Buches trägt diesen Differenzen Rechnung: Nach zwei biographischen Abrissen zu Christie und Mallowan folgen vier Kapitel, die sich jeweils fachspezifisch dem orientalischen Lebensabenteuer Mallowans und Christies zuwenden.

Unter der Überschrift "Archäologie – Ausgrabungen" stellen Archäologen die persischen Grabungen vor, die teilweise noch von Max Mallowan ausgebildet wurden (S. 54–161). Mit "Leben auf der Grabung" sind Aufsätze überschrieben, die einen historischen Einblick in die Grabungstechnik und die Organisation von großen Grabungskampagnen geben (S. 162–258). Agatha Christies begeisterte Anpassung an die abenteuerlichen und nicht besonders komfortablen Bedingungen der archäologischen Praxis im Orient verschiebt den Fokus von der Fachgeschichte zu eher allgemeinem kulturhistorischen Interesse. Das anschließende Kapitel "Reisen" setzt Christies Orient-Aufenthalte in den Kontext spätkolonialer Reisepraxis. Der Orient-Express, den sie ganz besonders schätzte, bringt die Leser dann zum Kapitel "Kriminalromane" (S. 334–434). Am Schluss steht Tom Sterns Beitrag zu den filmischen Adaptionen von Christies Orient. 2

Kriminalistik und Archäologie – eine komplizierte Beziehung

Orient und Archäologie tauchen in Christies schriftstellerischer Arbeit vor allem als exotisch-abenteuerlicher Schauplatz und als Profession etwas verschrobener Gentlemen auf. "Archäologie ist ungefähr die einzige Arbeit, die in einem Christie-Roman im Ernst betrieben wird", zitiert der Aufsatz von Barabara Patzek, Regina Hauses und Andreas Dudde "Der Detektiv und der Archäologe" eine Formulierung von R. Barnard als Epigraph. 3 Die andere Arbeit, die dort ernsthaft betrieben wird, ist das Aufklären von Mordfällen. Die Gemeinsamkeiten von Archäologen und Detektiven liegen offen zutage: Beide suchen Spuren einer Vergangenheit, deren Realität sie zu rekonstruieren suchen. Sie müssen zwischen wichtig und unwichtig unterscheiden lernen, vor allem verstehen sich beide auf den verräterischen Charakter von Details.

In dieser sehr abstrakten Analogie erschöpfen sich in Christies Romanen die Beziehungen zwischen Archäologie und Kriminologie. Es gibt in ihren Geschichten keinen Archäologen, der sich als Detektiv betätigt. Dazu sind ihre Archäologen viel zu weltfremd: Ihre analytischen Fähigkeiten werden absorbiert von den Rätseln der Vergangenheit, die Gegenwart ist einfach nicht ihr Forschungsgebiet. Hercule Poirot 4 wiederum muß sich zwar in einigen seiner berühmtesten Fälle auch mit Archäologen auseinandersetzen, seine Bezugnahme auf deren Arbeit geht über den Topos der Wichtigkeit von Details aber nicht hinaus. Im Vergleich zu Sherlock Holmes ausgedehntem Räsonnieren über den wissenschaftlichen Charakter des Detektives und der erkenntnistheoretischen Implikationen seiner Denkarbeit erscheinen Poirots Äußerungen schon selbst als Topos: Äußerungen dieser Art demonstrieren den Lesern, dass es sich bei Poirot um den Typ zerebraler Rätsellöser handelt.

Die Autoren, die sich mit dem Verhältnis von Archäologie und Kriminalerzählung bei Agatha Christie im engeren Sinne auseinandersetzen, geraten damit in eine etwas missliche Lage: Gerade detaillierte Beschreibung der verschiedenen Figurenkonstellationen zwischen Archäologen und Detektiv demonstriert die Oberflächlichkeit dieser Beziehung. Literaturhistorisch und sozialgeschichtlich aufschlussreich wird es in den Beiträgen von Nadja Cholidis 5, B. Patzek, R. Hauses, A. Dudde 6 und Volker Neuhaus 7 immer dann, wenn sie motivgeschichtlich argumentieren. Christies Verwendung des Archäologen / Detektiv-Topos zeigt sich als literaturästhetisch konventionell, diese Konventionalität bietet für kultur- und sozialgeschichtliche Überlegungen aber einen fruchtbaren Ansatzpunkt. Die Gentlemen-Archäologen und -Detektive, die die Unterhaltungsliteratur des edwardianischen Zeitalters bevölkern, gehörten zu den dominanten Figuren des sozialen Imaginären der Epoche. In Lord Carnarvon und Howard Carter, den Entdeckern des Grabes von Tutenchamun, verwischen sich die Grenzen zwischen gesellschaftlichen Fakten und Fiktionen dann vollkommen: Sie werden zu Medienstars und inspirieren unzählige literarische und filmische Adaptionen. 8

Realitätsferne ist in dieser Perspektive das kleinste Problem der Kriminalliteratur Christies. Sie verwendet und bearbeitet einen sozialen Habitus, der zu den bevorzugten Figuren angelsächsischer Selbstbeschreibung zwischen kolonialer Weltmacht und postkolonialer Depression gehört. In den genannten Aufsätzen bildet er aber nur einen marginalen Untersuchungsgegenstand. An den Rand gedrängt von den Versuchen, dem "und" des Ausstellungstitels etwas mehr theoretische Bedeutung abzuzwingen. Das sehr textinterpretatorische Vorgehen tut ein Übriges dafür, dass die kultur- und sozialgeschichtliche Fragestellungen eben nur als mögliche Ansatzpunkte auftauchen. Weder kultursoziologische oder (kultur-)semiotische, noch diskursanalytische Untersuchungen bzw. Verfahren haben Eingang in die Bibliographie gefunden. Relativ erstaunlich für eine Aufsatzsammlung, zu deren Thematik schließlich auch der Orientalismus gehört. 9

Archäologie und Reisen

Autoren, die sich eindeutig auf der einen oder der anderen Seite des "und" vom Titel ansiedeln können, haben es da erheblich leichter. Sie präsentieren meist Überblicksdarstellungen zu ihrem jeweiligen Thema – der exotische (und nostalgische) Charm von Orient und Archäologie, dessen sich schon Christie virtuos bedient, wirkt dabei immer noch: In den Kapiteln "Archäologie" und "Reisen" garantieren allein die Themen aus der heroischen Zeit des Grabens und des Reisens eine spannende und anregende Lektüre. Wenn auch vielleicht nicht gerade für Assyriologen und Orientalisten, da die Aufsätze einführenden Charakter haben und vor allem Nicht-Spezialisten ansprechen wollen. In der literaturwissenschafltlichen Abteilung geht dann die Spannung leider ein wenig verloren. Im Vergleich zu den vorangegangenen Darstellungen sind die meisten Texte zu den Kriminalromane ziemlich fachwissenschaftlich, gleichzeitig aber zu wenig detailliert. Philologische Nahsicht und ins Banale kippende Generalisierungen ergänzen sich zu einem Bild literaturwissenschaftlicher Arbeit, das zwischen Betulichkeit und Konventionalität schwankt.

Die Untersuchungen scheinen von dem Willen beseelt, die gängigen Vorurteile über die Autorin zu bestätigen, mit deren Romanen sie sich auseinandersetzen. Wegen ihrer traditionellen hermeneutisch-philologischen Interpretationsverfahren stehen die genannten Autoren dem massgeblichen Merkmal von Christies Literatur ziemlich hilflos gegenüber: Agatha Christie schrieb Populärliteratur. Die werkfixierte literaturwissenschaftliche Hermenteutik muss an einer angemessenen Beschreibung ihrer Texte scheitern und stattdessen zu ihrer literarästhetischen Rehabilitation ansetzen: Geadelt werden die Krimis von Mrs. Mallowan über ihre philosophischen und archäologische Referenzen. Christie-LeserInnen werden darüberhinaus noch mit einer anderen literaturwissenschaftlichen Unsitte gelangweilt, der Nacherzählung.

Pharaonen und Ladies

Spannend wird es wieder, wenn Waltraud Guglielmi Christies Verwendung altägyptischer Quellen für zwei relativ unbekannte Texte darstellt, 10 und Ulrich Suerbaum den konstruktivistischen Charakter ihrer Romane analysiert. 11 Beide kommen in Bezug auf die Funktion von Archäologie und Orient für Agatha Christies Krimis zu ganz ähnlichen Schlüssen: Das für ihre Art der Detektivgeschichte grundlegende Element der räumlich und personell (scheinbar) abgeschlossenen Situation findet in den Grabungscamps und deren überschaubarem angelsächsischen Personal seine natürliche Entsprechung. Eine persische Grabung ist in narratologischer Perspektive nichts anderes als das typische englische Herrenhaus. 12

Das Gleiche lässt sich vom Ägypten der Pharaonen in "Death Comes as the End" (1945) sagen: Detailliert schildert Christie das Leben (und die Tode) einer Familie, die zur Schicht der höheren Beamten des Reiches gehört. Der Kriminalroman befindet sich auf der Höhe der zeitgenössichen Ägyptologie – die Autorin hatte sich bei der Recherche der historischen Fakten tief in die Fachliteratur vergraben und sich von einigen der bedeutendsten Ägyptologen unterstützen lassen.

Produkt dieser quasi fachwissenschaftlichen Recherche ist ein Kriminalroman, der vom klassischen Paradox des historischen Romans strukturiert ist: Der Fremdheit und der Faszination der historischen Details stehen die Konventionen realistischen Erzählens gegenüber. Unter fein gefälteltem altägyptischen Leinen und den dunklen Khol-Strichen der Schminke steckt das vertraute Personal, vor allem aber die vertraute Psychologie des populären Realismus. Liebe, Eifersucht, Habgier, Haß, Lügen und Neugier – standardisierte Motive gehobener Belletristik bestimmen diese wahre Geschichte aus dem alten Ägypten, 13 die so zu anthropologischen Konstanten werden.

Der Blick in die Tiefe der Zeit enthüllt die überhistorische Conditio humana. "Death Comes as the End" ist einer der ersten historischen Kriminalromane – eine Gattung, deren narrative Meriten, narratologische Untiefen und erkenntnistheoretische Implikationen von Umberto Eco in "Der Name der Rose" durchgespielt wurden. Für Christie ist der Kriminalroman als historische Erzählung weder eine intellektuelle Spielerei, noch ein Modell, die Problematik und Paradoxie des modernen Begriffs von Geschichtsschreibung zu entfalten. Sie sah die Herausforderung in der fachwissenschaftlichen Unanfechtbarkeit ihrer altägyptischen Schauplätze und Requisiten: Zweifelsohne hatten die Ägypter des Pharaonenzeitalters keinen Fünf-Uhr-Tee und keine politischen Klubs, aber was hatten sie stattdessen?

Schon "Akhnaton. A Play in Three Acts" (1937) war nicht nur von der Ägyptomanie nach der Entdeckung von Tutenchamuns Grab inspiriert worden, sondern gründet in Agatha Christies Faszination durch die "Modernität" der Ägypter. Ausgehend von den religionsgeschichtlichen und dynastischen Hypothesen zu Tutenchamuns frühem und gewaltsamen Tod entfaltet Christie ein Ideendrama, in dem die großen intellektuellen Debatten der 30er Jahre von Echnaton, Nofretete und anderen Protagonisten der monotheistischen Krise im 14. Jahrhundert vor Christus geführt werden. 14

Der ausgeschlossene Dritte

Der Etikettenschwindel des Ausstellungsbuches fliegt in den literaturwissenschaftlichen Aufsätzen auf: Deren Autoren verstehen das "und" zwischen "Kriminalistik" und "Archäologie" auf eine Weise, die weder von Agatha Christies schriftstellerischer Arbeit, noch den darauf gewendeten hermeneutischen Verfahren getragen wird. Aus den biographischen Fakten werden durch die Anwendung literarästhetischer Kategorien, die für ganz andere Gattungen gebildet worden sind, produktionsästhetische Zusammenhänge, die sich schnell als vornehmlich konstruiert erweisen. Dieser kategoriale Fehler einiger der versammelten Untersuchungen bringt eine problematische Einschätzung von Christies Romanen zum Vorschein, die auch die Gesamtkonzeption des Buches beeinflusst zu haben scheint: Archäologie und Altorientalistik fungieren als Adelstitel für ihre Krimis.

Mrs. Mallowans Teilnahme an der Arbeit ihres Mannes, ihre Qualifizierung zur Altorientalistin über den zweiten Bildungsweg von Heirat und Training on the Job erscheinen manchmal wie das seriöse Gegengewicht zu ihrer kriminalistischen Vielschreiberei. Die Sorgfalt, Zähigkeit, Genauigkeit und Professionalität, die sie bei der Arbeit auf den Grabungen an den Tag legte, nobilitiert auch ihre erstaunliche Jahresproduktion an Krimis wie deren ästhetische Defizite. Dieser Legitimationszwang wiederum entsteht erst durch eine literaturwissenschaftliche Haltung, die Christies Schreiben mit den besten Absichten verkennt.

Das ist vor allem ärgerlich bei einer Publikation, die durch ihre opulente Ausstattung besticht. Agatha Christies realer Orient und der imaginäre der europäischen Vorstellung nehmen in der Vielzahl und Vielgestalt der Abbildungen für den Betrachter Gestalt an: Fotos, die teilweise von Christie selbst gemacht wurden, zeigen die Lebensumstände auf den Grabungen, die für die europäischen Archäologen und die persischen bzw. irakischen Grabungsarbeiter sehr verschieden waren. Die Stills aus den Filmen, die Agatha Christie von den Grabungen machte, haben einen vorwiegend anekdotischen Charakter. Sie waren im Gegensatz zu vielen, vor allem den frühen Grabungsfotos nicht als wissenschaftliche Dokumentation gedacht, sondern sind vom ethnographisch-kulturgeschichtlichen Interesse ihrer Produzentin geprägt.

Aufregende Situationen wie die Auffindung von grossen Fundstücken, technische Pannen, Zahltag, Feierabend, aber auch idyllische Momente im Lager und auf Ausflügen in die Umgebung werden gezeigt. 15 Die Ergebnisse von Mallowans Grabungen werden durch die fotographische Abbildung spektakulärer Fundstücke dokumentiert, genauso wie die geo- und stratigraphischen Bedingungen seiner Arbeit. Abbildungen aus Grabungsbüchern und Publikationen geben einen Einblick in die wissenschaftliche Darstellungspraxis und deren ästhetischen Charakter. Pressefotos, Werbeplakate, Buchumschläge sowie -illustrationen offerieren das Panorama europäischer Phantasien vom Orient und seiner wissenschaftlich-kulturellen Erschließung.

Wirklich ausgeschöpft wird das Potential dieses umfangreichen Bildmaterials für kultur- und wissenschaftsgeschichtlichen Analyse leider nicht. Christies fotographische und filmische Dokumentation verschiedener Grabungen wird hauptsächlich als visuelle Quelle für die Geschichte der Archäologie diskutiert, die Abbildungen von Funden, Stratigraphien und Rekonstruktionszeichnungen illustrieren die archäologischen Aufsätze, mit dem reichen populärkulturellen Material dagegen wird der Betrachter seltsam allein gelassen. Die Kriterien der Auswahl werden nicht benannt, nur im Fall der Freundschaft zwischen Christie und Robin Macartney erhält der Leser einige Informationen 16.

Fazit

"Agatha Christie und der Orient. Kriminalistik und Archäologie" ist ein schönes Buch geworden und eine reiche Fundgrube zu Archäologie und Orientalistik als populärkulturellen bzw. sozialgeschichtlichem Gegenstand. Als Darstellung der archäologischen Seite von Agatha Christie krankt die Aufsatzsammlung aber an ihrer grundsätzlichen Unentschiedenheit: Obwohl explizit populärkulturell ortientiert, demonstrieren viele Beiträge die Schwierigkeiten traditioneller Wissenschaft mit den Phänomenen der Populärkultur. Das Publikumsinteresse an einer fachwissenschaftlichen Ausstellung und Publikation zu Max Mallowan und der Archäologie des Vorderen und Mittleren Orients kann man wohl als gering einschätzen. In einer amüsanten Verkehrung der realen gegenwärtigen und historischen Verhältnisse empfiehlt der anzuzeigende Band aber die literarischen Bemühungen Mrs. Mallowan unter dem Pseudonym Agatha Christie dem geneigten Publikum via der wissenschaftlichen Reputation ihres Gatten.

Wohl eher hat hier eine hoch spezialisierte Wissenschaft, deren ökonomische Verwertbarkeit gegenwärtig als gering einzuschätzen ist, mit einer der auflagenstärksten Autorinnen überhaupt einen Glücksfall für das eigene Marketing zu verzeichnen. Der Platz, den Archäologie und Orientalistik in der Populärkultur des 20. Jahrhunderts eingenommen haben, wird in der Ausstellung durch die Figur Agatha Christie erschlossen und gleichzeitig verstellt. Als wäre den Beiträgern die Populisierbarkeit der eigenen Disziplin peinlich und das Konzept der Ausstellung im Grunde etwas suspekt. So sucht der Leser den berühmtesten Archäologen des 20. Jahrhunderts leider vergebens: Kein Wort über Indiana Jones. Schade eigentlich.


Christina Dongowski, M.A.
Justus-Liebig-Universitaet Giessen
FB 05 – Sprache, Literatur, Kultur
Otto-Behaghel-Str. 10, Haus G
D-35394 Giessen

privat:
Winklers Platz 8
D-22767 Hamburg

Ins Netz gestellt am 19.03.2002
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Anmerkungen

1 Vgl. Joan Oates: Agatha Christie, Nimrud und Bagdad. In: Charlotte Trümpler (Hg.): Agatha Christie und der Orient. Kriminalistik und Archäologie. Begleitbuch zur Ausstellung gleichen Namens in Essen, Wien, Basel, Berlin und London. Bern u.a.: Scherz Verlag 1999, S.205–228, hier S.214.   zurück

2 Vgl. Tom Stern: Abendland filmt Morgenland. Agatha Christie, der Film und die Archäologie. In: Charlotte Trümpler (Anm. 1), S. 435–464.   zurück

3 Barbara Patzek / Regina Hauses / Andreas Dudde: Der Detektiv und der Archäologe. In: Charlotte Trümpler (Anm. 1), S. 391–409, hier S. 391. Das Zitat stammt aus R. Barnard: A Talent to Decieve. An Appreciation of Agatha Christie. London: Collins 1980.   zurück

4 Poirot ist die Figur in Agatha Christies Werk, die sich am häufigsten im archäologischen und orientalischen Kontext bewegt.   zurück

5 Nadja Cholidis: Faszination des Orients. Einige Gedanken zu Agatha Christies "Mord in Mesopotamien". In: Charlotte Trümper (Anm. 1), S. 335–349.   zurück

6 Vgl. Anm. 3.   zurück

7 Volker Neuhaus: Die Archäologie des Mordes. In: Charlotte Trümpler (Anm.1), S. 425–434.   zurück

8 Christies "The Adventure of the Egyptian Tomb" (1923), eine frühe Kurzgeschichte, gehört in diesen Kontext, dessen populärkulturelle Faszinationskraft und Tradition sie auch thematisiert. Howard Carter inspirierte u.a. Christies Theaterstück "Akhnaton. A Play in Three Acts" (1937). Sie lernte ihn 1936 in Anschluss an eine Nilreise 1936 in Luxor kennen. Vgl. Barbara Patzek / Regina Hauses / Andreas Dudde (Anm. 3), S. 396–405.   zurück

9 Vgl. die Aufsätze im Kapitel "Reisen", die sich explizit mit dem Phänomen des Orientalismus und des kolonialen Blickes auseinandersetzen, v.a. Reinhold Schiffer: Agathas Araber. Agatha Christie in der Tradition britischer Orientreisen. In: Charlotte Trümpler (Anm. 1), S. 303–333. Auch der Beitrag Tom Sterns zu Christies Orient im Film thematisiert den kolonialen und touristischen Blick Christies; vgl. Tom Stern: Abendland filmt Morgenland. Agatha Christie, der Film und die Archäologie. In: Charlotte Trümpler (Anm. 1), S. 435–464, hier S. 449 und S. 462. Wissenschaftsgeschichtliche Reflexionen über die Rolle archäologischer und ethnographischer Disziplinen in der kolonialen Praxis fehlen dagegen fast vollständig.   zurück

10 Waltraud Guglielmi: Agatha Christie und die Aneignung altägyptischer Quellen. In: Charlotte Trümpler (Anm. 1), S. 351–389.   zurück

11 Ulrich Suerbaum: Gesellschaftsrätsel. Die Konstruktion des Detektivromans bei Agatha Christie. In: Charlotte Trümpler (Anm. 1), S. 411–424.   zurück

12 Vgl. Ulrich Suerbaum (Anm. 11), hier S. 411ff.   zurück

13 Christies zentrale Quelle sind die "Hekanakhte Papers", eine Sammlung von Briefen aus der 11. Dynastie. Die Anregung für den ganzen Roman ging von dem Ägyptologen Stephen Glanville aus, der ihr auch die bis dahin unpublizierten Papyri zugänglich machte. Vgl. Waltraud Guglielmi: Agatha Christie und die Aneignung altägyptischer Quellen (Anm. 10), S. 351–352.   zurück

14 Vgl. Waltraud Guglielmi: Agatha Christie und die Aneignung altägyptischer Quellen (Anm. 10), S. 367–368.   zurück

15 Zu Christies fotografischer und filmischer Arbeit auf den Grabungen Mallowans vgl. Charlotte Trümpler: Eine Dunkelkammer wurde mit zugewiesen... Fotografie und Film auf den Ausgrabungen. In: Ch. T (Anm. 1), S. 231–258. Zur populärwissenschaftlichen Bedeutung ihrer Arbeit v.a. S. 246. Christie besaß eine fotographische Ausbildung.   zurück

16 Vgl. Charlotte Trümpler: Le camping beginnt. Das Leben auf der Grabung in den 30er Jahren. In: Ch. T. (Anm. 1), S. 163–203, S. 180–181.   zurück